Die Krise wahrnehmen - die Stabilisierung gestalten
Wir sehen das aber aus der Nähe ganz anders!" Betroffen reagierten die westafrikanischen Teilnehmer bei einer Partner-Konsultation in Togo im Juli 2001. Ein EED-Vertreter hatte Überlegungen zur Situationsanalyse Afrikas vorgetragen, wie sie Anfang des Jahres im EED diskutiert worden waren.
von Manfred Wadehn
Man dürfe nicht nur die Makro-Analyse für den ganzen Kontinent sehen, sagten die afrikanischen Partner. Man müsse doch erkennen, dass die Arbeit der kirchlichen Organisationen viele Erfolge für die Menschen gebracht hätten - auch wenn dies nicht immer so gut dokumentiert sei, wie man es sich wünsche. Viele Beispiele gäbe es: aus der Dorfentwicklung, aus der Arbeit mit Frauen und mit Handwerkern, aus der Bildungs- und Gesundheitsarbeit und selbst aus dem Engagement für mehr Demokratie!
Was war es, das die westafrikanischen Partner so erregt hatte? Der EED-Vertreter hatte von der Debatte über Afrika gesprochen, die in Deutschland in den letzten Monaten Wissenschaft, Politik und viele entwicklungspolitische Organisationen sehr bewegte. Auslöser war das im Oktober 2000 von einer Gruppe von Wissenschaftlern veröffentlichte "Memorandum zur Neubegründung einer deutschen Afrika-Politik". Einige Punkte daraus:
Dies spielt sich auf dem extrem niedrigen Niveau eines Anteils von 1,5 Prozent am Welthandel ab; dieser Anteil hat bei der derzeitigen Welthandelsordnung eine weiter sinkende Tendenz. Die Rolle der meisten Länder ausschließlich als Rohstoff- und Agrargüterlieferanten scheint zementiert.
Eine gewisse Entspannung für die Finanz- und Schuldensituation zeichnet sich zwar durch Entschuldungs-Aktionen vor und nach dem Kölner G8-Gipfel von 1999 ab. Ob die Entschuldung einiger armer Länder wirklich zu den erhofften Auswirkungen auf die Situation gerade der armen Bevölkerungsmehrheiten führt oder aber der Nutzen bei den Eliten und einer kleinen Mittelschicht stecken bleibt, wird sich erst in einigen Jahren zeigen.
Über all dem liegt die AIDS-Pandemie, die in Afrika die höchste Verbreitung hat: Von UNAIDS wird geschätzt, dass derzeit etwa 25 Millionen Menschen in Afrika HIV-infiziert sind und - falls nichts Einschneidendes geschieht - jeder Dritte der heute 15-Jährigen an AIDS sterben wird. Die Krankheit wirkt sich, neben tiefem persönlichem Leid, katastrophal auf die Wirtschaft und das Gesellschaftsgefüge aus.
Eine zentrale Rolle für die Auflösung der Ordnungen spielt auch die Ethnisierung der Gesellschaften, die im Zuge einer großen Konkurrenz der Ethnien, Klans und Familien um die schwindenden Ressourcen wächst, und die auch im kirchlichen Bereich festzustellen ist. Negative Wirkung zeigt auch der in verarmten Volkswirtschaften fast unvermeidliche Verlust an staatlicher legitimer Autorität und staatlicher Leistungsfähigkeit, zum Beispiel in den Bereichen von Sicherheit, Infrastruktur und sozialen Verteilungssystemen.
Eine solche Beschreibung der Makro-Situation ist äußerst düster! Die Schlussfolgerung der Memorandums-Autoren ist, dass die deutsche Afrika-Politik auf einen Beitrag dazu ausgerichtet werden müsse, dass "die Staaten in Afrika südlich der Sahara mittelfristig einen Zustand struktureller Stabilität erreichen". Weiter: "Kerngedanke von struktureller Stabilität ist ... die nachhaltige Stärkung bislang fragiler und instabiler sozialer und politischer Institutionen und Normen. Zivilgesellschaftliche und staatliche Institutionen müssen in die Lage versetzt werden, konstruktive und gewaltfreie Mechanismen zur Austragung grundlegender und akuter Interessengegensätze sowie zu deren Abbau zu entwickeln."
Natürlich sehen auch die Partner, dass es in Ländern wie Togo seit Jahren massive politische und wirtschaftliche Probleme gibt. Aber in ihrem engeren Umfeld ist es eben nicht ganz so schlimm! Dasselbe gilt für uns in den entwicklungspolitischen Organisationen und Gruppen: Wir sehen positive Entwicklungen und nehmen sie gerne fürs Ganze. Wie kann eine solche Diskrepanz zwischen Mikro-Wahrnehmung und Makro-Analyse entstehen? Liegt es an blinden Flecken bei den Partnern und bei uns? Wird die bedrohliche Situation auf der Makro-Ebene zwar wahrgenommen, aber nicht mit der uns kulturell vertrauten Wirklichkeit auf der Mikro-Ebene und den dort angesiedelten positiven Aktivitäten verknüpft? Oder gibt es verschiedene, nur teilweise verbundene Realitäten?
Die Antwort ist nicht eindimensional: Zum einen können wir berechtigt annehmen, dass die Arbeit unserer Partner aufbauende und stabilisierende Wirkung hat. Dies verbindet sich mit der gerade für Christen wichtigen Hoffnung, auch in schwierigsten Situationen durch aktives Handeln etwas Positives bewirken zu können, Zeichen gegen die Krise und für einen (Wieder-)Aufbau setzen zu können. Zum anderen kann es aber durchaus sein, dass wir in partnerschaftlicher Vertrautheit und aus Furcht vor schwierigen Auseinandersetzungen die nötigen Fragen nach Breitenwirksamkeit und Nachhaltigkeit nicht klar genug stellen, uns selbst und unseren Partnern.
Verschiedene Gründe berechtigen zu der relativ positiveren Einschätzung von Arbeitsmöglichkeiten und -erfolgen der Partner:
Es kann also festgestellt werden, dass Inseln oder Inselgruppen entstehen, wo gut und für die Lebenssituation der Bevölkerung wirksam gearbeitet worden ist und wird und wo Potenziale der Menschen und ihrer Organisationen geweckt und entwickelt wurden und werden. Aber wie steht es mit der Tiefenwirkung, das heißt der nachhaltigen Stabilisierung und Veränderung bei der Bevölkerung selbst? Und wie steht es mit der Breitenwirkung und Ausstrahlungsfähigkeit der Arbeit? Inwieweit können neben befriedigenden Ergebnissen im Kleinen Anstöße auf das weitere Umfeld beziehungsweise auf ganze Systeme ausgehen?
Positive Beispiele zur Breitenwirkung aus der Erfahrung der inzwischen im EED aufgegangenen EZE lassen sich benennen, unter anderem in den Bereichen: Bildung (von der Einzelschule zum tragfähigen und/oder innovativen Schulsystem einer oder mehrerer Kirchen, zum Beispiel in Kamerun); Gesundheit (vom lokalen Einzelprojekt eines Hospitalbaus zum ausstrahlenden System); Kleinkreditvergabe (vom lokalen Kreditprogramm zum expandierenden Netz von Kleinkreditorganisationen in Nigeria). Interessant wäre festzustellen, ob auch die Arbeit von Kirchen im Bereich Konflikt und Frieden solche sich dynamisch erweiternden Effekte zeigt.
Gleichzeitig lassen sich aber auch Bereiche festhalten, wo Kirchen und christliche Organisationen offensichtlich derzeit nicht ihr aus der breiten Präsenz mögliches Potenzial ausschöpfen. Als Beispiele lassen sich HIV/AIDS-Arbeit oder Gemeinwesenarbeit in städtischen Armutsgebieten nennen. Auch der Einfluss auf eine verantwortliche demokratische Staatsführung (good governance) oder die pro-aktive Beteiligung am Spannungen abbauenden christlich-muslimischen Dialog sind sicher noch nicht ausgeschöpft.
Die Herausforderung in den schlecht abgedeckten Feldern ist, mehr Bewusstsein und Verantwortung zu wecken. In den positiven Feldern besteht - trotz aller Bescheidenheit, die wir bei unseren Erwartungen an die Arbeit der Partner hinsichtlich ihrer Einflussmöglichkeiten auf das Makro-System haben sollten - die Herausforderung darin, dass solche positiven Ansätze größere Verbreitung erreichen und damit die kritische Schwelle des Einflusses auf ihr weiteres Umfeld, also letztendlich doch auf das Makro-System, überschreiten. Hier liegt einer der tieferen Gründe für die Förderung von Netzwerk-Organisationen und Zusammenschlüssen wie den Kirchenräten, den Dachorganisationen in Gesundheit, Bildung, Kreditwesen und so weiter, deren Arbeit sich zunehmend auf die initiative Vermittlung von Ansätzen und Aktionen in der eigenen Mitgliedschaft und deren Vertretung insbesondere gegenüber dem Staat konzentrieren muss.
Bei allem sei gewarnt vor Überschätzung. Die protestantischen Kirchen, christlichen Organisationen und Nichtregierungsorganisationen sind oft noch recht schwach in ihrer systematischen Arbeitsmöglichkeit. Es bleiben erhebliche Hemmnisse für ihre stabilisierende Rolle: eine dünne Decke an Fach- und Führungskräften, bei erheblicher Abwanderung qualifizierter Kräfte zu besser zahlenden (internationalen) Organisationen; weiterhin dominierende Hierarchien, in denen die Führungspersönlichkeiten teilweise noch immer mit den politischen Eliten eng verbunden sind; patriarchalisches Denken; die finanzielle Armut der Basis; eine sich sogar verstärkende ethnische Orientierung in vielen Kirchen und Nichtregierungsorganisationen. Konzeptionelle Neuorientierung bei Führungskräften, Generationenwechsel und ein wenig auch unsere über die Jahre betriebene Unterstützung bei der Organisationsentwicklung, Personalqualifizierung und der konzeptionellen und methodischen Beratung der Partner haben hier zwar zu Veränderungen geführt, aber das Grunddilemma, die Makro-Krise in Afrika, hat sich dadurch noch nicht auflösen lassen.
Der von den afrikanischen Kirchen selbst gesetzte Anspruch, Werte-bildend und im praktischen Tun positiv auf ihre Gesellschaften einzuwirken, kommt sehr deutlich in der "theology of reconstruction" zum Tragen, die seit Ende der achtziger Jahre wesentlich die kirchlich-ökumenische Diskussion und Verkündigung in Afrika bestimmt. Das Motto für die Vollversammlung der Allafrikanischen Kirchenkonferenz in 2002 ist bezeichnenderweise der Wiederaufbau Jerusalems, aus dem Buch Nehemia. Damit wird versucht, die Menschen zu ermutigen, nicht in Lethargie zu verfallen, sondern gemeinsam und konstruktiv gegen die Verschlechterung der Situation anzuarbeiten.
Können auch wir von hier aus dazu beitragen, dass diese Grundorientierung in Kirchen und christlichen Organisationen zielgerichteter und praktischer umgesetzt wird, hier im Norden wie auch in Afrika? Können wir im Sinne einer "globalen Solidargemeinschaft" (Christian Krause) neben unserer unmittelbaren Kooperation mit Afrika zur Veränderung von Rahmenbedingungen beitragen, die bisher die Krise eher verschärft als abgebaut haben? Wenn wir die Theologie des Wiederaufbaus nicht nur auf Afrika beziehen, sondern auf die Aufgabe einer globalen Solidarität unter gleichermaßen Betroffenen, dann kann unsere Antwort nur heißen: Ja, wir müssen und wollen es!
aus: der überblick 04/2001, Seite 126
AUTOR(EN):
Manfred Wadehn:
Dr. Manfred Wadehn ist im Evangelischen Entwicklungsdienst (EED) im
Ressort I (Internationale Programme) für die Qualitätssicherung, Budgetplanung
und Überwachung von Programmen und Projekten zuständig.