Zusammensitzen für den Frieden
Nachbarn gegen Nachbarn, Stämme gegen Stämme, Volksgruppen gegen Volksgruppen, Staaten gegen Staaten - das sind die letzten Jahrhunderte im von den Kolonialmächten zerrissenen Afrika in Kurzfassung. Von einzelnen Oasen des Friedens abgesehen scheint der Kontinent nicht zur Ruhe zu kommen, scheint es keinen Weg aus einem Meer von Elend und Blut zu geben.
von Rainer Lang
Aber in letzter Zeit waren immer wieder Stimmen zu hören, die ein neues Selbstbewusstsein und eine afrikanische Wiedergeburt beschworen. Stimmen von Träumern, oder gibt es diesen Weg aus der Gewalt wirklich? Zur Natur von Religionen gehört die Hoffnung. Aber nicht nur im Zeichen der Hoffnung trafen sich im Oktober auf Initiative des Lutherischen Weltbunds (LWB) im südafrikanischen Johannesburg mehr als 100 Vertreter der Religionen und Glaubensgemeinschaften in Afrika zu einem Friedensgipfel. Schließlich sind die Gläubigen meist auch Beteiligte an Konflikten: Sie heizen an, oder sie bremsen.
Christen, Muslime, Juden, Bahais, Buddhisten, Hindus ebenso wie Priester traditioneller afrikanischer Religionen waren sich einig, dass es bei dem Treffen nicht darum gehen dürfe, eine Erklärung in schönen Worten zu verfassen, die aber letztlich ungehört verhallt. Stattdessen sollte ein verbindlicher Aktionsplan aufgestellt werden auf Basis einer Analyse der Situation auf dem Kontinent.
Noch ist die Lage reichlich düster, betrachtet man die Grausamkeiten, die einige Leute aus den Brennpunkten der Gewalt über den ganzen Kontinent hinweg schilderten. Etwa der heute 27-jährige Täter Morlee Zawoo aus Liberia in Westafrika: Nett, verhalten, eigentlich sympathisch wirkt er. So wie andere von ihrem letzten Vorstellungsgespräch erzählen, berichtet er, was er vor zwölf Jahren getan hat: Er war im Alter von 15 Jahren in die Nationale Patriotische Front Liberias eingetreten. Dort gab es immer etwas zu essen - anders als zu Hause. Er lernte schnell - lernte schnell, dass das Leben eines Feindes nichts wert ist, lernte schnell, kein Mitleid zu empfinden, lernte schnell, kaltblütig zu töten. Die Drogen und der Alkohol, die es bei den regierungsfeindlichen Rebellen reichlich gab, halfen. "Terminator" haben die Kameraden ihn bald genannt. Einmal, erzählt er den Tagungsteilnehmern, hat er ein Haus niedergebrannt, in dem sich eine ganze Familie versteckt gehalten hatte. Kinder hat er getötet, Feinde - Soldaten, Zivilisten, egal - hat er gefoltert. Und dann war dieser Krieg aus, der Krieg, dessen Gründe er nicht kannte, und die ihn eigentlich auch nicht interessierten.
Er war allein, keiner setzte ihn mehr unter Drogen, keiner sagte mehr, wo der Feind stand. Erst da begannen die Bilder ihn zu quälen, Tag für Tag, Nacht für Nacht. Er stand kurz vor dem Selbstmord - und hatte Märchen-Glück: Er begegnete seiner jetzigen Frau, einer Christin, die in Liberia mit "Trauma-Heilung" befasst ist. Heute betreut Morlee selbst ehemalige Kindersoldaten in Projekten, die von der globalen Allianz "Kirchen helfen gemeinsam" (ACT) finanziert werden.
Auch Opfer berichten, so die heute 37-jährige Margaret Arach aus Uganda, Ostafrika. Sie ist eine hochgewachsene, schöne Frau, in deren Augen Gelassenheit liegt und gleichzeitig Witz blitzt. Es war kurz vor Weihnachten, die Mutter wollte von ihrer Arbeit im Norden über die Feiertage nach Hause zu ihren Kindern fahren, als Rebellen den Bus überfielen, um zu plündern. Der Bus fuhr auf eine Mine, die meisten Insassen starben, Margaret wurde der Fuß abgerissen. Zwischen den Leichen der anderen stellte sie sich tot, rührte sich trotz der Schmerzen nicht, als ein Mann ihr die Kleider vom Leib zerrte - Kriegsbeute. Sie wurde von Soldaten gefunden, Ärzte retteten ihr Leben. Doch der nächste "Feind" wartete: Freunde und Nachbarn wandten sich ab. Mit Verstümmelten will man nichts zu tun haben, erzählt sie lakonisch und lächelt milde. Das Grauen ist woanders, nicht hinter der Tür des Nachbarn. Sie zieht die Augenbrauen kaum hoch, keine Bitterkeit liegt in ihrer Stimme, als sie sagt, dass sogar Ehemänner oft nichts mehr von ihren Frauen wissen wollen, wenn es sie trifft. "In Afrika ist es schlimm, verstümmelt zu sein."
Ruanda, Côte d' Ivoire Simbabwe, Kongo, Sudan, Somalia und und und - es war und ist überall das gleiche Prinzip, erläutert Shadrack Gutto, ein südafrikanischer Juraprofessor. Jeder, der Einfluss hat, will mehr Einfluss, und wenn er dann tatsächlich an der Macht ist, geht es nur darum, sie zu erhalten. Wirtschaft, Soziales und Politisches sind zweitrangig. Die Schwachen werden ausgebeutet und erniedrigt, um das eigene System zu erhalten.
Natürlich ist auch vor der Kolonisation nicht alles gut und schön gewesen. Gewalt ist nicht aus dem Abendland importiert worden. Afrikanische Stammesfürsten haben ihre Leute als Sklaven in alle Welt verkauft, aber die Kolonisatoren und Besetzer zerstörten Strukturen, die eine eigene Ordnung, einen eigenen Frieden gewährten. Afrika ist die Wiege der Menschheit. Zeigt es heute, wie die Menschheit zugrunde gehen wird - jeder gegen jeden, alles voller Hass und Blut?
Ruanda: Alles vermengte sich, Stammesfehden, einst von den Kolonialherren noch geschürt, von den Christen nicht verhindert. Im Gegenteil. Viele Christen stellten sich auf die Seite der damaligen Machthaber, im besten Fall zogen sie beim Völkermord von 1994 die Köpfe ein und versuchten, nichts zu sehen, im schlechtesten Fall metzelten auch sie als Hutu die verhassten Tutsi. Gewiss, Glaube verhindert nicht das Töten. Auch Christen, Hindus, Buddhisten oder Muslime können gute Menschen oder Schlächter sein. Der Punkt ist: Die Kirchen haben in Ruanda nichts für den Frieden getan. War das eine Lehre?
Wenn auch in Johannesburg nicht die Weltformel entdeckt worden ist, so sind sich die Teilnehmer aus allen Religionen und Regionen doch ihrer Rolle, ihres Einflusses bewusster geworden. "Afrika ist ein sehr religiöser Kontinent", sagte Ishmael Noko, Generalsekretär des Lutherischen Weltbunds. Wenn die Religionen zusammenfinden, sich auf den gemeinsamen Kern der unterschiedlichen Glaubensausprägungen konzentrieren, nämlich Leib und Seele der Menschen zu retten, können sie über die Unterschiede hinweg viel bewirken. Zum Beispiel in Sierra Leone. Dort konnte der Interreligiöse Rat aus Christen und Muslimen Gespräche zwischen den Rebellen und der Regierung moderieren, weil die Gegner den Glaubensvertretern vertrauten. Im Moment herrscht dort nach jahrelangem Morden wenigstens Ruhe, wenn auch noch nicht stabiler Frieden.
Es gibt keine Gewähr, dass es funktionieren wird; aber die Delegierten in Johannesburg haben ihre Einsichten in einen Aktionsplan gegossen: Jeder wird sich in seiner Region mit den Vertretern aller anderen Glaubensgemeinschaften, seien es Hindus oder Voodoo-Priester, zusammensetzen und darüber reden, was die Probleme in ihrer Gegend sind und wie man gemeinsam etwas dagegen tun kann. Zudem suchen sie, Brücken zu Politikern zu bauen, und haben sie in einigen Fällen bereits gefunden. So sagte der südafrikanische Vizepräsident Jacob Zuma, die Religionen sollten in der neuen Afrikanischen Union eine Führungsrolle übernehmen. In drei Jahren wird in einer neuen Konferenz geprüft, was bei der Initiative herausgekommen ist.
Genau in diesem banalen Zusammensitzen liegt der Keim zur Hoffnung, der Weg aus Blut und Elend. Christ mit Muslim. Nachbar mit Nachbarn. Stamm mit Stamm. Land mit Land.
aus: der überblick 04/2002, Seite 85
AUTOR(EN):
Rainer Lang:
Rainer Lang ist Redakteur bei der "Südwest-Presse" in Ulm und von seiner Zeitung freigestellt für die Tätigkeit bei "Action by Churches Together (ACT) International - Kirchen helfen gemeinsam" in Genf. Bei dieser vom Ökumenischen Rat der Kirchen und dem Lutherischen Weltbund gegründeten globalen Allianz für Katastrophenhilfe ist er seit Juni 2000 tätig.