Brasilien entdeckt die Musikbewegung Tropicália als Lebensgefühl neu
Tropicália nennt sich eine Richtung der brasilianischen Popularmusik, die mehr ist als Musik. Sie begann als lautstarker und bunter Ausdruck der brasilianischen 68er-Bewegung, als ein Lebensgefühl, erfüllt von Provokation und Rebellion gegen das Etablierte. Auf junge Musiker und Journalisten übt sie heute wieder große Anziehungskraft aus, und der neue Kulturminister Giberto Gil sieht in der Tropicália eine Leitlinie für eine neue Politik.
von Anja-Rosa Thöming
Brasiliens neuer Präsident Lula musste verhandeln, um Gilberto Gil dazu zu bewegen, Kulturminister zu werden. Dem berühmten Musiker Gil erschien das Ministergehalt von monatlich 8000 Reais - umgerechnet 2300 Euro - als zu gering. Dreißig Menschen seien von seinem Einkommen abhängig, das er mit seinen hundert Konzerten pro Jahr erwirtschafte. Am Weihnachtstag trat er dann vor die Presse und erklärte, Präsident Lula habe sein Einverständnis gegeben, dass er auch als Minister noch fünfundzwanzig Prozent seiner Konzerttätigkeit aufrechterhalten dürfe. In der Euphorie des Aufbruchs sagte er einen Satz, der ihm noch vor kurzem nicht über die Lippen gekommen wäre: "Tropicália an der Macht kann Gutes bringen: Solidarität, Wärme und Enthusiasmus".
Tropicália ist ein Mythos der música popular brasileira, der brasilianischen Popularmusik. Als lautstarker und bunter Ausdruck der brasilianischen 68er-Bewegung übt sie auf die heutige junge Generation von Musikern und Journalisten große Anziehungskraft aus. Die beiden Tropicália-Stars Gilberto Gil und Caetano Veloso - beide sind im letzten Jahr sechzig Jahre alt geworden - reagieren mit unterschiedlichen Strategien auf das Interesse und die Fragen ("Wie war das damals mit der Tropicália?"). Caetano Veloso, der Intellektuelle, schrieb das Buch Verdade Tropical (2002 im amerikanischen Verlag KNOPF als Tropical Truth herausgekommen). Gil dagegen sagte noch vor nicht allzu langer Zeit abwehrend: "Ach, das war doch nur so eine isolierte Sache aus Bahia.".
Damit spielt er auf seine und Caetano Velosos Heimat an, Bahia, die "Wiege Brasiliens", wie sie wegen ihrer kulturhistorischen Bedeutung genannt wird.
Aber um als Musiker etwas zu werden, mussten die Baianos nach Rio de Janeiro ziehen; Rio war in den fünfziger Jahren noch Landeshauptstadt - und Kulturmetropole ohnehin. Auch die Erreichbarkeit von Sno Paulo, weniger als eine Flugstunde von Rio entfernt, war wegen der dort ansässigen Fernseh-Sender und Plattenproduzenten wichtig.
Was verbirgt sich nun eigentlich hinter dem tropisch-exotisch-fruchtigen Wort Tropicália, der Bewegung, die nur knapp zwei Jahre - von Anfang 1967 bis Ende 1968 - dauerte? Jedenfalls kein klar definierter musikalischer Stil. Eher ein Lebensgefühl, erfüllt von Provokation und Rebellion gegen das Etablierte: Im August 1968 probt der junge Gilberto Gil eine Szene für einen Fernsehauftritt. Er sitzt an einem langen, üppig mit Bananen und Ananas gedeck-ten Tisch, und mimt Jesus beim Letzten Abendmahl. So gestalteten die "Tropicalisten" eine Szene aus ihrem programmatischen Album Tropicália ou Panis et Circensis. An der großen Tafel sitzend, von Scheinwerfern geblendet, vernimmt Gil auf einmal eine furchterregende Stimme aus dem dunklen Zuschauerraum: "Einen schwarzen Christus, das lasse ich noch hingehen, aber diese Entweihung mit Bananen auf dem Tisch des Heiligen Abendmahls, das ist zu viel!". Eine Schrecksekunde lang fühlt sich Gil in seine Kindheit zurückversetzt. Damals schon hatte ihn diese Stimme von Vicente Celestino erschreckt, der im Radio schaurige Moritaten in einem opernhaft-pathetischen Stil sang.
Aber nicht Entweihung von religiösen Gefühlen war das Ziel der Tropicália. Die Tropicalisten nahmen vielmehr alles aufs Korn, was in der brasilianischen Gesellschaft geheiligt wurde: Familie, Folklore, Karneval, das Vaterland und die Traditionen der brasilianischen Musik selbst. Im Lied Geléia Geral (Allgemeines Gelee) - in der Mitte der Tropicália-Platte platziert - werden diese Reliquien aufgezählt und zugleich parodiert in ihrer wild gemischten Zusammenstellung:
as relíquias do brasil: doce mulata malvada um elepê de sinatra maracujá, mês de abril santo barroco baiano superpoder de paisano formiplac e céu de anil três destaques da portela carne seca na janela alguém que chora por mim um carnaval de verdade hospitaleira amizade brutalidade jardim |
die reliquien brasiliens: süße gemeine mulattin eine LP von sinatra maracuja, monat april barocker heiliger aus bahia supermacht des zivilisten plastik-furnier und tiefblauer himmel drei samba-hits der portela getrocknetes fleisch im fenster jemand, der um mich weint ein echter karneval gastfreundliche freundschaft rohe begierde, garten |
Musikalisch ist diese chaotische Allegorie in eine Art verrockten Samba eingebettet. Die klingenden Anspielungen reichen von typischen Samba-Percussion-Instrumenten bis zum Zitat aus der Ouvertüre zu O Guarany, der Indianer-Oper von Carlos Gomes, einer Art zweiten brasilianischen Nationalhymne. Mit Geléia Geral hat der charismatische Sänger Gil einen wild-fröhlichen Tropicália-Song komponiert.
Eine Initialzündung für die neue Bewegung war eine Reise Gilberto Gils nach Recife im Februar 1967. Vom musikalischen Reichtum des Sertno, des kargen Hinterlandes, war er tief ergriffen. Doch gleichzeitig kam ihm die unberührte Folkloremusik absurd vor in einer Umwelt des beginnenden Massenkonsums und der zunehmenden Industrialisierung. Brasilien bewegte sich seit dem Riesenprojekt der Errichtung der neuen Hauptstadt Brasília (1956-1960) auf einer Fortschrittswelle, die freilich nicht alle Winkel des riesigen Landes erreichen konnte und zum Teil heute noch nicht erreicht hat. Als Gil nach einem Monat nach Rio de Janeiro zurückkehrte, war eine Wandlung in ihm vorgegangen: "Er wollte alles verändern, er trat auf, als erfülle er eine Mission", berichtet der Freund und musikalische Partner Caetano Veloso. "Wir müssen etwas machen, Caetano; lass uns mit den anderen reden."
Die "anderen", das war die Komponisten- und Sängerclique aus Rio und Sno Paulo, unter ihnen der Musiker-Poet Chico Buarque und der Sambista Paulinho da Viola. Gil wollte in einer Versammlung diskutieren, wie man der brasilianischen populären Musik eine neue Richtung geben könne. Jetzt, da von der Bossa Nova keine innovativen Impulse mehr ausgingen, müsse eine neue, kraftvolle brasilianische Musik entwickelt werden. Und diese Kraft fand Gil in drei Quellen: in der volkstümlichen Musik des Nordostens, in den lauten Manifestationen der Werbung für Massenkonsumwaren - und bei den Beatles. Seine kühne Vorstellung war es, all dies zu einer brasilianischen, aber weltoffenen, neuen música popular zu mischen: "Was Gil von den Beatles lernen wollte," so Caetano Veloso, "war auf alchimistische Weise den kommerziellen Müll in freie und inspirierte Kunst umzuwandeln und dadurch die Autonmie der Künstler - und der Konsumenten - zu stärken."
Mit ihren Ideen stießen Gil und Caetano bei den Kollegen jedoch nur auf Desinteresse oder offene Ablehnung. Die einen - wie Chico Buarque - interessierten sich nicht für herbei geredete kulturelle Bewegungen, die anderen waren dem britisch-amerikanischen Pop und Rock gegenüber feindselig eingestellt. Die Diskussion über ästhetische Fragen wurde mit heftigem Ernst geführt - genau wie zehn Jahre zuvor, als eine andere revolutionäre Richtung der música popular entstand: die Bossa Nova. Sie ist gewissermaßen die Ur-Keimzelle der Tropicália. Ihr Stil, der später mit dem oft verkitschten Lied Garota de Ipanema internationale Berühmtheit erlangte, zeichnete sich durch neuartige Charakteristika aus: Einmal durch den intim gesungenen Ton, den meio ton, bei dem der Mund sehr dicht ans Mikrofon gehalten wird, so dass auch zärtliches Flüstern und melancholisches Hauchen möglich wird. Zum anderen durch den stark synkopierten (gegenüber dem Normaltakt verschobenen) und unabhängig zur Melodie laufenden Rhythmus der Gitarre.
Für den späteren Tropicalisten Caetano Veloso war die Bossa Nova eine Alternative zum US- amerikanischen Rock 'n' Roll, der es in den Augen Velosos weder musikalisch noch poetisch mit der Bossa Nova aufnehmen konnte. Gegen Mitte der sechziger Jahre wurde die nun etablierte Bossa Nova zum Hort von brasilianischen Nationalisten, die ihre Musik gegen das Eindringen von anglo- amerikanischen Einflüssen verteidigen wollten. Die Verteidigungshaltung richtete sich diesmal gegen die Jovem Guarda, eine musikalisch und poetisch schlichte, aber umso mitreißendere Rock-Stilrichtung, die E-Gitarren einsetzte. Mit empörter Ablehnung reagierten die Traditionalisten auf das so genannte "iL iL iL" (das brasilianische Pendant zu "Yeah, yeah, yeah") der Jovem Guarda.
In Caetanos und Gils Vision von Tropicália sollte die brasilianische populäre Musik nicht länger das folkloristische Feigenblatt des Dritte-Welt-Landes sein: "Ich weigere mich, meine Unterentwicklung zu folklorisieren, um technische Schwierigkeiten zu kompensieren," betonte Caetano Veloso. Sie wollten vielmehr das musikalische Erbe provokativ einbauen in die alltägliche Umwelt aus Plastik, Elektronik und Konsum. Dafür eigneten sie sich auch - zum Entsetzen der Bewahrer der Tradition - die lärmende Fröhlichkeit des "iL iL iL" und der E-Gitarren an.
Doch die Tropicalisten kämpften nicht nur an der inneren, künstlerischen Front. Die zweite, wirklich gefährliche Front war jene gegenüber einem Staat, der seit 1964 von Militärs geführt wurde und seit Ende des Jahres 1968 mit willkürlichen Gefangennahmen und Folterungen gegen Regierungsgegner vorging. Äußeres Symbol für die Verbannung der Demokratie aus Brasilien war die Schließung des Kongresses am 13. Dezember 1968; die Chiffre für die verstärkte Repression lautete Ato Institucional n 5 oder einfach "AI-5". Obwohl sie nicht mit der linken Studentenbewegung paktierten, wurden auch Gilberto Gil und Caetano Veloso von "AI-5" erfasst und gefangengesetzt; 1969 gingen sie ins Exil nach London. Als sie 1972 aus Kälte und Regen in ihre geliebte Heimat zurückkehrten, waren sie verändert.
In dem Wort "Tropicália" sind viele Assoziationen versammelt, auch aus der bildenden Kunst, dem Kino, dem Theater und der poésie concrPte. Erstmals kommt es bei dem Avantgarde-Künstler Hélio Oiticica vor, der 1967 einer Installation den Namen Tropicália gab: Ein Labyrinth aus Sand und tropischen Pflanzen führt durch dunkle verschlungene Wege zu einem eingeschalteten Fernseher.
Oder, auf die Musiker-Darsteller bezogen: Tropicália ist, wenn Gilberto Gil barfuß in Ledersandalen, eine bunte Militärjacke B la Beatles-Sergeant-Peppers's über die Schultern geworfen, mit der E-Gitarre auf der Bühne steht, dazu Caetano Veloso in einem Plastik-Anzug und mit einem Kranz aus Bananen um den Hals. In Gils Lied Geléia Geral heißt es:
um poeta desfolha a bandeira e eu me sinto melhor colorido pego um boeing viajo arrebento com um roteiro do sexto sentido voz do morro pilno de concreto tropicália, bananas ao vento. |
ein dichter rollt die flagge aus mit farben fühle ich mich besser nehme eine boeing, reise, innerlich zerspringend mit einem drehbuch des stimme des favela-hügels, tropicália, bananen im wind. |
(Übersetzung: Elaine Ramos da Silva)
Als rockender Tropicalist hatte Gilberto Gil dem zwischen Unterentwicklung und Fortschrittswelle zerrissenen Brasilien den Kampf angesagt. Heute, über dreißig Jahre später, sind die Folgen dieser Zerrissenheit unübersehbar: Landflucht, Bevölkerungsexplosion der Großstädte, Bürgerkriegszustände in den Favelas, den Elendsvierteln. Präsident Lula, von den Ärmsten der Armen wie ein neuer Messias ersehnt, hat als eine seiner ersten Amtshandlungen dem Kabinett eine "Expedition" in eine Favela verordnet. Denn nicht nur ein Wandel der Politik ist vonnöten, sondern auch ein Wandel des Bewusstseins, der Kultur. Diesen großen Auftrag mochte der designierte Minister Gil gespürt haben, als er die Rückkehr der Tropicália - wenn auch mit anderen Mitteln - versprach: "Solidarität, Wärme und Enthusiasmus."
aus: der überblick 01/2003, Seite 85
AUTOR(EN):
Anja-Rosa Thöming:
Anja-Rosa Thöming ist freie Journalistin mit den Schwerpunkten Musik, Kultur und Leben. 2000/01 hat sie in Porto Alegre gelebt und für deutsche Tageszeitungen aus Brasilien berichtet.