Wohltaten zu verteilen, spielt in Algerien eine große Rolle beim Streit um politische Macht
Der Bürgerkrieg in Algerien hat die Grundlagen des Staates erschüttert. Denn die Herrschaft der Staatspartei FLN beruhte auf zwei Säulen: Dem Prestige aus dem Unabhängigkeitskrieg gegen Frankreich und den Öleinnahmen, die ihre Notabeln in den Kommunen verteilten. Und diese Notabeln wurden seit Ende der achtziger Jahre verdrängt - zuerst von gewählten Kommunalpolitikern der islamischen Heilsfront und dann, während des Krieges, von Führern der Guerilla, Chefs von staatlich unterstützten Milizen und schließlich kriminellen Banden. Alle gründeten ihre Macht zum Teil darauf, daß sie der örtlichen Bevölkerung Wohltaten zukommen ließen. Mit demselben Mittel versucht nun die Regierung, die Kontrolle zurückzugewinnen.
von Luis Martinez
Die politischen Erfolge der Islamischen Heilsfront (FIS) in Algerien haben Ende der achtziger Jahre zahlreiche Beobachter verwundert. Wie konnte eine Partei, die für die Abschaffung der Demokratie und das Verbot der Frauenarbeit, der Musik und der Satellitenschüsseln eintrat, eine Mehrheit der Wähler für sich gewinnen? Wenige Jahre später fragte man ähnlich erstaunt nach den Gründen, warum Emire, also örtliche Führer der Guerilla, und Milizionäre, das sind Führer der vom Staat unterstützten lokalen Selbstverteidigungsgruppen, die Unterstützung eines Teils der Bevölkerung genossen. Die Erklärung liegt vor allem in der sozialen Tätigkeit dieser Gruppen und Personen. Zwar gelten sie als extremistisch, gewalttätig, sogar blutrünstig, doch verfolgen sie auch eine "Strategie der guten Werke", die der Sozialwissenschaftler Christophe Jaffrelot so beschrieben hat: "Bewegungen, die für eine Ideologie eintreten, leisten soziale Hilfe an Bevölkerungsgruppen, die in materiellen oder moralischen Schwierigkeiten stecken".
Solche Strategien werden in Algerien nicht nur von einer bestimmten - nationalistischen, islamistischen oder regionalistischen - politischen Bewegung verfolgt. Sie sind vielmehr typisch für Gestalten, die Heiligkeit oder Macht verkörpern: Der Würdenträger des Staates bzw. der Staatspartei FLN (Front de Libération nationale, nationale Befreiungsfront), der gewählte Amtsträger der FIS, der Emir der Guerilla und der Milizionär sind jeder auf seine Weise Beispiele für den Typus des Wohltäters.
Daß sie in Erscheinung treten, ist teilweise auf die Schwäche des Staates zurückzuführen, denn dieser ist in der politischen Vorstellung der Algerier der Wohltäter par excellence. Die großen Erwartungen, die in ihn gesetzt werden, entsprechen den Opfern, die die Bevölkerung im Krieg gegen die Kolonialmacht auf sich genommen hat, um diesen Staat zu schaffen. "Am Ende verstand die Bevölkerung ihr Verhältnis zum Staat als einen stillschweigenden Austauschvertrag", schreibt Aderrahman Moussaoui. "Der Staat konnte frei über das Erdöl verfügen, solange er als Gegenleistung die Umverteilung der Einnahmen in Form von Pfründen und anderen Gratifikationen sicherstellte." Als er zu dieser "notwendigen Großzügigkeit" nicht mehr in der Lage war, sind weitere Wohltäter aufgetaucht - von denen paradoxerweise einige ihre Ressourcen den Beziehungen zum Staat verdanken.
Zudem stellt der Krieg wegen des Leids und der Tragödien, die er verursacht, eine einmalige Gelegenheit für Großzügigkeit und soziale Hilfe dar. Vor allem vermehrt er die Gelegenheiten zur Bereicherung und damit auch zur Freigiebigkeit. Zum Beispiel können in Algerien örtliche Würdenträger öffentliche Mittel veruntreuen, die für die Familien von Massakeropfern bestimmt sind, diese Mittel umverteilen und so ihr Ansehen fördern. Ähnlich leisten Emire von Stadtvierteln oder Milizenchefs jenen Menschen Hilfe, die sich wirtschaftlich in einer prekären Lage befinden oder bedroht sind.
In Algerien ist seit Ende der achtziger Jahre der Klientelismus des Staates und der Staatspartei abgelöst worden von der Wohltätigkeit der gewählten Amtsträger der FIS. Daß der Staat zwischen 1965 und 1988 stabil war, ist unter anderem mit der Klientelpolitik der Notabeln des FLN-Staates zu erklären. Anfangs, zum Zeitpunkt der Unabhängigkeit, war die Gefahr offensichtlich, daß dem mörderischen Dekolonisationskrieg ein Bürgerkrieg folgen würde. Doch die Kämpfe zwischen Clans, die im Unabhängigkeitskrieg Untergrundkämpfer gegeneinander aufgebracht hatten, hörten mit der Machtübernahme von Houari Boumedienne auf. Die Verwandlung der Mudschahedin - der "Glaubenskämpfer" - in Würdenträger der sozialistischen Republik machte es möglich, die im Verlaufe des Krieges entstandenen Spannungen mit Hilfe einer Klientelpolitik zu kanalisieren.
Die gewaltsame Machtübernahme und die Aufteilung des Staatsgebietes unter den Untergrundkämpfern haben unter der Präsidentschaft von Boumedienne die Herrschaft der Politgangster sanktioniert. Diese wurden eingesetzt, um das Land zu befrieden, indem sie auf Ortsebene die soziale Kontrolle ausübten und eine wirtschaftliche Umverteilung vornahmen, die sich vergleichen läßt mit dem Vorgehen der vorkolonialen einheimischen Amtsträger und der Funktionäre aus der Kolonialzeit.
Die politische Praxis der staatlichen Notabeln beruht nicht auf einer Strategie der Wohltätigkeit, sondern auf einer Strategie des Raubes als politischem Regulierungsfaktor. Erfüllt von einem Gefühl der Überlegenheit, das sie von ihrer Teilnahme am Unabhängigkeitskampf ableiten, übernehmen sie die Kontrolle über die Reichtümer des Landes. Als erstes macht die Aneignung von "herrenlosem Gut" - von 2000 Industrie- und Handelsunternehmen, 200.000 Wohnungen, 20.000 Quadratmeter Bürofläche und so weiter - es möglich, die neuen Eliten des unabhängigen Algerien mit den Attributen wirtschaftlicher Macht auszustatten. Zwischen 1967 und 1968 werden dann die nicht übertragbaren und unveräußerlichen Besitztümer verstaatlich, die vom Ministerium für religiöse Angelegenheiten verwaltet werden - Agrarland, Palmenhaine, maurische Bäder, Baugrundstücke. Und nach der Verstaatlichung der Ölvorkommen erlauben es die Einnahmen daraus, einen Staat zu schaffen, der sich aus Ölrenten finanziert, diese umverteilt und so den sozialen Frieden garantiert.
Doch Ende der achtziger Jahre erschöpft sich das "Charisma des Krieges", einer der Trümpfe der Notabeln. Auf dem Feld der charismatischen Ausstrahlung sind künftig die Eliten der FIS bestimmend: "Als Abassi Madani nach Mazouna und Relizane kam, gossen die Menschen das Wasser, das dem Scheich für seine Waschungen gedient hatte, in Penizillinfläschchen, um es als Souvenir und Glücksbringer zu behalten", berichtet die Tageszeitung El Watan Anfang 1998.
Im Gegensatz zu den Würdenträgern des FLN-Staates verfügen die gewählten FIS- Amtsträger auf Kommunalebene nicht über jene Legitimität, die durch die Selbstaufopferung im Unabhängigkeitskampf erworben wurde. Sie gleichen diesen Mangel durch gründliche Sozialarbeit aus - was umso notwendiger ist, als ihre Feinde sie in sehr schlechtem Lichte darstellen. Daß die FIS die Fähigkeit besaß, den Ärmsten zu helfen, zeigte schon ihr wirkungsvoller Einsatz für die Opfer des Erdbebens von Tipasa Ende Oktober 1989. Daß sie ab Juni 1990 in der Mehrheit der Gemeinden die Kontrolle übernahm, stärkte noch ihre Möglichkeiten, sich wohltätig zu zeigen: Man nahm dort endlich die Probleme der Bevölkerung zur Kenntnis wie Wohnungsnot, Wasser- und Stromausfälle und Transportprobleme. Man richtete Märkte ein für sehr billige Lebensmittel und Schulbücher für die Ärmsten. Diese Politik stärkte unter der Bevölkerung den Glauben, daß die "Partei des Islam" schlicht und einfach "die Lösung" war.
Zu diesen materiellen Wohltaten kommt noch die Gewißheit, daß im Himmel Algiers Zeichen Gottes erschienen sind - der "Name Allahs ist deutlich von Wolken gebildet worden, die sich dann nach und nach verwischt und schließlich ganz in Luft aufgelöst haben". Das verleiht der FIS eine großartige Mission: "Wir glauben fest daran, so wie wir fest an die Zukunft einer wohlhabenden und glücklichen islamischen algerischen Republik glauben. Gott hat auf diese Art seine Allmacht zeigen wollen, um die Gläubigen in ihrer Überzeugung zu bestärken, daß das, was sie zu tun beginnen, gerecht ist", heißt es 1990 im Presseorgan der FIS.
Um an den Orten, die sie als "befreite Gebiete" in Algerien betrachten, die islamische Republik zu errichten, sammeln die gewählten Amtsträger der FIS Almosen (Zakat) und verteilen sie an die Armen; dazu schaffen sie in ihren Kommunen "Exekutivbüros der Staatskasse des muslimischen Staates". Sie verteilen auch Grundbesitz um. Das löst so viel Begeisterung aus, daß die Regierung den Kommunen die Zuständigkeit für die Verteilung von Grund und Boden entzieht und sie Immobilienbüros überträgt, die unter der Kontrolle der Zentralregierung stehen. Die Kommunen haben dem FIS-Presseorgan zufolge auch "Tausenden von Bedürftigen geholfen, eigene Wohnungen zu bauen. Hinzuweisen ist auch auf die guten Erfahrungen mit "islamischen Märkten", die von der FIS organisiert werden, um bei besonderen Anlässen (wie bei Hochzeiten oder zum Ende der Fastenzeit Ramadan) die Kaufkraft der Ärmsten zu verbessern. Ohne die erfolgreiche Verwaltung der Kommunen hätte die FIS niemals ihre großen Erfolge bei den Parlamentswahlen von 1991 erzielen können." Besser kann man nicht ausdrücken, daß die wirkungsvolle Sozialarbeit der FIS und die Ernsthaftigkeit ihrer Anhänger das politische Ansehen der Partei gestärkt und ihren Sieg gesichert haben.
Mit ihrer historisch-religiösen Mission haben die Amtsträger der FIS in den Augen ihrer Wähler den Ruf der Heiligkeit erworben. Ihr Bestreben, die sozialen und politischen Beziehungen der Herrschaft der Tugend zu unterwerfen, läuft auf den Sturz der von der FLN errichteten, mit dem Stigma der Korruption behafteten Ordnung hinaus. Die Amtsträger der FIS wollen auch eine "wahrhafte" Ordnung schaffen, die den Niedergang des Staates aufhält: "Wahrhaftigkeit ist eine der wesentlichen Eigenschaften des aktiven islamischen Engagements", heißt es in einem Leitartikel der FIS.
Der Pflicht zur Wohltätigkeit, die zum Bau der "Zitadelle des Islam" gehört, muß mittels einer guten Kommunalverwaltung Genüge getan werden. Die FIS ist die erste Partei, die ausgiebig die elektronische Datenverarbeitung nutzt. Auf Computern sind die Empfänger verschiedener Spenden sowie die Namen derer festgehalten, die Zakat geben. Eines der größten Hindernisse für solche Projekte ist jedoch der Mangel an Ressourcen. Die gewählten Amtsträger von der FIS kritisieren immer wieder, daß die Regierung die Finanzen der Partei auszutrocknen versuche, um sie an der Hilfe für die Bedürftigsten zu hindern. Ali Belhadj, einer der Führer der FIS, erklärte 1994 aus dem Gefängnis, das Regime sei bereit, eine islamische Partei zu akzeptieren unter der Bedingung, "daß der Islam Kultus, Gebet, Fasten, Rezitation oder Kultur ist; aber sobald er sich in Wirtschaftsfragen einmischt...".
Das Ansehen der gewählten Amtsträger der FIS lebt Ende der achtziger und Anfang der neunziger Jahre davon, daß es mit der Freigiebigkeit der FLN-Würdenträger vorbei ist. Diese können den Bereich des Sozialen nicht mehr kontrollieren. Doch die FIS will die klientelistische Politik des FLN-Staates auf eigene Rechnung übernehmen und nicht etwa beenden. Auch sie sieht im Mehrparteiensystem, das nach den Aufständen von Oktober 1988 entsteht, eine große Gefahr. "Die pathologische Vermehrung der Parteien gewinnt an Boden; wenn das so weitergeht, gerät das algerische Volk in einen Zustand dauerhafter politischer Instabilität", schreibt ihr Presseorgan 1990. Mit anderen Worten: Die Demokratie könnte die Bildung einer islamistischen Variante des FLN-Staates gefährden. Die größte Gefahr ist daher, daß die internationale Staatengemeinschaft das Regime unterstützt, das angeblich einen demokratischen Wandel akzeptiert hat.
Die Wohltätigkeitsstrategie der Amtsträger von der FIS besteht somit in einer umfassenden und wirkungsvollen Sozialarbeit, verbunden mit der Hoffnung, daß die Schaffung eines islamischen Staates eine bessere Zukunft bringen würde. Eine neue Gestalt der Wohltätigkeit taucht auf, als es nach der Auflösung der FIS im März 1992 zu einem Bürgerkrieg kommt: die Strategie der Emire. Diese machen es sich zur Aufgabe, Algerien von den "Renegaten" zu "befreien", die das Land regieren. Sie verstehen sich als Mudschahedin und setzen ihr Leben als Opfer für die Verwirklichung dieses frommen Werkes ein, wie es das Exekutivorgan der FIS im Ausland 1995 großartig verkündet: "Ihr, die ihr euch Gott dargegeben habt; die ihr das Banner des Islam hochhaltet, das vom Blute der Märtyrer unter Euch getränkt ist, und es - möge Gott es erlauben - zur großen Rettung und zum herrlichen Sieg führt in einer Zeit, da zahlreiche Muslime geizig ihr Blut und ihre Besitztümer zurückhalten."
Die Emire der Guerilla beschaffen sich die Mittel für ihre Strategie durch Gewaltanwendung. Sie erreichen jedoch nicht das gleiche Ansehen wie seit den sechziger Jahren der militärische Unternehmer, jene beispielhafte Gestalt des sozialen Erfolgs: der ehemalige Soldat der nationalen Befreiungsarmee, der zum Unternehmer und Geschäftsmann geworden ist. Den Emiren ermöglicht die Verwandlung städtischer und dann ländlicher Gebiete in Guerillazonen zunächst, ihre Kontrolle über die wirtschaftlichen Ressourcen auszuweiten. Doch mit dem Auftreten neuer Protagonisten im Laufe des Krieges - Banditen, Milizionäre und Killer der Todesschwadronen - schwindet die Autorität der Emire und damit das Prestige dieser neuen "Löwen der Berge".
Die erste Generation der Emire ist noch von der Sozialarbeit der FIS geprägt: Parallel zum Guerillakampf bemühen sich die bewaffneten Gruppen anfangs, der Bevölkerung, die der Krieg in Not oder gar ins Elend stürzt, Hilfe zu leisten. Sie legitimieren ihren Kampf mit dem Hinweis auf die historisch-religiöse Notwendigkeit eines islamischen Staates und mit der Umverteilung von materiellem Gewinn aus dem Krieg. Insbesondere helfen sie den Familien, die Opfer der Repression von seiten des Militärs geworden sind.
Die Armee zerstört häufig die Häuser von Einwohnern, die verdächtigt werden, "Terroristen" Unterschlupf zu gewähren. Seit 1993 haben manche Familien deshalb nicht einmal mehr ein Dach über dem Kopf. Darum kümmern sich dann, vor allem im Großraum Algier, die Emire: Sie bringen die Familien in den zahlreichen Wohnungen unter, die von ihren Bewohnern wegen der wachsenden Unsicherheit verlassen worden sind. Die Emire kümmern sich auch um die Familien in der Mitidscha-Ebene, die ihre Dörfer verlassen, um in den kleinen Gemeinden rund um Algier Schutz zu suchen. Diese Familien haben trotz ihrer prekären Lage keinen Anspruch auf staatliche Hilfe, denn die ist den Opfern von Gewalttaten der islamistischen Gruppen vorbehalten, und die Familien aus Mitidscha fliehen aus einer Region, die unter der Gewalt des Staates leidet - vor allem unter der Bombardierung des Atlas-Gebietes von Blida durch das Militär.
Zwischen 1992 und 1995 können die Emire der Islamischen Armee des Heils (AIS) - das ist die Militärorganisation der FIS - und die der Bewaffneten Islamischen Gruppen (GIA) ihre Macht im wesentlichen mit ihrer Sozialarbeit festigen. In den südlichen Vororten von Algier und den Dörfern der Mitidscha erfüllen sie eine wichtige Funktion der wirtschaftlichen Umverteilung. Das Ende des informellen Handels (trabendo), die Zerstörung der staatlichen Betriebe und die Flucht der Leiter von privaten Kleinbetrieben stürzen die Bevölkerung dort in wirtschaftliche Unsicherheit. Mit Hilfe der im heiligen Krieg angesammelten Mittel - aus Spenden der Gläubigen für die Sache eines islamischen Staates, Banküberfällen, Erpressung und anderem - entlohnen die Emire Menschen, die in sozialen und wirtschaftlichen Schwierigkeiten sind, für verschiedene Dienste und schaffen klientelistische Bande der Abhängigkeit. Je knapper die Ressourcen werden, umso größer wird die Macht, die ihnen aus der Umverteilung erwächst.
Diese Jahre sind die einzige Zeit während des Krieges, in der die Guerilla mit ihrem gesellschaflichen Umfeld in engen Austauschbeziehungen steht. Die Emire werden vom Regime der schlimmsten Verbrechen angeklagt, doch in den früher von der FIS verwalteten Kommunen sind sie wie "Fische im Wasser"; die regierungsoffizielle Version der Ereignisse wird dort als reine Propaganda abgetan. Die Freigiebigkeit der Emire erscheint der Bevölkerung als Unterpfand ihrer Wahrhaftigkeit und der Hingabe an ihre Sache. 1994 sind die Emire für Belhadj, den populärsten Prediger, trotz aller Anschuldigungen gegen sie immer noch Wohltäter, die sich ganz einer Sache verschrieben haben.
Als der Krieg andauert und zum Alltag wird, nimmt auch das gute Image der Emire nach und nach Schaden - insbesondere das der Emire der GIA, seit diese Massaker an Zivilisten verüben. Vor allem jedoch beraubt der Kampf gegen die Guerilla, den das Regime seit 1993 unter der Leitung von General Mohammed Lamari führt, die Emire immer mehr ihrer Ressourcen. Außerdem wird ihre erste Generation liquidiert, und an die Stelle der Getöteten treten Personen, denen das Prestige derer fehlt, die noch den gewählten Amtsträgern der FIS nahegestanden haben. In den Jahren 1993 bis 1995 werden all jene Guerillaführer ausgeschaltet, die aus religiöser und politischer Überzeugung und weil sie die Unterbrechung des Wahlprozesses als schweres Unrecht empfanden, den bewaffneten Kampf aufgenommen haben. Ab 1995 erklären sich Jugendliche, deren Macht nur auf Terror beruht, selbst zu Emiren. Sie sind Kinder des Krieges und stehen an der Grenze zur Welt des Verbrechens. Sie haben keine echte politische Strategie und machen die Gewalt zu ihrer Lebensweise. Die Wähler der FIS hören - soweit sie das können - auf, diese neuen Kämpfer zu finanzieren, die sie als Gangster betrachten, für die der Islam nur ein Vorwand ist.
Ab 1996 werden die bewaffneten islamistischen Gruppen aus dem Raum Algier vertrieben. Die Bevölkerung, die von ihnen "geschützt" wurde, ist nun rein kriminellen Banden ausgeliefert. Die Auflösung der Familien unter den Folgen dieser vielfältigen Schocks - Massaker, Vergewaltigungen, Vertreibungen, Unsicherheit - führt zu Prostitution und Bettlerei. So verwandeln sich die Viertel des Großraums Algier in Ghettos, in denen sich Kriminelle aus Rache und bei Kämpfen um das Monopol auf Schutzgelder gegenseitig umbringen.
Dieses Abgleiten ins Gangstertum weckt Befürchtungen, daß die gesamte Guerilla völlig in Mißkredit gerät. Aus diesem Grund versuchen die Emire der AIS, die Unterschiede zwischen ihren Aktionen und denen der "Emporkömmlinge" herauszustellen. Nach den Massakern von Bentalha, von Rais und von Beni Messous (1997) verteilen sie zu ihrer Entlastung Videokassetten, die zeigen sollen, wie die "wahren Mudschahedin" so gut es geht versuchen, den gequälten Familien zu helfen.
Doch den Truppen der AIS fehlt es an Mitteln. Da sie sich weigern, nach dem Beispiel der GIA auf die allgemeine Erpressung der Bevölkerung zurückzugreifen, können sie ihren Bedarf nicht mehr decken. Mehr als nur ein Überläufer hat berichtet, unter welch ärmlichen Umständen die Mudschahedin im Massiv von Ouarsenis 1996-1997 hausen. Der Kampf gegen die Guerilla zwingt die Kämpfer der AIS zum Rückzug in die Berge, wo sie auf Lebensmittelspenden der Bauern angewiesen sind, um sich selbst zu ernähren. Sie helfen aber Familien, die infolge der Aktionen der GIA mittellos geworden sind; das zeigt, daß die Emire der AIS ihr politisches Handeln immer noch als Opfer für die Gemeinschaft verstehen und ihren Kritikern zeigen wollen, daß sie sich von ethischen Erwägungen leiten lassen.
Doch die Strategie der Streitkräfte laugt sie völlig aus, so daß sie im Oktober 1997 einen einseitigen und bedingungslosen Waffenstillstand annehmen müssen. In einem Kommuniqué vom Februar 1998 teilt die AIS mit, daß der Waffenstillstand "als ein gutes Werk und eine kühne patriotische Haltung angesehen wird, die erheblich zum Rückgang der Massaker beigetragen hat". Sie präzisiert, daß sich 30 autonome bewaffnete Gruppen dem "Lager des Waffenstillstands" angeschlossen haben.
Die Wohltätigkeit, die der AIS zu Beginn des Konflikts Legitimität verschafft hat, wird auch vom Aufstieg der Milizen immer mehr in Frage gestellt. Denn seit 1996 verfügt die Regierung über Devisenreserven, die ständig wachsen und 1998 acht Milliarden Dollar erreichen. Das Regime, das 1993 seine Zahlungen einstellen mußte (die Exporteinnahmen beliefen sich seinerzeit ungefähr auf den Betrag des Schuldendienstes), hat sich unter Anleitung des IWF zu einem Strukturanpassungsprogramm entschlossen, das von einer Umschuldung begleitet ist. Und die Einnahmen, die infolge der Wirtschaftsreformen frei werden, werden als erstes in die Sicherheitspolitik gesteckt. Das Strukturanpassungsprogramm fördert somit nicht nur die volkswirtschaftliche Erholung, sondern auch die Schaffung eines mächtigen Kriegsapparates: 200.000 Milizionäre, 80.000 Gendarmen, 50.000 Gemeindewächter und 80.000 Soldaten werden in eine auf den Antiguerilla-Kampf spezialisierte Einheit der Streitkräfte eingegliedert.
Die Dynamik des Krieges hat neue Notabeln hervorgebracht: die Chefs der Selbstverteidigungsgruppen, die sich einen Platz an der Sonne verschaffen und als wahre Kriegsfürsten auftreten. Obwohl sie von der Regierung finanziert werden, bleibt ihre Loyalität zur Zentralregierung schwach. Etliche von ihnen besitzen eigene Reichtümer, so daß sie von niemandem abhängig sind. An diesen Milizionären führt schon bald kein Weg mehr vorbei. Sie vor allem sind für die Auflösung der Wirtschaftsnetze der Guerilla verantwortlich. Sie kontrollieren ihr Gebiet und rauben so den islamistischen bewaffneten Gruppen eine ihrer wichtigsten Finanzquellen: die "Revolutionssteuer", die der Bevölkerung an Straßensperren abgepreßt wird. Dank des Aufbaus von "Selbstverteidigungskomitees" in den Dörfern gehen die Razzien der Guerilla zurück. Die Chefs der Selbstverteidigungsgruppen, die mitten in den Kampfzonen leben, gewinnen allmählich die Bevölkerung für sich, halten die Kaufleute davon ab, die Emire zu finanzieren, und bieten mittellosen Jugendlichen eine Beschäftigung: Sie nehmen sie in ihre Milizen auf. Sie siedeln Gruppen von Zivilisten aus kleinen Dörfern, Weilern und verlassenen landwirtschaftlichen Gütern um; dadurch "befrieden" sie den Atlas von Blida und kontrollieren einen Großteil der Mitidscha.
Diese Milizenchefs scharen sich um die "Vereinigung der Patrioten der Mitidscha" und werden zur bestimmenden Kraft in der Lokalpolitik. Ihr Ziel ist, Ordnung und Sicherheit in den Dörfern wiederherzustellen und diesen "das Leben wiederzugeben". Die Vereinigung schafft zum Beispiel Einrichtungen für Sportveranstaltungen. Die neuen Wohltäter fördern große Hochzeitsfeiern, deren Kosten sie übernehmen; sie laden die Bewohner zum Tanz ein und ermutigen die Geleitzüge der Hochzeit zum Lärmen. Ihre Großzügigkeit kann jedoch nicht vergessen machen, wie ihr sozialer Aufstieg zustande gekommen ist. Manchen werden Mord, Vergewaltigung und Diebstahl vorgeworfen, andere gehören seit ihrer Ernennung durch den vorigen Präsidenten Liamine Zéroual dem Nationalrat an, und bei manchen ist beides gleichzeitig der Fall. Ihr Aufstieg in Machtstellungen löst auch Besorgnis aus, daß sie öffentliche Mittel in Besitz nehmen. Manche Chefs von Selbstverteidigungsgruppen eignen sich zur Privatisierung anstehende Grundstücke an und veruntreuen Geld, das für Entschädigungszahlungen an Familien der Opfer von Massakern bestimmt ist.
Die Regierung fördert daraufhin, um ihre Abhängigkeit von den Milizenchefs soweit wie möglich zu verringern, einen Prozeß der "Politisierung", mit dem sie neue Mittlerinstanzen zwischen dem Zentralstaat und der Bevölkerung schaffen will. Die Gründung der Nationalen Demokratischen Sammlung (Rassemblement national démocratique, RND) hat zum Ziel, die Macht in den Kommunen wieder in die Hände von politisch Gewählten zu legen. Der - wegen der verbreiteten Wahlfälschungen sehr umstrittene - "Sieg" dieser Partei bei den Parlaments- und Kommunalwahlen vom Juni und Oktober 1997 schränkt die Macht der Milizen ein.
Mit Hilfe ihrer finanziellen Einnahmen hat die Regierung somit neue Würdenträger geschaffen, die beauftragt sind, den sozialen Frieden zu sichern und die vom Krieg zerstörten Gemeinden wiederaufzubauen: "Der Wali- Delegierte von Baraki hat gestern am Verwaltungssitz des Großraums Algier den Betrag genannt, der für die erste Stufe der Wiederherstellung von 24 zerstörten oder verwüsteten Infrastruktureinrichtungen notwendig ist: 189 Millionen Dinar (rund 5 Millionen Mark), finanziert aus dem Staatshaushalt, dem Haushalt des Verwaltungsbezirks und der Gemeinden Baraki (43 Millionen), Eucalyptus (64 Millionen) und Sidi Moussa (82 Millionen)", berichtet El Watan im Februar 1998.
Wenn derart beträchtliche Mittel in die am stärksten zerstörten Gemeinden gepumpt werden, hat das verschiedene Auswirkungen. Nicht nur den Chefs der Selbstverteidigungsgruppen, sondern auch gewählten Kommunalpolitikern wird häufig Veruntreuung vorgeworfen. Diese sind auf dem Lande heute an der Höhe ihrer Häuser erkennbar. In den Dörfern war es früher Sitte, daß die Häuser der Würdenträger der FLN die höchsten waren, doch seit einiger Zeit bauen manche gewählte RND-Vertreter noch höhere.
Die neuen Notabeln, die in einem der Regierung feindlich gesonnenen Umfeld leben müssen, profitieren von der Liberalisierung auf dem Sektor der Sicherheitsdienste: Über 60 Gesellschaften bieten verschiedenen Kunden privaten Schutz. Die RND, die aus einem Verwaltungsbeschluß hervorgegangen ist und keine echte Unterstützung im Volk hat, ist eine der reichsten politischen Parteien.
Für die Förderer der RND war das Ziel, mittels einer Strategie des Klientelismus eine neue Wählerbasis zu schaffen, welche die der FLN ersetzen konnte. Seit 1997 werden in den Gemeinden von Großalgier, wo die FIS die besten Wahlergebnisse erzielt hatte, Geschenke an die Bevölkerung verteilt. Auch die Jüngsten werden nicht vergessen: In den Bars der Viertel stehen Tischfußballgeräte und Spielsäle. In manchen dieser Gemeinden werden Privatkliniken gebaut und mit Material aus Thailand ausgerüstet; eine lange Periode des Abbaus von Sozialdiensten wird damit beendet. Diese Kliniken erfüllen eine bedeutende sozio-politische Funktion, denn die staatliche Gesundheitsversorgung ist zusammengebrochen, und sich in Frankreich behandeln zu lassen, ist aufgrund der restriktiven Visabestimmungen praktisch unmöglich. Die RND arbeitet in diesen Gemeinden zusammen mit der gemäßigten islamistischen Partei von Mahfoudi Nahnah, der MSP (Bewegung der Gesellschaft für den Frieden).
Das Ziel dieser ganzen Operation ist, neue politische Unternehmer zu fördern nach dem Modell der früheren Notabeln von der FLN. Ob die Regierung damit einen ähnlichen Erfolg haben wird wie die FIS, ist aber nicht garantiert. Auf ihrer Seite fehlt ein zweifellos wesentlicher Bestandteil: der Glaube an eine mobilisierende Ideologie.
In Algerien ist in den neunziger Jahren das Monopol des Staates auf Wohltätigkeit zerbrochen. Vorher, im Staat der FLN, waren lediglich die Notabeln in der Lage, Großzügigkeit zu praktizieren. Dann haben nacheinander die kommunalen Amtsträger der FIS, die Emire der bewaffneten Gruppen, die Chefs der Milizen sowie die "Gewählten der Behörden" Strategien der Wohltätigkeit verfolgt, die den alten Praktiken der Notabeln von der FLN in nichts nachstanden.
Sicherlich hat auch der wirtschaftliche Wandel, der sich im Laufe des Jahrzehnts vollzogen hat, für die Privatisierung der Wohltätigkeit eine Rolle gespielt. Die Deregulierung zahlreicher Wirtschaftsbereiche wurde vom Auftreten neuer "großer Männer" begleitet, auf die der Staat einen Teil seiner Aufgaben ablud. Das ist von einer Raubwirtschaft begleitet ähnlich der, wie sie laut dem französischen Historiker Georges Duby im europäischen Mittelalter die Ausweitung des Handels gefördert hat.
Doch in den Augen der Bevölkerung kann die starke Zunahme der Wohltäter nicht die Ausschaltung der gewählten FIS-Vertreter ausgleichen. Sie hatte ihre Sozialarbeit in Zusammenhang mit einem politisch-moralischen Anspruch bringen können. Die Versuche ihrer Nachfolger, durch das Angebot von materiellen Gütern "das Leben wiederzugeben", bleiben zum Teil vergeblich.
aus: der überblick 04/1999, Seite 34
AUTOR(EN):
Luis Martinez:
Luis Martinez ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des Centre d'Études et de Recherches Internationales in Paris und Autor des Buches "La guerre civile en Algérie" (Paris 1998). Seinen Artikel entnehmen wir leicht gekürzt mit freundlicher Genehmigung der Zeitschrift "Critique Internationale" Nr. 4 vom Sommer 1999.