GEFANGENEN-SEELSORGE
Die multi-ethnische und multi-religiöse Bevölkerungsstruktur von England und Wales spiegelt sich auch in den Gefängnissen der beiden Länder wider. Daher sind besondere Vorkehrungen und Mittel nötig, um allen Häftlingen die Ausübung ihres Glaubens zu ermöglichen. Im Strafvollzugsgesetz von 1952 heißt es: "Wo immer in einer Strafvollzugsanstalt die Anzahl der Häftlinge, die einer anderen Konfession als der Kirche von England angehören, nach Ansicht des Ministers so groß ist, dass die Anstellung eines Geistlichen dieser Konfession erforderlich ist, da kann der Minister einen Geistlichen für diese Strafvollzugsanstalt anstellen."
von Thomas Johns
In den achtziger Jahren hat das Ministerium für das Gefängniswesen Schritte unternommen, um die Umsetzung dieser Regelung zu erleichtern. Es hat Kontakt zu den leitenden Organen der verschiedenen Glaubensrichtungen aufgenommen und sie aufgefordert, für jede Strafvollzugsanstalt einen Geistlichen ihres Glaubens zu benennen, der die Aufgabe des Gastseelsorgers übernehmen kann. Zugleich wurden die Vertreter der Bahais, Buddhisten, Hindus, Muslime, Jainas, Juden und Sikhs gebeten, Informationen über sensible Fragen ihrer jeweiligen Glaubensrichtung zusammenzustellen - Ernährungs-, Kleidungs- und Arbeitsvorschriften sowie religiöse Bräuche. Diese wurden dem Strafvollzugsminister zur Billigung vorgelegt und im Directory and Guide on Religious Practices in Her Majesty's Prison Service veröffentlicht. Das Buch enthält auch Informationen über Festtage, religiöses Leben und heilige Schriften, über das geistliche Amt sowie über Riten bei sozialen Anlässen wie Hochzeit und Tod. In einer überarbeiteten Ausgabe von 1992 wird auch den speziellen Bedürfnissen weiblicher Häftlinge Rechnung getragen. Jeder Direktor, Seel-sorger und Küchenchef eines Gefängnisses sowie jeder Beauftragte für inter-ethnische Beziehungen in Gefängnissen ist im Besitz eines solchen Buches.
In dem Maße, in dem verschiedene Glaubensrichtungen einen Platz in der Gefängnisseelsorge erhielten, wuchs auch die Zahl der anstehenden Fragen und artikulierten Bedürfnisse. Daher wurde eine Beratungsstelle für religiöse Fragen geschaffen, die die Gefängnisverwaltung unterstützt. Zur Zeit befasst sie sich mit den Beschäftigungsbedingungen für Gastseelsorger; mit der Bereitstellung von Weihrauch für Buddhisten zum Gebrauch in ihren Zellen; mit der Frage, welchen Stellenwert es für die Gläubigen hat, dass sie nur von Angehörigen ihres Geschlechts durchsucht werden; mit der zeitlichen Abstimmung des Freitagsgebets für die Muslime; mit der Zertifizierung von Fleisch, das den muslimischen Vorschriften für das Schlachten entspricht; und mit der zulässigen Größe des kirpan (zeremonieller Dolch), den ein Sikh in seinem Turban tragen darf. Eine wichtige Grundsatzentscheidung, die von der Beratungsstelle angeregt wurde, war die Ernennung eines hauptamtlichen islamischen Beraters, der die Bedingungen der Religionsausübung in der Haft für mehr als viertausend islamische Häftlinge beurteilen soll.
Jede Strafvollzugsanstalt in England und Wales hat eine Anzahl von Gastseelsorgern unterschiedlichen Glaubens, die von Organen ihrer jeweiligen Glaubensrichtung vorgeschlagen und vom Anstaltsleiter eingesetzt sind. Sie besprechen mit dem Gefängnisgeistlichen, welche Vorkehrungen erforderlich sind, damit die Häftlinge ihren Glauben ausüben können. Dabei kommen auch sensible Fragen des jeweiligen Glaubens zur Sprache. So sollten bei der Sicherheitsüberprüfung des Gastseelsorgers keine Spürhunde eingesetzt werden, weil der Hundespeichel ihn für seine religiösen Pflichten unrein machen könnte. Kein Sikh-Turban sollte von Justizangestellten berührt oder aufgebunden werden. Vollzugsbeamte, die bei religiösen Feiern von Sikhs, Muslimen oder Juden die Aufsicht führen, sollten ihr Haupt bedecken. Weibliche Vollzugsbeamte, die bei muslimischen Gebeten Aufsicht führen, sollten sich im Hintergrund der Moschee aufhalten und Hosen oder bodenlange Röcke tragen.
Der zuständige Geistliche sucht jeden Neuankömmling in der Strafanstalt einzeln auf. Darüber hinaus wird in der Regel bei jedem Besuch des Gastseelsorgers ein gemeinsamer Gottesdienst abgehalten. Einige Anstalten haben eine eigene Moschee, in der die Muslime beten können. In der Strafvollzugsanstalt in Springhill steht den buddhistischen Gefangenen ein Buddha-Hain zur Verfügung. Die meisten Gefängnisse besitzen einen Raum der Weltreligionen mit Kultgegenständen der verschiedenen Religionen.
Da die Förderung der Weltreligionen in britischen Justizvollzugsanstalten ein relativ neues Phänomen ist, sind umfangreiche Schulungen nötig, um das Gefängnispersonal für die damit verbundenen Probleme zu sensibilisieren. Strafvollzugsbeamte erhalten zum Beispiel während ihrer Ausbildung einen Einblick in die Schwierigkeiten des Umgangs mit Angehörigen unterschiedlicher Glaubensrichtungen. Eine islamische Bildungseinrichtung bietet Gefängnisgeistlichen und Vollzugsbeamten Seminare über den muslimischen Glauben an. Und für die Anstaltsleiter ist es wichtig, rechtzeitig über die Daten der verschiedenen Fastenzeiten und Feste informiert zu sein, um zusätzliches Personal einsetzen zu können. Die Gläubigen haben an diesen Tagen das Recht, der Arbeit fernzubleiben, um an einer religiösen Feier teilzunehmen. Die Daten des muslimischen Ramadan-Fastens sind außerdem für die Proviantmeister von Bedeutung, denn sie müssen dafür sorgen, dass warme Mahlzeiten in Thermosbehältern für die betreffenden Häftlinge bereitstehen, damit sie nach Sonnenuntergang und vor Sonnenaufgang essen können.
Unter den 64.500 Häftlingen in den staatlichen Gefängnissen von England und Wales wurden im vergangenen Jahr 27.399 Anglikaner, 11.285 Katholiken, 1.005 Freikirchler und 105 Orthodoxe registriert sowie 4355 Muslime, 456 Sikhs, 198 Juden, 243 Hindus und 346 Buddhisten. 18.246 Gefangene waren als religionslos eingetragen. Jede Gelegenheit wird wahrgenommen, die Angehörigen der verschiedenen Glaubensrichtungen einander näherzubringen. Die Früchte dieses Bemühens sieht man, wenn Gläubige sich zu ihren Festtagen gegenseitig Grußkarten schicken und sich gegenseitig zu ihren religiösen Feiern einladen. Dadurch werden unsere Kenntnis und unser gegenseitiges Verstehen bereichert.
aus: der überblick 01/2000, Seite 74
AUTOR(EN):
Thomas Johns:
Stellvertretender Leitender Gefängnispfarrer im Gefängnisseelsorgedienst Ihrer Majestät in England und Wales