Echte Kasachen in falscher Heimat
Etwa 300.000 Kasachen sind seit der Unabhängigkeit Kasachstans dem Ruf seines Präsidenten gefolgt und in die Heimat zurückgekehrt. Ihr Auftrag lautet, das Land wieder kasachischer zu machen demographisch und kulturell. Doch es herrscht Uneinigkeit darüber, wer oder was echt kasachisch ist. Und die, welche sich als echte Kasachen fühlen, fühlen sich nicht unbedingt heimisch in ihrer neuen Heimat, die ihre Vorfahren einst verlassen haben.
von Peter Finke
Unmittelbar nach Ausrufung der Unabhängigkeit Kasachstans im Dezember 1991 forderte dessen Präsident Nursultan Nasarbajew alle ethnischen Kasachen, die zu diesem Zeitpunkt außerhalb der Landesgrenzen siedelten, auf, in die Heimat zurückzukehren und am Aufbau des neuen Staatswesens mitzuwirken. Dies ist der einzige Fall innerhalb Zentralasiens, wo dies in systematischer Weise geschah, obwohl auch die meisten Nachbarstaaten an ihre Minderheiten jenseits der Grenze hätten appellieren können. Der Aufruf wurde folglich im Inland wie im Ausland mit einer gewissen Skepsis aufgenommen.
Im öffentlichen wie im wissenschaftlichen Diskurs in Kasachstan werden diese Kasachen als Diaspora bezeichnet, während sie nach der Übersiedlung den Status von Repatrianten erhalten. Zweifellos stellten die betroffenen Gruppen keine Diaspora im klassischen Sinne dar, da ein enger Bezug zu dem Land ihrer Vorväter in den vergangenen Jahrzehnten nicht sehr ausgeprägt war. Die meisten hatten sich mit ihrer Anwesenheit in den jeweiligen Staaten, in denen sie siedelten, arrangiert und hegten weder die Absicht diese zu verlassen noch ein idealisiertes Bild der vermeintlichen Heimat.
Nach offiziellen Verlautbarungen sollte die Einladung zur Übersiedlung eine Kompensation für erlittenes Unrecht während des Stalinismus darstellen. Die meisten der Betroffenen hatten das heutige Staatsterritorium aber bereits vor der Stalinzeit verlassen. Tatsächlich dürften andere Gründe eine größere Rolle gespielt haben. Zum einen sollten die Rückkehrer das demographische Verhältnis im Land zugunsten der Volksgruppe, deren Namen der Staat trägt, der Titularnation, verändern. Denn die Kasachen stellten zu Beginn der Unabhängigkeit nur gut 40 Prozent der Bevölkerung. Vermutlich aus demselben Grund wurden die Ankömmlinge vorwiegend in den nördlichen Landesteilen angesiedelt, wo Kasachen oft nicht mehr als 20 Prozent ausmachten. Zugleich wollte die Regierung damit wohl territorialen Forderungen russischer Nationalisten nach einer Annexion eben jener Landesteile zuvorkommen. Daneben sollten vor allem die Rückkehrer aus der Mongolei und China, die als besonders traditionell gelten, aktiv zur Wiederbelebung von kasachischer Kultur und Sprache beitragen.
Statt der erhofften Wiederbelebung von Kasachentum sorgte die Heimrufung der Diasporagemeinschaften jedoch für zusätzlichen Konfliktstoff innerhalb der Gesellschaft weniger bei den Minderheiten, die dies als Angriff auf ihre Position hätten verstehen können, als vielmehr zwischen den verschiedenen kasachischen Gruppen. Im Gegensatz zu einer relativ friedlichen wenn auch bisweilen idealisierten Situation inter-ethnischer Beziehungen in der Region, sind es hier intra-ethnische Beziehungen, die von Vorurteilen und Ablehnungen geprägt sind. Ein Prozess gegenseitiger Abgrenzung und einer Debatte über die Bedeutung von echtem Kasachentum setzte ein, wobei allerdings die Zugehörigkeit zur selben Gruppe nicht in Frage gestellt wird.
Es gibt unterschiedliche historische Gründe, warum Kasachen das heutige Territorium Kasachstans verließen. Drei Epochen sind dabei von Bedeutung: Nachdem die kasachischen Khane im 18. Jahrhundert die Oberhoheit des Zarenreiches akzeptiert hatten, begannen erste russische Siedler in die nördliche Steppenregion zu ziehen. Auf der Suche nach neuen Weidegebieten zogen Kasachen daraufhin in die angrenzende Dsungarei, im Nordwesten der heutigen Volksrepublik China gelegen. Diese Bewegung setzte sich vor allem im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert fort, als Hunderttausende aufgrund des massiven Zuzugs russischer Siedler, und nach Aufständen und Hungersnöten das Territorium Kasachstans verließen.
Andere Diasporagruppen stammen mittelbar von denen in der Dsungarei ab. So siedelten sich seit dem Ende des 19. Jahrhunderts einzelne Familien im Westen der damaligen Äußeren Mongolei (heute Mongolische Republik) an. Andere Gruppen flohen in den dreißiger und vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts aus der Dsungarei in Richtung indischer Subkontinent. Der größere Teil kam aufgrund von Hunger, Frost und feindlichen Attacken um. Diejenigen, die es nach Indien schafften, fanden schließlich in den fünfziger Jahren Aufnahme in der Türkei und gelangten von dort teilweise als Gastarbeiter nach Westeuropa.
Der Exodus aus Kasachstan sollte sich nach der sowjetischen Machtergreifung fortsetzen und verstärken. Im Verlauf der Revolutionswirren und vor allem während der Zwangskollektivierung flohen erneut Hunderttausende von Kasachen nach China, Afghanistan und in den Iran, aber auch in andere Teile der Sowjetunion, vor allem nach Usbekistan. Viele entgingen so dem drohenden Hungertod, dem in den Jahren 1929 bis 1932 nach Schätzungen etwa 1,5 Millionen Kasachen das waren 40 Prozent der damaligen Gesamtzahl zum Opfer fielen.
Eine weitere Gruppe schließlich verdankt ihren Diasporastatus der mehr oder weniger willkürlichen Festlegung von Grenzen, die sie außerhalb der 1936 gegründeten Kasachischen Sozialistischen Sowjetrepublik (SSR) beließ. Dies betrifft vor allem die Kasachen in den grenznahen Regionen von Usbekistan, Turkmenistan und der Russischen Föderation.
Schon bald nach der Gründung sollte Kasachstan die einzige Republik in der Sowjetunion werden, in der die Titulargruppe zur Minderheit wurde. Zwischen 1926 und 1939 fiel der kasachische Bevölkerungsanteil von 57 auf 30 Prozent. Der Verlust an Menschenleben während der Kollektivierungsphase war nicht der einzige Grund. Denn Kasachstan wurde auch Zielort von Millionen freiwilliger und unfreiwilliger Zuwanderer vor allem aus den europäischen Teilen der Union. Einen Höhepunkt erreichte dies in den fünfziger und sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts, nachdem Chruschtschow beschlossen hatte, den Norden Kasachstans zur Kornkammer der Union zu machen und erneut Millionen von Russen und Ukrainern dort ansiedeln ließ. Andere kamen gegen ihren Willen. Während des Zweiten Weltkriegs war Kasachstan die Hauptdestination deportierter Deutscher, Krimtataren, Tschetschenen und anderer, dem Regime ungenehmer Bevölkerungsgruppen.
In den darauf folgenden Jahrzehnten stieg der Anteil der Kasachen aufgrund höherer Geburtenraten wieder an, bis er im Jahre 1989 bei 40 Prozent lag. Im Jahre 1999 hatten die Kasachen aufgrund der Abwanderung der russischsprachigen Bevölkerung erstmals wieder knapp die absolute Mehrheit. Die beinahe gleich starken russischen und kasachischen Bevölkerungsanteile ließ viele westliche Beobachter in Kasachstan einen clash of civilizations erwarten. Die neue politische Elite sah sich daher nicht nur Problemen der ökonomischen Transformation und des Aufbaus neuer politischer Strukturen gegenüber, sondern auch der Definition einer nationalen Identität. Dies pendelt zwischen der Idee eines kasachischen Nationalstaates und einer multi-ethnischen kasachstanischen Identität. Vielen der russifizierten kasachischen Elite scheint ein Bündnis mit europäischen Bevölkerungsgruppen näher als mit national-gesinnten kasachischen Intellektuellen.
Es sind aber zugleich deutliche Züge einer Kasachisierung im Lande erkennbar. Zahlreiche Russen in führenden Positionen wurden in den vergangenen 15 Jahren durch Kasachen ersetzt, und die Einführung des Kasachischen als Staatssprache schränkt die Einflussmöglichkeiten von europäisch-stämmigen, die sich in der Mehrheit nie um das Erlernen der einheimischen Sprache bemüht haben, stark ein. Staatliche Embleme beziehen sich praktisch ausschließlich auf die namensgebende Bevölkerungsgruppe. Die Umbenennung zahlloser Straßen, Städte und Ortschaften sowie die Neubewertung von Personen und Ereignissen der kasachischen Geschichte sind andere auffällige Zeichen dieser Kasachisierung.
Auch die Diaspora-Gruppen sollten zu dieser Kasachisierung beitragen. Weltweit gab es im Jahre 1991 etwa 12 Millionen Kasachen. Davon lebten acht Millionen in Kasachstan selbst. Weitere zwei Millionen siedelten in anderen Nachfolgestaaten der Sowjetunion, vor allem in Usbekistan und Russland. Die Anzahl der Kasachen in China betrug zu diesem Zeitpunkt 1,2 Millionen, fast alle davon in der Dsungarei, dem nördlichen Teil der Autonomen Region Xinjiang. In der Mongolei bildeten Kasachen mit etwa 130.000 Individuen die größte Minderheit des Landes. Kleinere Gruppen lebten im Iran, Afghanistan, der Türkei und Westeuropa.
Bis zum Jahre 2005 sind rund 300.000 der insgesamt vier Millionen zählenden Diaspora-Kasachen dem Aufruf zur Heimkehr gefolgt zweifellos weit weniger als die Regierung erhofft hatte. In den ersten Jahren war die Mongolei das Hauptherkunftsland. Zwischen 1990 und 1995 wanderten von dort etwa 60.000 Kasachen aus 40 Prozent der Gesamtzahl. Seit Ende der neunziger Jahre ist Usbekistan der wichtigste Entsender - zeitlich einhergehend mit einer deutlichen Erholung der kasachischen Wirtschaft. Nur wenige Migranten kamen bislang aus Russland, China, der Türkei und dem Iran.
Die Motive der Migranten hängen von den jeweiligen Lebensumständen am Herkunftsort ab. Der Hinweis auf den historischen Moment der nationalen Unabhängigkeit wurde bei Befragungen zwar meist als erstes genannt, jedoch im Folgenden selten weiter verfolgt. Ökonomische Gründe waren vor allem bei Rückkehrern aus der Mongolei entscheidend, wo die frühen neunziger Jahre eine Periode ökonomischen Niedergangs waren. In Usbekistan sind es die sich dramatisch verschlechternden ökologischen und ökonomischen Bedingungen, die etwa in der Region um den Aralsee in den letzten Jahren zu einem wahren Exodus geführt haben.
Im Gegensatz dazu schilderten Migranten aus China ihr vorheriges Leben als positiv. Als Hauptgründe für ihre Übersiedlung nannten sie vor allem die Geburtenbeschränkung in China, Angst vor drohender Assimilation und die besseren Zukunftsperspektiven, weil in Kasachstan freie Flächen Land vorhanden sind. Auch die meisten Kasachen aus der Türkei, die überwiegend in Istanbul leben, haben einen höheren Lebensstandard aufgegeben. Viele von ihnen kamen mit viel Euphorie und dem Gefühl eines Zivilisationsauftrags, der sowohl die stärkere Durchdringung mit islamischen Vorstellungen wie auch den Zugang zu modernen europäischen Werten beinhaltet.
Die Prozedur der Aus- und Einreise der Rückkehrer hing maßgeblich von der Existenz bilateraler staatlicher Abkommen für die Rückkehr ab. Gleich nach der Unabhängigkeit gab es ein solches zwischen Kasachstan und der Mongolei, während die Beziehungen mit anderen ehemaligen Sowjetrepubliken zunächst durch Uneindeutigkeit der Zugehörigkeit von Staatsbürgern gekennzeichnet waren. Dadurch war de facto ein mehr oder weniger freies Pendeln zwischen diesen Staaten möglich. Sehr schwierig ist dagegen die Situation in China. Eine Erlaubnis zur Emigration dauert in der Regel Jahre, und oft mussten Familien Teile ihrer Angehörigen zurücklassen. Andererseits erhielten diejenigen, denen die Ausreise gestattet wurde, relativ großzügige Unterstützung. Viehhalter konnten ihre privaten Herden verkaufen, während staatliche Angestellte gemäß ihrer bisherigen Rentenansprüche ausbezahlt wurden. Alle Migranten erhielten zudem nach übereinstimmender Aussage den Transport bis zur kasachischen Grenze bezahlt. Dies mag darauf hindeuten, dass sie China in guter Erinnerung behalten sollen und ihnen eine Rolle bei einem zukünftigen Engagement in Kasachstan zugedacht ist.
Bei der Immigration und Einbürgerung stellen ethnische Kasachen eine eigene Kategorie dar; nicht unähnlich derjenigen von Spätaussiedlern in Deutschland. Doch sah sich die Regierung bald mit der Integration selbst der geringen Zahl an Migranten überfordert. Zur Regulierung des Zuzugs hatte man eine jährliche Quote eingeführt, die im Verlauf der neunziger Jahre von anfangs 10.000 pro Jahr auf lediglich 500 reduziert wurde. In Korrelation mit dem beginnenden wirtschaftlichen Aufschwung ist diese Zahl in den letzten Jahren wieder erhöht worden. Diejenigen, die ankamen, ohne in der Quote aufgenommen zu sein darunter so gut wie alle Migranten aus China , haben jedoch keinen Anspruch auf Hilfe bei der Eingliederung.
Die ersten Rückkehrer aus der Mongolei wurden vor allem im russisch-dominierten Norden Kasachstans angesiedelt, wo durch den Fortzug von Russen und Deutschen auch die meisten freien Häuser vorhanden waren. Später entwickelt sich mit der Provinz Süd-Kasachstan ein zweites Zentrum der Ansiedlung von Kasachen aus dem Iran und Usbekistan. Daneben üben auch die ehemalige und die neue Hauptstadt, Almaty und Astana, eine gewisse Sogwirkung aus. In jüngerer Zeit ziehen die Migranten häufig je nach Herkunft in bestimmten Orten zusammen. So siedeln heute fast alle Einwanderer aus der Provinz Khovd in der West-Mongolei an zwei Orten, Pavlodar und Temirtau. So soll einem Gefühl der Fremdheit entgegengewirkt werden. Zugleich verlieren die Betroffenen bei solch einem Umzug aber ihren Anspruch auf staatliche Unterstützung.
Bald machte sich bei den übergesiedelten Kasachen Enttäuschung breit aufgrund wirtschaftlicher Schwierigkeiten und nicht eingehaltener Versprechungen. Die Rückwanderer erhalten bei ihrer Ankunft in der Regel zwar Land, da große Anbauflächen vorhanden sind, die zurzeit nicht genutzt werden. Bis zur Annahme der Staatsbürgerschaft bekommen sie allerdings nur befristete Nutzungsrechte. Bislang hat nur eine kleine Minderheit die Staatsbürgerschaft tatsächlich erhalten. Vielfach wird die Schuld für mangelnde Hilfe den lokalen Behörden gegeben, obwohl offensichtlich auch von übergeordneter Stelle wenig zur Klärung der Situation beigetragen wird.
Anfangs wurde die Ankunft der Rückkehrer von den meisten einheimischen Kasachen begrüßt. Bald jedoch entstanden erste Konflikte. In vielen Orten ist der Kontakt zwischen Einheimischen und Zugezogenen sehr distanziert und von gegenteiligen Vorurteilen durchzogen. Sprache ist dabei ein zentraler Punkt. Viele der Einheimischen sprechen ihre Muttersprache mit einer Vielzahl russischer Wörter durchsetzt. In den Städten beherrschen viele das Kasachische kaum, weil für einen beruflichen Aufstieg früher der Besuch einer russischen Schule Bedingung war. Dies hat sich in den Jahren nach der Unabhängigkeit geändert. Doch ist Russisch weiterhin mindestens ebenbürtig und viele Kasachen zeigen wenig Neigung auf ihre Muttersprache umzuschwenken. Dies gelangt besonders den Kasachen aus China, dem Iran und der Türkei zum Nachteil, die im Gegensatz zu denjenigen aus der Mongolei weder über Kenntnisse der russischen Sprache noch der kyrillischen Schrift verfügen.
Religiosität ist der zweite Faktor, der zu Differenzen führt. In sowjetischer Zeit war der Islam stark in den Hintergrund gedrängt worden. Das genauere Wissen und die strengere Einhaltung religiöser Pflichten unter anderem der Verzicht auf Alkohol im Falle der Kasachen aus der Türkei, dem Iran, aber auch derjenigen aus China werden zwar von den Einheimischen anerkannt und bisweilen als nachahmenswert empfunden. Zugleich ist man jedoch stolz auf eine weitgehende Laxheit in dieser Hinsicht.
Der geringe Grad von Interaktion geht einher mit bisweilen schroffer gegenseitiger Abgrenzung. Kasachen aus der Türkei, China oder der Mongolei sehen sich als Bewahrer traditioneller Kultur und bezeichnen die Einheimischen als russifiziert. Sie sehen sich als Repräsentanten echten Kasachentums, was zweifellos in direktem Zusammenhang mit ihrer Situation als benachteiligte Neuankömmlinge steht. Umgekehrt verstehen sich die Einheimischen als Teil einer überlegen Zivilisation. Der Verlust traditioneller Kultur und die damit einhergehende Russifizierung werden von ihnen nicht geleugnet, sondern werden mit anderen, positiven Errungenschaften assoziiert.
Solche Konflikte und Ablehnungen stehen in auffallendem Kontrast zu der ansonsten friedlichen Koexistenz ethnischer Gruppen in der Region. Die gemeinsame Erfahrung im multi-ethnischen Gebilde Sowjetunion wird bis heute von den meisten als sehr positiv wahrgenommen. Viele der einheimischen Kasachen machen kein Hehl daraus, dass sie den Umgang mit lokalen Russen oder Uiguren gegenüber ihren ausländischen Brüdern bevorzugen. Gastfreundschaft, Weltoffenheit und Multikulturalität sind aus ihrer Sicht elementare Teile echten Kasachentums.
Für die meisten der Rückkehrer stellte Kasachstan in der Vergangenheit keinen zentralen Bezugspunkt dar. Desgleichen gab es aus politischen Gründen kaum Beziehungen zwischen Kasachen verschiedener Staaten. Stattdessen entsteht paradoxerweise heute eine Art Transnationalismus zwischen den Migranten und ihren Herkunftsgebieten. In der historischen Heimat dagegen beginnen sich viele als Diaspora zu fühlen. Dies mag auch ein Grund sein, warum die meisten ihre bisherige Staatsbürgerschaft noch nicht aufgegeben, obwohl sie bestreiten, Kasachstan wieder verlassen zu wollen. Dies erlaubt ihnen zugleich ein leichteres Überschreiten der Grenze zu Handelszwecken.
Für die Zukunft ist eine zögerliche Entspannung der inner-kasachischen Beziehungen zu erwarten, vor allem wenn sich der ökonomische Aufschwung im Land fortsetzen sollte. Die anderen Minderheiten mögen von der schleichenden demographischen Revolution wenig begeistert sein, äußern jedoch auch keine allzu schroffe Ablehnung gegen diese Politik. Letztendlich spielt die Immigration der Diasporagruppen bislang eine eher sekundäre Rolle in diesem Szenario. Dies mag sich ändern, falls die sich verschlechternden Lebensumstände in Usbekistan zu einer Ausdehnung der dortigen Abwanderungsbewegung führen sollten. Sollte Kasachstan, wie dies bisweilen von staatlichen Behörden angedeutet wird, die Quotenregelung (und damit eine wenn auch unzureichende Unterstützung der Rückkehrer) in den kommenden Jahren aufheben, so könnte dies ungewollte Effekte nach sich ziehen. Dann könnte der Migrantenstrom kurzfristig zunehmen anstatt nachzulassen, weil viele Familien versuchen werden, ihre bisher vagen Pläne vorzuziehen, um noch schnell in den Genuss des Unterstützungsprogramms zu kommen.
aus: der überblick 01/2006, Seite 56
AUTOR(EN):
Peter Finke
Dr. Peter Finke ist Leiter der Forschungsgruppe Zentralasien am Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung in Halle/Saale. Sein Buch Nomaden im Transformationsprozess ist 2004 im Lit-Verlag, Münster, erschienen. Seit 1991 hat er zahlreiche Feldforschungsaufenthalte in der Mongolei, Kasachstan und Usbekistan durchgeführt.