Ohne Hintergrund ist die Welt nicht zu verstehen
von Sonia Mikich
"Seit die Reise bequem geworden ist, führt sie nicht mehr so weit. Sie nimmt mehr häuslich Gewohntes mit und dringt in des Landes Brauch noch weniger ein als vorher." (Ernst Bloch)
Deutschland ist, wenn ich mich richtig erinnere, eine Republik. Aber offenbar besessen von Geschichten über Royals. Sei es das dysfunktionale britische Königshaus oder die biedere niederländische Variante oder das Trash-Geschehen in Monaco.
Mit jakobinischem Schaudern erinnere ich noch die Aufregung um das Ableben einer 101-Jährigen. Mehrere Stunden lang wurde ich informiert, unterhalten, gequält anlässlich der Beerdigungszeremonie für die Queen Mum. Ich weiß, dass über ihre Vorliebe für Gin, Hüte und Pferderennen berichtet wurde. Ich kann mich aber nicht erinnern, dass jemand den Kitsch nachhaltig getrübt und von Queen Mums Befürwortung der Appeasement-Politik Chamberlains oder von ihrer Unterstützung des Apartheidregimes in Südafrika gesprochen hätte.
Hier soll die Rede davon sein, warum ich nachhaltige Auslandsberichterstattung über relevante Themen zu guten Sendezeiten für wichtig halte, warum diese unter Druck geraten ist, und wie wir wieder lernen können, bei Auslandsthemen zu staunen oder sogar durchzublicken.
Wenn man die Nachrichtensendungen und -kanäle beobachtet, dann ist das (nicht-europäische) Ausland ein Universum der Probleme: der Krieg, die Katastrophe, die Krise, die Krankheit – die vier Ks der Berichterstattung.
Nahost, Afghanistan, Pakistan, Darfur, Kongo – sie stehen anscheinend für Islamismus, blutige Gewalt, Terrorismus, Völkermord. Aus Lateinamerika hören wir, flüchtig, von Linksruck, Verstaatlichung, Erdbeben und Drogenkriegen. Afrika ist fast synonym für Hungersnöte und AIDS. Und Südost-Asien kann zumindest mit Vogelgrippe und Umwelthorror aufwarten. Diese vier Ks färben also unseren Blick auf die Welt.
Nicht gut. Aber noch düsterer wird es, wenn man genauer anschaut, wer wie viel Information liefert. Ich behaupte, dass man von der wirklichen Welt da draußen nichts mehr mitbekommt oder nur Horrorszenarien im Schnellgang, wenn man nicht sehr gezielt einschaltet.
Ich bin einer Meinung mit Mary Robinson, der einstigen Hochkommissarin für Menschenrechte der Vereinten Nationen. Sie sagte, dass viele Medien auf unverantwortliche Weise Auslandsnachrichten reduzieren, herunterspielen und komplexe Sachverhalte auf ein paar O-Töne zusammenstreichen. Sie sprach von ihrer großen Sorge, dass sehr bald Auslandspolitik in einem Nachrichtenvakuum stattfindet.
Viele Redaktionen prüfen nicht mehr und entziehen der Gesellschaft die Möglichkeit, über wesentliche Entwicklungen urteilen zu können. Das Paradoxe – wir haben dank der Globalisierung immer mehr mit der Welt, mit dem Ausland zu tun, aber die Nachrichten und die Specials helfen nicht immer, diese Welt zu verstehen. Sie liefern Events. Und die kann man ganz gut übersehen und ignorieren. Ausland – das ist störend, gefährlich, kompliziert.
Auslandsberichterstattung sollte aber ein Frühwarnsystem sein, nicht nur vor Kriegen und Katastrophen, sondern auch ökonomische und soziokulturelle Entwicklungen frühzeitig analysieren. Solch ein System nicht zu nutzen, kann sehr teuer werden. Eine ignorante Gesellschaft kann der Demagogie leichter zum Opfer fallen. Denn wenn nationale Interessen angeblich oder wirklich bedroht sind, werden die Bürger – so fürchte ich – auf der Basis von Emotionen und Klischees reagieren, nicht auf der Basis von Wissen.
Man denke nur an die rat- und hilflose Dauerdebatte über Islamisten in Deutschland, wenn – wie vor kurzem – ein Anschlag vereitelt wurde. Mal sind die Verdächtigen hausgemacht, mal ist Al Qaida in Deutschland angekommen, mal von außen importiert. Mal sorgen wir uns, ob frustrierte Globalisierungsverlierer zu Extremisten werden, mal ob es demnächst die Grüne Armee Fraktion frustrierter Bürgerkinder geben wird.
All zu oft prägt auch noch ein Nord-Süd-Gefälle die deutsche Wahrnehmung von Ausland. Überwiegend sind es die Entwicklungsländer, die zu den vier Ks verdammt sind. Diese Länder haben selbst selten die Möglichkeit, um an der globalisierten Informationsindustrie teilzuhaben. Die reiche ARD kann vom Erdbeben in Peru oder vom Attentat gegen Musharraf schnell berichten. Das äthiopische Fernsehen wird sich schwer tun, einen Reporter zur französischen Atlantikküste loszuschicken, um über die umweltzerstörende Politik der Ölmultis beim Untergang der "Erika" zu informieren.
Hinzu kommt eine immer stärkere Beschleunigung. Noch nie sind Kommunikationstechnologien so einfach, so schnell geworden. Satellitenkosten reduzieren sich immer mehr, Internet kommt als billige, schnelle Recherchequelle hinzu. Mobile Übertragungseinheiten ermöglichen es, Realitäten beim Entstehen abzubilden. Moving news ist das Modeschlagwort geworden, der neue Trend. Schnelligkeit ist der Maßstab aller Dinge.
Wir Journalisten müssen aufpassen, nicht zu menschlichen Bausteinen einer Industrieproduktion zu schrumpfen: immer informierter, immer funktionstüchtiger, aber nicht weiser. Ist Selbstgedrehtes, Selbstrecherchiertes allenfalls noch bei der Hintergrundgeschichte willkommen?
Glücklicherweise gibt es noch Ausnahmen, etwa Fernsehfilme, die einen anderen Blick auf das Ausland gestatten: differenziert, kritisch, entschleunigt und mit Sympathie, ohne dabei Solidaritätskitsch zu verbreiten. Das ist nicht selbstverständlich.
Ich sage bewusst "entschleunigt". Denn das ist Voraussetzung für eine Berichterstattung, die das Publikum wieder begreifen lässt. Man muss ihm die Dinge nahe bringen. Die Macher müssen Bodenhaftung haben, sich einlassen können. Das gilt für alle guten Auslandsberichte. Die Reporter müssen Expertise haben, ein Netzwerk an Informanten aufbauen. Sie müssen Autorität haben. Und wissen, was sie eigentlich verbreiten wollen, und nicht nur, wie sie es anstellen.
Ambivalenzen, Grautöne, Widersprüche – sie brauchen Raum. Viel zu oft leidet die Genauigkeit einer Information unter dem Geschwindigkeitsdruck. Fairerweise muss ich darauf hinweisen, dass die neuen Kommunikations-Technologien auch ihre gute Seite haben: Dank ihrer kommen Skandale und Menschenrechtsverletzungen ans Licht, beispielsweise in Birma oder Abu Ghraib, und bei Katastrophen wie dem Tsunami wird die Hilfsmaschinerie schneller angeworfen.
Doch wie viel kann Auslandsberichterstattung überhaupt bewirken? Unsere Gesellschaft ist zunehmend mit sich selbst befasst. Sichtbar wurden afrikanische Bootsflüchtlinge erst, als sie nicht irgendwo, sondern an unseren Stränden antrieben. Aber das Andere verstört. Das Andere verursacht Probleme auch vor der eigenen Haustür. Es ist Konkurrenz um Arbeitsplätze und Wohnungen, es kostet unsere Steuern. Es löst Angst um "Überfremdung" aus und unsägliche Diskussionen um Leitkultur und Integration. Den Anderen wird zunehmend ihr Anderssein übelgenommen – das ist die psychologische Wurzel von Fremdenfeindlichkeit und Rassismus.
Und die Medien? Je weniger wir das Andere zeigen, um so leichter machen wir es den rechtsextremen Verführern. Bei ihnen herrscht ein homogenes Menschenbild vor, Einheit und Gleichheit sind wichtige Werte, Anderssein, Individualität lösen Aggressionen aus. Was also tun?
Meine schlichte Antwort als langjährige "Berufsausländerin" lautet: Wenn Unterschiede diffus würden, wenn wir zeigten, wie ähnlich fremde Menschen uns sind und davon entkrampfter und häufig berichteten, dann würde es den Engstirnigen und Kleinherzigen in diesem Land schwerer fallen, sich von Ausländern abzugrenzen. Eine gute, nachhaltige Auslandsberichterstattung trägt zur politischen Hygiene bei.
Darum können und müssen die Zuschauer, die Macher, die Entscheidungsträger Kontinuität und Gründlichkeit verlangen. Denn zu oft fehlt das Nachhaken: Wie geht es weiter, nachdem die meisten Kameras aus dem Kongo wieder abgezogen sind? Geht es den Menschen in Ost-Timor heute, nach dem Bürgerkrieg und der Erlangung der Unabhängigkeit, gut, leben sie sicher? Was ist mit den Menschen in Indien passiert, die so eindrucksvoll gegen Mega-Staudammprojekte protestierten?
In Meinungsumfragen zeigt sich, dass Armut, Arbeitsplatzsicherheit, Gerechtigkeit die Hauptthemen sind, welche die Menschen hierzulande beschäftigen. Und dennoch scheint es – und das empört mich manchmal – Programmplanern schwer zu fallen, sich für Armut und Ungerechtigkeit anderswo zu interessieren. So lassen sich Journalisten von Auflagen- und Quotenpredigern erschrecken, denn man will nicht muffig und ältlich wirken, oh nein. Wir entwickeln Komplexe, wenn wir über Solidarität mit der Dritten Welt sprechen, als hätten wir eine peinliche Alterskrankheit. Gewiss, man findet sie, die Hochglanzprodukte der öffentlich-rechtlichen Sender, aber nicht oft genug zur Hauptsendezeit. Dafür würde ich mich gern einsetzen, ohne erhobenen Zeigefinger. Nach meinem Gefühl drücken sich Hintergrundberichte viel zu oft schamhaft zur späten Nachtzeit herum, meistens im Dritten. Oder sie finden Asyl bei ARTE, Phoenix und 3sat.
Besteht also die Gefahr, dass die Qualität in der Fülle des Angebots untergeht? Es gibt immer mehr Fernsehen, und die Digitalisierung wird unzählige Optionen dazu häufen. Immer mehr, überall, jederzeit abrufbar. Das aber wird die Bedeutung des Mediums insgesamt schmälern.
Ich bin jedoch keineswegs pessimistisch und sehe sogar die Chance dabei: Qualität wird nun erst recht auffallen. In dieser Inflation des Belanglosen werden Zuschauer sich an die Goldnuggets halten. Eine gute Auslandsberichterstattung gehört zu diesen Goldnuggets. Und die Sender, die diese Arbeit garantieren, werden gebraucht. Denn in der Flut von Banalitäten, Zerstreuungs- und Angstthemen haben sie das Potential, Erstaunliches, Relevantes, Kritisches zu liefern. Wir werden immer klarer wissen, welches Fernsehen es sein soll und wohin es gehen soll. Hintergrund statt Oberfläche.
aus: der überblick 04/2007, Seite 6
AUTOR(EN):
Sonia Mikich
Sonia Mikich leitet die Redaktion des politischen ARD-Fernsehmagazins "Monitor". Sie war 1992 bis 1998 ARD-Korrespondentin und ab 1995 Studioleiterin in Moskau, von 1998 bis 2002 dann des ARD-Studios in Paris.