Wie sich die Europäischen Kirchen zu den weltweiten Globalisierungsprozessen positionieren
Auf seiner 9. Vollversammlung stellt sich der Ökumenische Rat der Kirchen (ÖRK) im Frühjahr nächsten Jahres erneut den Fragen um Globalisierung und eine gerechte Wirtschaftspolitik. Wenn die Delegierten unter dem Motto »In Deiner Gnade, Gott, verwandle die Welt!« vom 14. bis 23. Februar 2006 in Porto Alegre, Brasilien, zusammenkommen, greifen sie auf eine umfassende Diskussion in den Europäischen Mitgliedskirchen und Kirchenbünden zurück.
von Ulrich Möller
Es geht nicht um Kleinigkeiten, sondern um die Frage »Wie leben wir unseren Glauben im Kontext der Globalisierung?« Bereits auf der 8. Vollversammlung des ÖRK in Harare 1998 (vergl. »der überblick« 1/99) stand diese im Zentrum der Diskussionen. Damit verband der Rat zugleich den Aufruf an alle Christen und Kirchen, »über die Herausforderung der Globalisierung aus der Perspektive des Glaubens« nachzudenken und deshalb »Widerstand gegen die einseitige Dominanz wirtschaftlicher und kultureller Globalisierung « zu leisten. Gleichzeitig drang der ÖRK in seinem offiziellen Bericht darauf, »Alternativen im gegenwärtigen Wirtschaftssystem « zu suchen und wirksame politische Beschränkungen und Korrekturen im Globalisierungsprozess anzustreben.
AGAPE heißt der Prozess, den der ÖRK in der Folgezeit angestoßen hat. Zusammen mit dem Lutherischen Weltbund (LWB) und dem Reformierten Weltbund (RWB) brachte der ÖRK einen weltweiten Konsultationsprozess in Gang. Die kontinentalen ökumenischen Kirchenräte in Europa die Konferenz Europäischer Kirchen (KEK) wurden dabei in unterschiedlicher Weise mit einbezogen. AGAPE, das griechische Wort für Liebe, steht dabei für eine »Alternative Globalisierung im Dienst der Menschen und der Erde«.
In diesen Prozess einer alternativen Globalisierung reiht sich auch der so genannte »Agape-Aufruf« der 9. Vollversammlung ein: »In deiner Gnade, Gott, verwandle die Welt«. Dieses gemeinsame Gebet bezieht sich auf das Bekenntnis von Schuld und Versagen sowie die Bitte um Kraft zur persönlichen Verwandlung und um die Befähigung zur Arbeit für Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung. Das einende Gebet ruft zum Handeln auf: »Der AGAPEAufruf lädt uns ein, gemeinsam zu handeln für die Transformation wirtschaftlicher Ungerechtigkeit und fortzufahren, die Herausforderungen wirtschaftlicher Globalisierung und den Zusammenhang von Reichtum und Armut zu analysieren und zu reflektieren.«
Hinsichtlich des Tagungsortes fiel die Wahl auf Porto Alegre. Damit stellt sich der ÖRK in die Tradition des Weltsozialforums und dessen Vision »Eine andere Welt ist möglich«. Aus Sicht des ÖRK steht die Entscheidung für Porto Alegre programmatisch für die gemeinsame Herausforderung aller Mitgliedskirchen: »In den sieben Jahren seit der Vollversammlung in Harare haben Armut, Ungleichheit und Umweltzerstörung in der Welt weiter zugenommen. Trotz der Verurteilung durch die internationale Gemeinschaft hält die wirtschaftliche Ungerechtigkeit an. Wie können die Kirchen von der Verurteilung zur Ausarbeitung von Alternativen zu dem ungerechten Wirtschaftssystem übergehen?«
Als wichtigste Positionspapiere in der bisherigen ökumenischen Diskussion gelten das AGAPE-Hintergrunddokument des ÖRK für die 9. Vollversammlung in Porto Alegre und die Beschlüsse der RWB-Generalversammlung von Accra 2004. So ruft das AGAPE- Papier die Kirchen dazu auf, »verwandelnde Gemeinschaften« zu werden »für eine Wirtschaft im Dienst des Lebens«. Als Merkmale solch einer Wirtschaft im Dienst des Lebens nennt das Papier Gottes großzügige, gnädige Liebe, seine verwandelnde Gerechtigkeit, seine Agape-Mahlgemeinschaft für alle, sowie Solidarität, Menschenwürde, Partizipation, die Bewahrung der Schöpfung und die vorrangige Option für die Armen. Als Gegensatz dazu wird das heute vorherrschende Wirtschaftssystem beschrieben: Die Ideologie des Neoliberalismus treibe den globalen Kapitalismus voran. Seit Anfang der achtziger Jahre zum Mainstream des Washington Consensus der multilateralen Institutionen und vieler Regierungen geworden, setze diese Ideologie auf Deregulierung, Liberalisierung und Privatisierung. Dahinter verberge sich die Überzeugung, dass Märkte grundsätzlich effizienter seien als der Staat und die Integration in den Weltmarkt letztlich allen zugute komme. Das AGAPE-Dokument sieht die Kirchen daher doppelt herausgefordert: Erstens zum Widerstand in der Auseinandersetzung mit lebensbedrohender Machtkonzentration im Globalisierungsprozess, die sich in der »Konvergenz zwischen imperialen Mächten, militärischer Hegemonie und wirtschaftlicher Vorherrschaft« zeige, sowie zweitens zur Entwicklung lebensfähiger gerechter Gemeinschaften und Alternativen auf den Handlungsfeldern gerechter Handel und gerechte Finanzsysteme, ökologische Gerechtigkeit, menschenwürdige Arbeitsplätze und nachhaltige Landwirtschaft.
Diese Sichtweise findet sich auch in den Beschlüssen, die der Reformierte Weltbund in Accra getroffen hat. Der RWB, hatte bereits 1997 »zu einem verbindlichen Prozess der wachsenden Erkenntnis, der Aufklärung und des Bekennens (processus confessionis) mit allen RWB-Mitgliedskirchen und auf allen Ebenen bezüglich wirtschaftlicher Ungerechtigkeit und Naturzerstörung « aufgerufen. Der RWB forderte, »auf die Formulierung eines Glaubensbekenntnisses hinzuarbeiten, das Gerechtigkeit für den ganzen Haushalt Gottes ausdrückt, den Vorrang der Armen widerspiegelt und eine ökologisch nachhaltige Zukunft unterstützt.«
Im Jahr 2004 beantwortete die Generalversammlung des RWB in Accra diesen Aufruf mit dem nahezu einstimmig verabschiedeten Bund für wirtschaftliche und ökologische Gerechtigkeit. Die Analyse kommt zu dem Schluss: »Durch die Sichtweise der Machtlosen und Leidenden ... sehen wir, dass die gegenwärtige Welt-(Un-)Ordnung auf einem außerordentlich komplexen und unmoralischen Wirtschaftssystem beruht, das von einem Imperium verteidigt wird. Unter dem Begriff 'Imperium' verstehen wir die Konzentration wirtschaftlicher, kultureller, politischer und militärischer Macht zu einem Herrschaftssystem unter der Führung mächtiger Nationen, die ihre eigenen Interessen schützen und verteidigen wollen.« Widerstand gegen den gegenwärtigen Integrationsprozess von neoliberaler wirtschaftlicher Globalisierung und Geopolitik sei geboten, da dieser die Interessen der Mächtigen auf Kosten der Armen schützte sowie für Ungerechtigkeit und für vermeidbares menschliches Leid verantwortlich sei. Die Generalversammlung bekräftigt daher einmütig: »Wir glauben, dass die Integrität unseres Glaubens auf dem Spiel steht, wenn wir uns gegenüber dem heute geltenden System der neoliberalen wirtschaftlichen Globalisierung ausschweigen oder untätig verhalten. Darum bekennen wir vor Gott und einander.«
In Anlehnung an die Barmer Theologische Erklärung aus dem Jahr 1934 und an das Bekenntnis von Belhar (1986) wird das Bekenntnis des Glaubens von Accra in 22 Paragraphen (§§ 15-36) mit positiven Glaubensaussagen formuliert, denen jeweils Zurückweisungen des Negativen entsprechen. Gott als Schöpfer und Erhalter allen Lebens, als Gott der Gerechtigkeit, rufe die Kirchen dazu auf, sich an die Seite der Opfer der Ungerechtigkeit zu stellen: »Darum sagen wir nein zur gegenwärtigen Weltwirtschaftsordnung, wie sie uns vom globalen neoliberalen Kapitalismus aufgezwungen wird. Nein aber auch zu allen anderen Wirtschaftssystemen einschließlich der Modelle absoluter Planwirtschaft , die Gottes Bund verachten, indem sie die Notleidenden, die Schwächeren und die Schöpfung in ihrer Ganzheit der Fülle des Lebens berauben. Wir weisen jeden Anspruch auf ein wirtschaftliches, politisches und militärisches Imperium zurück, das Gottes Herrschaft über das Leben umzustürzen versucht und dessen Handeln in Widerspruch zu Gottes gerechter Herrschaft steht.«
Dieses Bekenntnis mündet im abschließenden Bundesschluss für Gerechtigkeit in die Selbstverpflichtung zum Handeln an Kirchen, Regierungen, Privatsektor und Organisationen zu wirtschaftlicher Gerechtigkeit und ökologischen Fragen. Im Einklang mit den Ansätzen von ÖRK und LWB liegt der Schwerpunkt des Bundesschlusses auf einer neuen Praxis im gemeinsamen Zeugnis der Kirchen für Gerechtigkeit.
In der europäischen Diskussion sind darüber hinaus vor allem die Diskussionsbeiträge von KEK, Schweizerischem Evangelische Kirchenbund (SEK) und der EKDKammer für Nachhaltige Entwicklung für die Vollversammlung in Porto Alegre von Bedeutung. Der KEK-Zentralausschuss verabschiedete am 21. Oktober 2005 ein Dokument mit dem Titel »European churches living their faith in the context of globalisation. A European contribution to the preparatory process for the WCC Assembly in Porto Alegre 'God in your Grace, Transform the World'«. Auf dem Hintergrund spezifisch europäischer Erfahrungen tritt die KEK für eine sozial und ökologisch regulierte Marktwirtschaft ein. Sie stellt hinsichtlich des AGAPE-Prozesses und des AGAPE-Hintergrunddokumentes zentrale ökumenische Übereinstimmungen fest: Das herrschende wirtschaftliche System sei weder gerecht noch nachhaltig. Die radikale Marktideologie des Neoliberalismus erzeuge Ungerechtigkeit, Ungleichheit, ökologische Zerstörung, Ausschluss und die Marginalisierung der Schwachen und Armen, eine Kultur der Beherrschung und des Wettbewerbs nicht nur im Bereich der Wirtschaft sondern in allen Lebensbereichen. Die Kirchen müssten sich öffentlich für Veränderungen und Transformation einsetzen, weil ihre Glaubwürdigkeit in pastoraler Praxis, Theologie und Ethik, Glaubensleben, ökumenischer Zusammenarbeit und diakonischem Dienst auf dem Spiel stehe.
Zugleich weist die KEK darauf hin, dass es sehr verschiedene Erfahrungen mit unterschiedlichen politischen und wirtschaftlichen Systemen gibt. »Während einige das herrschende wirtschaftliche System fundamental zurückweisen und nach vollständig anderen Alternativen suchen, setzen sich andere wie die meisten Kirchen in Europa ein für transformierende Reformen des gegenwärtigen Systems auf der Grundlage christlicher Grundsätze und Ethik. Es gibt jedoch keinen Grund, warum nicht beide Argumentationslinien und Aktionen als berechtigt angesehen werden könnten; die Suche nach Alternativen und Reform schließen sich nicht gegenseitig aus. Es gibt ein gemeinsames Engagement, die globalen wirtschaftlichen und politischen Probleme im Lichte des Evangeliums anzugehen und unseren Glauben im Kontext der Globalisierung zu leben.«
Die westeuropäische Erfahrung mit Systemen sozialer Marktwirtschaft habe gezeigt, dass Armut, soziale Ungerechtigkeit und Ungleichheit in Europa weitestgehend dadurch überwunden wurden, dass Gesetze und Ordnungen die Marktwirtschaften hin zu sozialer Solidarität und Gerechtigkeit ausglichen. Zentralund osteuropäische Erfahrungen mit kollektiviertem Besitz und verstaatlichter Wirtschaft habe sichtbar gemacht, dass staatlich kontrollierte Wirtschaften nicht nur wirtschaftliche Knappheit, Ineffektivität und ökologischer Zerstörung erzeugt, sondern in der Tendenz zum Totalitarismus auch die Menschenrechte, politische Freiheit, Menschenwürde und Demokratie untergraben hätten.
Auf diesem Erfahrungshintergrund betont die KEK, »dass es nicht das marktwirtschaftliche System als solches und seine zu Grunde liegende Ideologie, welche die individuelle Freiheit betont, ist, die zurückgewiesen und durch ein radikal anderes wirtschaftliches System ersetzt werden muss. Unsere Erfahrung führt uns dazu, den Wert der Freiheit zu unterstreichen, der begleitet werden muss von sozialer Gerechtigkeit, Bewahrung der Schöpfung und durch Solidarität ausbalanciert werden muss.« Konsequent setzt sich die KEK dafür ein, dass die Vision einer sozial und ökologisch gestalteten Marktwirtschaft durch die Europäische Union in Verantwortung gegenüber dem Süden regional wie global umgesetzt wird. Denn: »Solidarität und soziale Kohärenz kann nur gesichert werden durch eine demokratische Balance der verschiedenen Interessen, durch Institutionen und Gesetze, multilaterale Vereinbarungen und Regulierungen auf globaler Ebene«.
Im Herbst 2005 hat der SEK ein differenziertes Basis-Dokument zu Christlichen Perspektiven für eine menschengerechte Globalisierung veröffentlicht. Der programmatische Titel Globalance steht für eine angestrebte globale Werte-Balance. Das Positionspapier des SEK will im Blick auf die ÖRK-Vollversammlung 2006 Positionen und Konfliktfelder der Globalisierung klären und zur ethischen Orientierung an Grundwerten verhelfen, an denen die Globalisierung zu messen ist. Der SEK benennt differenzierte Handlungsperspektiven zur verantwortlichen Gestaltung der Globalisierung. Ein tragfähiges System zur Lösung der Herausforderungen wird auch hier in einer sozial und ökologisch regulierten Marktwirtschaft gesehen.
Im Blick auf den im Schlussdokument von Accra verwendeten und im AGAPE-Dokument aufgenommenen Begriff »Imperium « gibt der SEK zu bedenken: »Kirchliche Wachsamkeit und wo nötig Widerstand gegenüber Besorgnis erregenden Machtkonzentrationen trägt dazu bei, die demokratischen Strukturen einer Gesellschaft und ein funktionierendes Marktsystem zu erhalten. Bevor allerdings diese Auseinandersetzung vorschnell mit Metaphern aus der biblischen Apokalyptik und mit Verweis auf den Widerstand gegen das römische Imperium in der Offenbarung theologisch aufgeladen wird, ist zu prüfen, ob die weltweit auch in der politischen Ethik geführte Debatte um Global Governance und Weltordnungspolitik durch seine Differenziertheit nicht fruchtbarer ist als die Konzentration auf dem Begriff des Imperiums.«
Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) und ihre Gliedkirchen haben sich auf unterschiedliche Weise intensiv am ökumenischen Diskussionsprozess zur Globalisierung beteiligt. Zur ÖRK-Vollversammlung in Porto Alegre hat die Kammer der EKD für nachhaltige Entwicklung das Positionspapier »Wirtschaft im Dienst des Lebens. Christliche Perspektiven einer menschen-und umweltgerechten Entwicklung im Zeichen der Globalisierung« erarbeitet. Im Dezember 2005 wird der Text dem Rat der EKD zur Beschlussfassung vorgelegt. Auch hier werden grundlegende Gemeinsamkeiten der Kirche im AGAPE-Prozess gesehen: Die Frage »Wie leben wir unseren Glauben im Kontext der Globalisierung?« verbinde die weltweite Gemeinschaft von Kirchen über alle Unterschiede hinweg zum gemeinsamen Handeln. Der gegenwärtige Prozess der Globalisierung sei so zu gestalten, dass die Wirtschaft im Dienst des Lebens steht. Mit dem AGAPE-Aufruf wird betont: Weil Christus der Herr der ganzen Welt und ihrer Mächte ist, sind alle Bereiche des Lebens vor ihm zu verantworten, auch das wirtschaftliche Handeln. Deshalb habe die Kirche heute angesichts wirtschaftlicher Ungerechtigkeit in Wort und Tat zu bezeugen: Gottes Vision für ein gerechtes Wirtschaften widerspricht dem wirtschaftlichen Handeln, das Menschen von den für ein menschenwürdiges Leben erforderlichen Ressourcen, Gütern, Dienstleistungen und Partizipationsrechten ausschließt, das auf Kosten der Armen, künftiger Generationen und um den Preis der Übernutzung und Zerstörung der Natur einem nicht zukunftsfähigen Lebensstil einer Minderheit der Menschheit Priorität gibt. Die mit der wirtschaftlichen Globalisierung einhergehenden Ungerechtigkeiten sind zu benennen und zu überwinden.
Die EKD-Kammer richtet kritische Fragen auch an die im AGAPE-Dokument aufgenommene Sichtweise der RWB-Beschlüsse von Accra unter dem Begriff »Imperium «. Sie teilt nicht die Auffassung, dass das herrschende neoliberale Wirtschaftssystem ein von imperialen Mächten gesteuertes, ideologisch gestütztes und machtpolitisch durchgesetztes unethisches System sei, das durch Reformen nicht transformierbar sei und deshalb grundsätzlich abgelehnt und durch ein anderes System (»De-Globalisierung «) ersetzt werden müsse. Auf dem Hintergrund deutscher und europäischer Erfahrungen mit dem Wirtschaftsmodell der Sozialen Marktwirtschaft, sieht die EKD-Kammer gemeinsam mit der KEK und dem SEK die Chance, Globalisierung menschen- und umweltgerecht zu gestalten. Eine alternative Weltwirtschaftsordnung, welche die globale Versorgungsaufgaben lösen könnte, sei nirgends in Sicht.
Der Vergleich der drei europäischen Stellungnahmen mit den Dokumenten des RWB und des ÖRK zeigt: Die RWB/ÖRKPositionspapiere sind bestimmt durch die Perspektive der unter Ausschluss und Ungerechtigkeit Leidenden, insbesondere in den Ländern des Südens. Sie fordern zu Recht das eindeutige Zeugnis der Kirchen an der Seite der Armen ein. Sie klagen in prophetischer Sprache die Mächtigen und Nutznießer vorhandener Unrechtsstrukturen an. Sie geben den Verlierern der Globalisierung ihre Stimme und versuchen deren Gemeinschaften so zu stärken, dass sie selbst im Widerstand gegen Unrecht Perspektiven für eine gerechte und nachhaltige Globalisierung entwickeln können. Denn: Wenn ein Glied des Leibes Christi leidet, leiden alle Glieder mit.
Eine Verständigung in Porto Alegre wird deshalb nur möglich sein, wenn die Kirchen des Nordens sensibel und glaubwürdig reagieren. Nur dann können die differenzierenden Perspektiven der verschiedenen Positionspapiere konstruktiv zum Tragen gebracht werden. Denn die Situation der Kirchen, etwa in den Volkskirchen in der Schweiz oder in Deutschland, unterscheidet sich grundlegend von denen der Kirchen des Südens. Die Stellungnahme der EKDKammer spricht dies ausdrücklich an: Sie ist sich der privilegierten Position der Christen in Deutschland und Westeuropa mit ihren Möglichkeiten, die soziale Marktwirtschaft mit zu gestalten, bewusst. Sie versteht auch, dass den Menschen, die vom globalen Markt ausgeschlossen werden oder deren Existenz durch die Globalisierung gefährdet wird, die Sichtweise des Nordens fremd erscheinen mag. Gleichwohl wirbt sie mit Überzeugung um die Erarbeitung gesellschaftspolitischer Handlungsperspektiven für eine menschen- und umweltgerechte Gestaltung der Globalisierung. Sie führt aus, wie im Rahmen einer Weltordnungspolitik, die sich am Leitbild einer nachhaltigen Entwicklung orientiert und von nationalen Regierungen und multilateralen Organisationen umgesetzt wird, Globalisierung politisch zu gestalten sei.
Schon während der RWB-Generalversammlung trat offen zu Tage, dass in der weltweiten Gemeinschaft der Kirchen durchaus nicht in allen Punkten der wirtschaftlichen und politischen Analyse Übereinstimmung bestand. Schon dort war insbesondere umstritten, ob die Zuspitzung auf den Widerstand gegen das »Imperium« analytisch weiterführend und theologisch angemessen sei. Die erläuternden Formulierungen des Dokumentes signalisieren, wie weit im Blick auf eine Grund-Solidarität entsprechende Aussagen von der Generalversammlung insgesamt getragen werden konnten. So bekundet etwa Seong-Wong Park von der Weltallianz der Reformierten Kirchen: »In Accra zeigte sich in der Einheit des Bekennens eine Solidarität mit der Gerechtigkeit, obgleich es keinen vollständigen Konsens bei der Analyse der Situation gab«. Ähnliches wird auch für den AGAPE-Prozess in seiner entscheidenden Phase in Porto Alegre gelten. Nur auf der Basis einer unzweideutigen »Solidarität mit der Gerechtigkeit« kann es zu einem verbindlichen, einenden und doch differenzierten ökumenischen Zeugnis kommen.
»Wie können die Kirchen von der Verurteilung zur Ausarbeitung von Alternativen zu dem ungerechten Wirtschaftssystem übergehen?« lautet die Ausgangsfrage des ÖRK für Porto Alegre. Der AGAPE-Aufruf nennt folgende acht Aufgabenfelder: Armutsbekämpfung, Handel, Finanzen, nachhaltige Nutzung von Land und natürlichen Ressourcen, Öffentliche Güter und Dienstleistungen, Landwirtschaft, Arbeitsplätze, Arbeitsrechte und gerechte Entlohnung, Kirchen und die Macht des Imperiums.
Die ersten sieben Felder eröffnen ein hohes Maß an Übereinstimmung in gemeinsamen Zielen, gemeinsamen und einander ergänzenden Strategien und Aktionen zwischen den Positionen von ÖRK, RWB und den europäischen Positionspapieren. Dies gilt insbesondere für Zielvorgaben und Forderungen im Blick auf Welthandel und internationale Abkommen, Finanzinstitutionen, Finanzmärkte, die Überwindung der Schuldenkrise der Entwicklungs- und Schwellenländer, Anforderungen an Gestaltungsmöglichkeiten auf europäischer Ebene, Mitverantwortung von Unternehmen, den Aufbau tragfähiger regionaler Wirtschaftsstrukturen sowie Korruptionsbekämpfung auf allen Ebenen. Ebenso eingeschlossen ist die Selbstverpflichtung zu kirchlichem Handeln. Der AGAPE-Aufruf kann eine große integrative Kraft für ein gemeinsames verbindliches ökumenische Zeugnis der Kirchen entfalten. Das hängt aber nicht zuletzt davon ab, wie es gelingt, von unterschiedlichen kontextuellen, analytischen und theologischen Perspektiven und Ansätzen aus vorhandene Gemeinsamkeiten in den Mittelpunkt zu stellen und sich auf einen konstruktiven Umgang mit den unübersehbaren Differenzen zu verständigen.
aus: der überblick 04/2005, Seite 69
AUTOR(EN):
Ulrich Möller
Oberkirchenrat Dr. Ulrich Möller ist Landespfarrer für Ökumene und gehört zur Kirchenleitung der evangelischen Kirche von Westfalen.