Die Versöhnungsarbeit der Kirche ist wichtig, aber ihr Einfluss begrenzt
In Kolumbien führen sowohl die Guerilla als auch paramilitärische Gruppen und staatliche Sicherheitskräfte einen Krieg auf dem Rücken der Bevölkerung. Ein Ende der Gewalt ist nicht abzusehen, zumal Friedensverhandlungen mit der größten Guerillagruppe Anfang 2002 gescheitert sind und der neue Präsident Uribe eine Politik der harten Hand verfolgt. Den Kirchen fallen damit schwierige Aufgaben zu: vermitteln, versöhnen, die Opfer begleiten, Verteidiger der Menschenrechte unterstützen.
von Astrid Prange
Das Mahnmal löst Schrecken und Schauder aus. "Am 2. Mai 2002 hat die Guerilla hier 119 Menschen ermordet. Das werden wir nie vergessen", steht auf dem Plakat am Bootssteg. Es herrscht Friedhofsruhe in Bellavista. Unter der gleißenden Äquatorsonne patrouillieren Soldaten zwischen Pfahlbauten und Wasserlachen. Stoisch halten sie das Maschinengewehr im Anschlag. In der Kirche erinnern eine Replik aus leeren Patronenhülsen und die hölzernen Überreste des gekreuzigten Heilands an die Nacht des Grauens.
Die Tragödie von Bojayá ist ein Symbol für die Eskalation der Gewalt im kolumbianischen Bürgerkrieg, der im vergangenen Jahr über 10.000 Opfer in der Zivilbevölkerung forderte. Eigentlich sollte der handgemachte, mit Sprengstoff und Splittern gefüllte Gaszylinder, den die Guerilla an jenem 2. Mai abfeuerte, die rund 400 Kämpfer der paramilitärischen Verbände treffen, die sich hinter den Kirchenmauern verschanzt hatten. Doch die Reichweite war kürzer als kalkuliert. Das Geschoss stürzte über dem Dach der Kirche ab, wo rund 300 Menschen Schutz vor der drohenden Auseinandersetzung gesucht hatten.
Mit ihrer Versöhnungsarbeit hat sich die Kirche mitten in den kolumbianischen Bürgerkrieg hineinkatapultiert. Im Mai dieses Jahres kam es auf Initiative von Misereor-Geschäftsführer Josef Sayer erstmals zu einer ökumenischen Geste internationaler Solidarität: Bischöfe aus Amerika und Europa, Vertreter des päpstlichen Rates Cor Unum und Misereors sowie des Evangelischen Entwicklungsdienstes (EED) erinnerten ein Jahr nach der Tragödie von Bojayá in der Kirche von Bellavista an die Toten. Zuvor hatte die hochrangige Delegation in der Hauptstadt Bogotá in einem Treffen mit Kolumbiens Staatspräsident Alvaro Uribe die Möglichkeiten kirchlicher Versöhnungsarbeit ausgelotet und grünes Licht für Verhandlungen mit der Guerilla bekommen.
Anfang Oktober trafen daraufhin Mitglieder der kolumbianischen Bischofskonferenz mit Kämpfern der Guerillagruppe FARC (Fuerzas Armadas Revolucionarias de Columbia, Revolutionäre Streitkräfte Kolumbiens) zusammen. Es war das erste Treffen über humanitäre Fragen seit dem Abbruch der offiziellen Friedensprozesses im Februar 2002 (noch unter Uribes Amtsvorgänger Pastrana). Doch es ging um mehr als die Haftbedingungen für die Geiseln in der Gewalt der Guerilla: Die FARC fordert die Freilassung aller 300 gefangenen Guerilleros und will dafür 20 von ihnen entführte Politiker sowie 40 Polizisten, Soldaten und Touristen freilassen. Insgesamt befinden sich 800 Geiseln in ihrer Gewalt.
Die Kirche gilt als letzte Hoffnung für eine friedliche Lösung in dem über 40 Jahre währenden Bürgerkrieg zwischen Militär, Guerilla, Drogenmafia und paramilitärischen Verbänden. Diese sogenannten Paras verstehen sich als Ersatz für staatliche Ordnungshüter, sind aber im Verlaufe des Bürgerkrieges zu Verbrechersyndikaten mutiert. Menschenrechtsgruppen werfen der Regierung von Staatschef Uribe politische Nähe zu den Paras und Nachsicht ihnen gegenüber vor.
Nach Angaben der Kommission kolumbianischer Juristen summierte sich die Zahl der Gewaltopfer allein zwischen Juli 2001 und Juni 2002 auf 10.157. Zu den gängigen Vergehen gehören Morde, außergerichtliche Hinrichtungen und Entführungen. Während die Guerilla für 59 Prozent der Entführungen verantwortlich ist, gehen über 40 Prozent aller Morde und Hinrichtungen auf das Konto der Paramilitärs. Insgesamt forderte der kolumbianische Bürgerkrieg in den vergangenen 40 Jahren mehr als 200.000 Todesopfer.
"Wir dürfen nicht weggehen, und wenn es auch nur für die Lesung der Totenmesse ist", erklärt Gregorio Rosa Chavez, der Weihbischof von San Salvador. Aus seiner Erfahrung in den Bürgerkriegen von Salvador und Guatemala weiß Chavez, dass allein die Anwesenheit von Landpriestern und Ordensschwestern sowie deren internationale Rückendeckung Menschenleben in den von bewaffneten Gruppen beherrschten Gebieten retten kann. Und noch eine entscheidende Lehre hat der Weggefährte des ermordeten Erzbischofs von El Salvador, Oscar Romero, aus den mittelamerikanischen Bürgerkriegen gezogen: "Die Kirche muss mit einer Stimme sprechen, sonst werden die Bischöfe in der Öffentlichkeit gegeneinander ausgespielt." Um Folter, Mord und Menschenrechtsverletzungen anprangern zu können, bräuchte die kolumbianische Bischofskonferenz ein eigenes Informationssystem und eine Pastoral für Öffentlichkeitsarbeit.
Auch Geistliche werden von den Gräueltaten nicht mehr verschont. So wurde am 19. September 2001 vor dem Eingang der Kirche "Nuestra Senhora de la Merced" in der Diözese Tumaco die katholische Ordensschwester Yolanda Cerón Delgado ermordet. Die 43-jährige hatte sich in dem umkämpften Gebiet um die vertriebene Landbevölkerung gekümmert. Ein Jahr später, im November 2002, entführte die Guerilla den Präsidenten der lateinamerikanischen Bischofskonferenz, Jorge Enrique Jiménez, der wenig später wieder freigelassen wurde. Auch mehrere protestantische Pfarrer sind dieses Jahr umgebracht worden. Etwa drei Viertel der Kolumbianer sind Katholiken, rund 14 Prozent gehört protestantischen Kirchen an.
"Wir können jetzt niemanden mehr vertrauen", erklärt eine katholische Ordensschwester aus Quibdo, Hauptstadt des Department Chocó. Früher hätte die Guerilla sie "geschützt", heute fürchtet sie um ihr eigenes Leben. "Die Menschen sehen Leichen den Fluss hinuntertreiben, einen Toten hier, einen Toten da", sagt die Ordensschwester, die ihren Namen aus Sicherheitsgründen nicht nennen möchte. In den Koka-Anbaugebieten interessiere man sich weder für Statistiken noch für Friedensverhandlungen.
Die Sprüheinsätze der kolumbianischen Armee zur Zerstörung der Koka-Plantagen mit Pflanzengift verschärfen die Lage zusätzlich, weil sie die Lebensgrundlagen tausender Kleinbauern vernichten. Die wachsende Armut auf dem Land wiederum nährt den Bürgerkrieg. Statt Kokasträucher anzubauen, müssen sich viele Bauern als Kämpfer für Guerilla oder Paramilitärs verdingen. In seinem groß angelegten Feldzug gegen die rund 30.000 illegal bewaffneten Kämpfer beschloss Staatschef Uribe deshalb den Aufbau einer ebenso starken Bauernmiliz.
Die Militarisierung der Gesellschaft ist in vollem Gange. "Die Armee kam vor drei Monaten", erzählt die katholische Ordensschwester aus Quibdo. "Sie haben den Bauern 140 Dollar Monatslohn versprochen und erklärt, dass sie die Regierung verteidigen müssen. In Wirklichkeit bekommen sie nur 15 Dollar, wenn überhaupt, und müssen ihre Waffen abends wieder abgeben." Die Guerilla reagierte mit Zwangsrekrutierungen: "Die FARC haben gesagt, jetzt müsst ihr für uns kämpfen, ihr müsst mit uns das Militär angreifen", berichtet die Schwester. Die Instrumentalisierung der Zivilbevölkerung treibe viele Familien in die Flucht, sie gingen still und heimlich aus dem Konfliktgebiet heraus, auch wenn sie dabei ihr Grundstück verlören.
Kolumbiens nationaler Ombudsman, der im Auftrag des Staates über die Verteidigung und Einhaltung der Menschenrechte wacht, sieht in der Bauernmiliz eine Strategie zur Legalisierung der über 10.000 Mitglieder starken paramilitärischer Verbände zumal die neue Regierung Uribe seit Anfang des Jahres mit den Paramilitärs verhandelt und sie damit als anerkannte politische Kraft behandelt. "Wir sind besorgt, dass die Verhandlungen der Regierung dazu führen, Paramilitärs zu Informanten zu machen oder als Soldaten für die reguläre Armee zu rekrutieren", meint Eduardo Cifuentes. In einem Land wie Kolumbien, wo der Staat schon jetzt seine Gewalt missbrauche, seien diese Vorhaben sehr gefährlich.
Knapp drei Millionen Menschen sind in Kolumbien aus Angst um ihr Leben auf der Flucht. "Im jetzigen Stadium des Bürgerkriegs spielt die Bevölkerung keine Rolle mehr", erklärt Jaime Nieto, Soziologieprofessor an der kolumbianischen Nationaluniversität in Bogotá. Kleinbauern und Indianer würden von Guerilla und Paramilitärs vertrieben und durch Sympathisanten der bewaffneten Gruppen ersetzt. "Das Kriegsziel hat sich verändert", so Nieto. "Früher ging es um eine gerechtere Landverteilung, heute geht es um die Kontrolle bestimmter Territorien." Die fatale Mischung aus staatlicher Ohnmacht, mächtigen Drogenkartellen und rivalisierenden bewaffneten Gruppen habe dazu geführt, dass die Grenzen zwischen normalen und politischen Verbrechen immer fließender würden.
Ist kirchliche Versöhnungsarbeit in einem solchen Umfeld überhaupt möglich? "Wenn von einer scheinbar ausweglosen Situation viele profitieren, müssen wir das immer wieder hinterfragen", meint der EED-Vorsitzende Konrad von Bonin, der im Mai mit der Delegation in Kolumbien war. Die Kirche müsse sich sowohl an der politischen Debatte beteiligen als auch um Einzelschicksale kümmern. Der EED unterstützt zusammen mit dem Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) Menschenrechtsinitiativen und Friedensarbeit in Kolumbien; auch für Misereor und "Brot für die Welt" ist dies ein Schwerpunkt der Förderung. "Wir können Räume schaffen, die nicht von den Akteuren des Bürgerkrieges bestimmt werden", so von Bonin, "und wo immer Menschenrechte verletzt werden, müssen wir politisch aktiv werden."
Aber reicht das? Ja und nein. Staatspräsident Uribe hofft angesichts der zahlreichen entführten Touristen auf die Vermittlerfähigkeiten der Kirche, nachdem seine Regierung jeglichen Kontakt zur Guerilla abgebrochen hat. Andererseits geben mittlerweile auch Kabinettsmitglieder zu, dass die Armut den Bürgerkrieg nährt. "Wenn sich zehn Guerilleros den Streitkräften stellen, bringt dies gewaltige Schlagzeilen", räumt der stellvertretende Verteidigungsminister Andrés Penate ein. Doch das eigentliche Problem sei, was die Deserteure ein Jahr später machen. Penate: "Der Staat muss verhindern, dass sie dann ihr Überleben erneut mit der einzigen von ihnen erlernten Fähigkeit sichern: dem Laden und Säubern von Gewehren."
Seit der Amtsübernahme von Staatspräsident Uribe im August 2002 haben etwa 2000 Kämpfer aus illegalen Gruppen ihre Waffen niedergelegt, die Mehrheit stammt aus der Guerilla. Der enorme Zuwachs im Vergleich zum Zeitraum von 1998 bis 2002, als sich nach offiziellen Angaben insgesamt 2505 Kämpfer ergaben, erklärt sich durch die neue Ausrichtung der Demobilisierungspolitik. Wer den Sprung aus dem Untergrund ins zivile Leben wagt, genießt Straffreiheit, wird in versteckten Unterkünften 18 Monate lang auf Staatskosten betreut und kann eine unternehmerische Starthilfe von umgerechnet 3000 US-Dollar beantragen. Staatschef Uribe hat die Mittel für die humanitäre Betreuung von ehemaligen Guerillakämpfern um das Zehnfache aufgestockt. Kolumbiens Militärhaushalt ist mit insgesamt 2,2 Milliarden Dollar der höchste in Lateinamerika.
"Die Regierung sollte den Akzent auf Vorbeugung verschieben, statt viel Geld in Demobilisierungsprogramme mit zweifelhaftem Ausgang zu investieren", kritisiert Rocío Rubio. Die Verfasserin des jüngsten UN-Berichtes zur menschlichen Entwicklung in Kolumbien macht in erster Linie die mangelnden Berufschancen für Jugendliche für die Anziehungskraft der bewaffneten Gruppen verantwortlich. "Der Staat muss Jugendlichen im Rekrutierungsalter mehr Perspektiven bieten", mahnt sie. Auch für Ex-Guerilleros sind die Zukunftsaussichten alles andere als rosig. Im größten Heim für ehemalige Kämpfer in Bogotá, wo 123 Männer wohnen, sind 60 Prozent Analphabeten.
Eine schnelle Besserung ist nicht in Sicht. Kolumbien leidet nicht nur unter der weltweiten Konjunkturschwäche, es musste zudem im Handel mit seinem Nachbarland Venezuela einen Rückgang von 70 Prozent verkraften, ausgelöst durch den monatelangen Generalstreik in Caracas. Das ohnehin schwache Wirtschaftswachstum von einem Prozent, gepaart mit einer Arbeitslosenrate von über 15 Prozent, macht fast alle Kolumbianer zu potenziellen Emigranten. Auch Seelsorger sind dagegen nicht gefeit. So kämpfen Kolumbiens Diözesen mit einem Exodus katholischer Priester in die USA, die dort das Zehnfache verdienen.
Pfarrer Artur Ramos aus der bitterarmen Gemeinde Bojayá, zu der Bellavista gehört, hat dagegen durchgehalten. Zusammen mit den Claretiner Ordensschwestern will der junge katholische Geistliche die Traumata der Einwohner aufarbeiten. Die Menschen in Bojayá sind keine Anhänger großer Worte. Noch betreten sie die neu aufgebaute Kirche in Bellavista mit einem gewissen Schaudern, die Bilder von der zerbombten Oase des Glaubens sind noch zu frisch. "Ich habe meine Schwester, meine Frau und meine fünf Kinder verloren. Mehr kann ich nicht sagen", offenbart ein junger Mann im Gottesdienst seinen ganzen Schmerz. Ein anderer Dorfbewohner, der von seiner sechsköpfigen Familie nur seine jüngste Tochter retten konnte, spricht aus, was alle denken: "Gott sei Dank sind wir noch am Leben!"
aus: der überblick 04/2003, Seite 128
AUTOR(EN):
Astrid Prange:
Astrid Prange ist Journalistin mit dem Schwerpunkt Entwicklungsländer und schreibt für die Wochenzeitung "Rheinischer Merkur - Christ und Welt" in Bonn. Sie hat im Mai 2003 die ökumenische Reise nach Kolumbien begleitet. Für eine Reportage über Brasilien ist sie 2003 mit dem "Medienpreis Entwicklungspolitik" ausgezeichnet worden.