Sich selbst verändern durch die Begegnung mit einer anderen Kultur
Die Regale sind leer.
Die Wände kahl. Noch nichts verrät das kleine Büro über den Menschen, der darin arbeitet. "Wir sind dabei, uns einzurichten", sagt Graciela Chamorro freimütig. Wir, das sind sie selbst, ihr Mann und ihre zwei kleinen Töchter. Seit Anfang September lebt die 41jährige Theologin und Historikerin aus Brasilien mit ihrer Familie in Hamburg. Der Alltag mußte organisiert, die Siebenjährige eingeschult, die neue Umgebung erkundet, ein Sprachkurs absolviert, die Arbeit aufgenommen werden.
Was bedeutet christlich sein heute - in der Stadt, auf dem Land, hier bei uns, in anderen Ländern, in anderen Kulturen? So skizziert Graciela Chamorro den thematischen Schwerpunkt ihrer Arbeit. Interreligiöser Dialog ist ihr Anliegen.
von Karin Bräuer
Das heißt für sie: Zuhören, den anderen sehen und respektieren, wenn möglich, etwas Gemeinsames entwickeln. Deshalb hat sie sich um die Stelle des ökumenischen Mitarbeiters an der Missionsakademie in Hamburg beworben. "Die Akademie bietet gute Voraussetzungen, sich mit dieser Thematik auseinanderzusetzen", sagt die Theologin, die im Rahmen des "ökumenischen Dienstes in Deutschland" (ein Programm von Dienste in übersee) an die Missionsakademie gekommen ist.
Wie die drei anderen Studienleiter führt Graciela Chamorro Seminare für Pastoren und Vikare zu ökumenischen Themen durch und betreut ausländische Studenten und Doktoranden an der Universität der Hansestadt. In diese Arbeit will sie ihre Erfahrungen mit den Guarani-Indianern einbringen, Gemeinsamkeiten und Unterschiede in Glaube und Weltbild deutlich machen. "Das Andere ist der Spiegel für das Eigene, der Andere der Spiegel für uns selbst", sagt Chamorro, die in Paraguay geboren und aufgewachsen ist. Als Siebzehnjährige kam sie über ein Stipendium nach Brasilien, studierte Theologie in Recife, Rio de Janeiro und in Sao Leopoldo im südlichen Landesteil Mato Grosso do Sul. Am dortigen theologischen Seminar lehrte sie auch nach ihrem Abschluß 1982.
Die Guarani-Indianer lernte sie ein Jahr später im Rahmen eines Alphabetisierungsprogramms kennen. Der Name Guarani faßt verschiedene kleine Stämme zusammen, die in den subtropischen Tiefebenen Brasiliens, Paraguays, Uruguays und Argentiniens leben. Auch nach 500 Jahren in Kontakt mit zugewanderten Bevölkerungsgruppen und der christlichen Religion, haben sie ihre eigene Kultur bewahrt. Chamorro, die ihre Sprache lernte, um ihnen so Lesen und Schreiben beibringen zu können, fiel auf, daß ihre Beziehungen zu Missionaren eher oberflächlicher Natur waren. Zwar haben die Guarani christliche Symbole übernommen wie das Kreuz. Doch die Jesusfigur fehlt darauf; für sie symbolisiert das Kreuz die Schöpfung. Interessiert schaute Graciela Chamorro genauer hin, lernte, daß sich die Guarani als "Töchter und Söhne des Schmuckes der Welt" sehen und lernte, daß der Begriff Schmuck in ihrer Vorstellungswelt eine ganz zentrale Bedeutung hat. Wird ein Mensch getauft, wird er geschmückt; ist er traurig, hat er keinen Schmuck.
Die ganzheitliche Sichtweise der Guarani beeindruckte Graciela Chamorro - zwei Bücher hat sie über sie geschrieben. Um über "Die Spiritualität der Guarani" promovieren zu können, absolvierte sie Anfang der 90er Jahre ein Aufbaustudium der Iberoamerikanischen Geschichte. Gleichzeitig aber wuchs ihr Interesse an der eigenen Religion, wurde die Auseinandersetzung damit lebendiger: "Wenn wir versuchen, in Dialog zu sein, eine andere Kultur, eine andere Religion zu erfahren, dann verändert sich unser theologisches Verständnis." Oft aber seien Menschen zu sehr in ihrer Religion engagiert. Bis weit in unser Jahrhundert hätten zum Beispiel Christen in Lateinamerika versucht, indianische Völker zu bekehren und so zum Kolonisierungsprozeß beigetragen.
Während der brasilianische Staat zur 500. Wiederkehr der "Entdeckung" des Landes durch die Portugiesen prächtige Feiern plant, bereitet sich auch die Initiative "Brasilien: 500 Jahre Widerstand" auf den 22. April vor. Getragen wird die Initiative von indigenen Völkern, der Bewegung der Schwarzen und einem Bündnis der Basisbewegungen, unterstützt wird sie unter anderem von der katholischen und den evangelischen Kirchen.
"Wir wollen andere 500 Jahre", sagt Graciela Chamorro, die sich vor ihrer Abreise nach Deutschland für die Initiative engagiert hat - im Rahmen ihrer Tätigkeit als Universitätsdozentin für Geschichte und Pastorin einer Gemeinde. Religion und Kirche sind nach Chamorros Ansicht "nicht unabhängig von dem zu sehen, was im Bereich der Politik passiert. Zieht sich die Politik als gestaltende Kraft mehr und mehr zurück und überläßt das Feld den freien Kräften des Marktes, dann ist es Aufgabe der Kirche, dafür Sorge zu tragen, daß sich Entwicklung und soziale Gerechtigkeit nicht entkoppeln."
Den Unterdrückten, den Ausgebeuteten, den Landlosen, den Menschen in den Favelas will die Initiative im Rahmen eigener Gedenkfeiern eine Stimme verleihen. Noch immer leugne eine Mehrheit der brasilianischen Bevölkerung, so Graciela Chamorro, das indianische Erbe des Landes. "Gott ist weiter, umfassender, interreligiöser", sagt die engagierte Theologin, die ihre eigenen indianischen Wurzeln zwar nicht zurückverfolgen kann, sie gleichwohl als gegeben akzeptiert. "Wir alle sind Teil eines Ganzen."
aus: der überblick 01/2000, Seite 126