Der "7. Kilometer"-Markt in Odessa
"Rasprodazha! Rasprodazha! Ausverkauf! Ausverkauf!" ruft der türkische Verkäufer, der mühelos zwischen Türkisch, Russisch und Ukrainisch hin- und herwechselt. Es ist Sonntagvormittag, 10 Uhr. Sieben Kilometer vor den Toren Odessas. Der größte Marktplatz Europas hat seit fünf Stunden geöffnet.
von Uli Hufen
Das Geschäft des Pulloverimporteurs ist eins von mehr als 15.000, die sich hier auf 700.000 Quadratmetern Ackerland drängen. Einige sind in regulären Gebäuden untergebracht, die Mehrzahl jedoch besteht aus jeweils zwei übereinander gestapelten Schiffscontainern. Oben ist das Lager, unten wird verkauft, die Verbindung erfolgt per Leiter. Auf der Rückseite brummen die Generatoren.
Der "7. Kilometer" Markt hat dieselbe Schachbrettstruktur, wie die Odessaer Altstadt. Die Geschäfte haben keine Namen, aber rechte Winkel erleichtern die Orientierung. Und Farben: Alle Container einer Straße sind in der gleichen Farbe gestrichen. Man kauft also auf der rosa Straße ein, auf der grünen oder der blauen Straße, auf der weißen oder der aprikosenfarbenen.
Lastkutscher scheuchen träumende Kunden lautstark aus dem Weg, fliegende Händler drängen mit ihren Wägelchen durch die Menge. Eine Frau verkauft in Honig eingelegte Nüsse, eine andere heiße Blätterteigtaschen, eine dritte Kaffee, Tee und Wodka. Dazu Pizza, Schawerma, Sandwiches. Auch wer sein Handyguthaben auffrischen will, muss nicht weit laufen.
Täglich außer Freitags machen sich bis zu 150.000 Menschen auf zum "7. Kilometer". Sie kommen aus Odessa und anderen ukrainischen Städten, aus Russland und Weißrussland, aus Moldawien, der Türkei und aus China.
Offiziell heißt der Markt am 7. Kilometer "GmbH Bedarfsartikelmarkt". Für die Odessiten ist er schlicht die neueste Inkarnation des legendären Toltschoks. Unter diesem Namen existierte seit dem frühen 19. Jahrhundert ein Trödelmarkt in der frisch gegründeten Handelsmetropole am Schwarzen Meer. Über die Jahrhunderte wechselte der Markt mehrfach Lage und Gesicht und bot doch immer ein getreues Abbild der politischen und sozialen Zustände egal ob im Russischen Reich, in der Sowjetunion oder jetzt in der unabhängigen Ukraine.
Im 19. Jahrhundert lag der Odessaer Toltschok mitten im Stadtzentrum, auf dem heutigen Alexandrow-Prospekt. Dort hatten findige Architekten eine ganze Kaskade von Geschäftsarkaden erbaut, die mehrere Marktplätze miteinander verbanden. Später zog der Toltschok mehrfach um, erst in die legendäre Moldawanka, jenen jüdisch dominierten Stadtteil, den Isaak Babel in seinen Odessaer Erzählungen unsterblich machte. Später dann, schon in sowjetischer Zeit lag der Toltschok direkt gegenüber des 3. Jüdischen Friedhofs.
Damals verkauften Seeleute hier Beatles-LPs und geschmuggelte Papageien, Omas boten selbst gestrickte Socken an und Undergroundmusikproduzenten ihre Aufnahmen mit den berühmten Odessaer Gaunerchansons. Hier war die Schnittstelle von sowjetischer Boheme und Unterwelt. Im Dezember 1989 zog der Toltschok um: aus dem Stadtzentrum hinaus auf die Ackerflächen der Staatsfarm "Avantgarde". Dort wurde aus dem berühmtesten Trödelmarkt der Sowjetunion nach und nach Europas größtes Einkaufszentrum. Seit den Privatisierungen der frühen 1990er Jahre gehört das Land nicht mehr der Allgemeinheit, sondern dem ehemaligen Direktor der Staatsfarm, Viktor Dobrjanskij, der den lokalen Bauern ihre Parzellen für wenig Geld abgekaufte.
Heute ist der "7. Kilometer" fast zehn Mal größer als das Centro in Oberhausen und fast doppelt so groß, wie die berühmte Mall of America im amerikanischen Bloomington. Hier gibt es nicht nur tausende Containergeschäfte, sondern auch eine Feuerwehr, eine Milizeinheit, eine Bank, zwei Hotels, mehrere Sanitätsstationen und Dutzende Restaurants und Imbissbuden. 15 Millionen Euro sollen Tag für Tag auf dem Markt umgeschlagen werden.
Spielzeug und Schuhe, Töpfe und Kosmetik, CDs und Computer, Autos und Waschmaschinen, Stifte und Bettwäsche, Bücher, Besen und natürlich Klamotten in allen Formen und Farben. Alles, was ein Mensch zum Leben brauchen kann, wird am "7. Kilometer" angeboten. Fast alles ist auffällig billig, selbst für ukrainische Verhältnisse.
Wer aber macht die Preise? Wo kommt die Ware her? Warum gibt es keine Kassen? Welche Rolle spielen die vietnamesischen Geldwechslerinnen gleich am Eingang? Und vor allem: Warum gucken die Leute so feindselig, wenn sie mein Mikrofon und meine kleine Videokamera sehen?
Ich mache mich auf der Suche nach Informationen. Meine Recherche bei den Wirtschaftsredaktionen diverser Odessaer Zeitungen bleiben ohne Erfolg. Bei der Agentur "Reporter" heißt es, man habe niemanden, der sich mit dem "7. Kilometer" befasst. Ich wende ein, dass sei doch immerhin der größte Arbeitgeber der Stadt, aber es tut ihnen nur leid. Im Internet lese ich die Meldungen der letzten Monate:
29. Dezember: Die Mitarbeiter des Staatlichen Dienstes für den Kampf gegen die Wirtschaftskriminalität haben auf dem "7. Kilometer" eine Ladung gefälschter Handcreme beschlagnahmt. 16. Oktober: Der Verteidigungsminister der Ukraine Anatolij Grizenko unterzeichnete heute die Anordnung zur Liquidierung des dem Odessaer Militärbezirk unterstellten Unternehmens Pivden. Nach Angaben des Ministeriums wird die Leitung des Unternehmens verdächtigt, illegale Geschäfte mit dem in direkter Nachbarschaft gelegenen Markt "7. Kilometer" zu machen. 21. September: Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes der Ukraine haben den Versuch des illegalen Imports einer großen Warenmenge für den "7. Kilometer" unterbunden. Bei der Kontrolle stellten die Beamten fest, dass sich in den 11 aus China stammenden Containern Waren im Wert von 2,2 Millionen Griwen (330.000 Euro) befanden ein Mehrfaches der deklarierten Summe. Dann ruft Igor an und erzählt, seine Mutter sei nun doch bereit, sich mit mir zu treffen. Allerdings nicht auf dem Markt, wie ich vorgeschlagen hatte, sondern in einem Café am Strand Otrada. Natascha Eduardowna besitzt eine Reihe von Containern auf dem "7. Kilometer", ihr Sohn Igor ist Student und arbeitet für meinen Odessaer Vermieter.
In Odessa am Schwarzen Meer herrscht noch kein rechtes Einverständnis über die Namen und Normen der neuen Zeit. Früher gab es Kaffee, heute gibt es zwanzig Sorten. Natascha Eduardowna möchte gern einen Espresso Americano, doch den hat der Barmann nicht im Angebot. Doch ist er ausgesucht geduldig mit seiner exzentrischen Kundin und demonstriert so, dass der Dienstleistungsgedanke die Ukraine erreicht hat. Dann erzählt Natascha Eduardowna: "Am Anfang, vor 15 Jahren, herrschte reines Chaos. Damals kamen die Leute einfach raus auf das Feld, stellten sich irgendwo hin und verkauften, was sie hatten. Logisch, dass dann Leute auftauchten und versuchten, Geld zu erpressen. Ich weiß noch, als das los ging mit den Reisen nach Polen oder Rumänien. Auf den Basaren in Polen: überall Schutzgelderpresser, da wurden Kinder entführt!"
Natascha Eduardowna ist eine Frau, wie es sie vor 15 Jahren hier noch nicht gab. Sie ist nicht nur schön Odessa ist seit jeher berühmt für die Schönheit seiner Frauen sondern auch ausgesucht elegant. Unsowjetisch. Weltgewandt und weit gereist, gebildet, ganz offensichtlich wohlhabend. Eine selbstbewusste Geschäftsfrau.
Natascha Eduardowna erzählt, als sei sie selbst Anfang der 1990er Jahre nicht dabei gewesen. Von ihrem Sohn Igor aber weiß ich, dass sein Vater zu den ersten Tschelnoki gehörte, zu jenen fliegenden Händlern, die zu Tausenden kreuz und quer durch Osteuropa reisten. Viele von ihnen waren ehemalige Lehrer, Wissenschaftler oder Ärzte, die von ihren staatlichen Gehältern nicht mehr leben konnten: "Ich muss Ihnen sagen, dass ich mich vor diesen Leuten verneige: Das waren geniale Menschen. Sie verdienten ihr Startkapital mit den absurdesten Dingen. Sie kennen das sicher gar nicht: kleine Netze, die man vor den Ausguss der Teekanne hängt, damit die Blätter nicht in die Tasse fallen. Die wurden nach Polen und auch nach Rumänien exportiert. Taschenlampen. Sogar die gebundenen Strohbesen schleppten die Leute nach Polen. Mit den Besen das war übrigens sehr interessant, weil die nicht dem Zoll unterlagen. Früher wurden ja viele Elektrogegenstände exportiert: Wasserkocher zum Beispiel, Bügeleisen aber das war immer mit Risiken verbunden, weil das Waren sind, die dem Zoll unterliegen. Ferkel wurden verkauft, denen gab man Schlafmittel, damit sie an der Grenze keinen Ärger machten. Manche fanden das schlimm, aber es war auch ziemlich lustig!"
Heute hat der "7. Kilometer" nur noch wenig von jener improvisierten Atmosphäre, er ist, wie Natascha Eduardowna betont, kein Basar mehr, sondern eine professionell geführte Handelsstruktur. Aus den fliegenden Händlern sind Unternehmer geworden. Etwa die Hälfte importiert ihre Ware selbst, fast alles aus der Türkei und China. Die anderen kaufen auf dem Markt en gros ein und verkaufen dann als Einzelhändler weiter: Syrer, Russen, Ukrainer, Polen, Moldawier, afrikanische Studenten, Türken.
Natascha Eduardowna scheint überrascht, als ich ihre heile-Welt-Bild von den ganz normalen Unternehmern am "7. Kilometer" in Zweifel ziehe. Dabei ist jedem Besucher des Marktes klar, dass unmöglich alles mit rechten Dingen zugehen kann, wenn Chanel No.5 Flaschen für ein bisschen mehr als zwei Euro und Nike Turnschuhe für 18 Euro verkauft werden. Gefälschte Markenware macht zwar nur einen geringen Prozentsatz der angebotenen Ware aus aber es gibt sie. "Die Leute sind doch nicht dumm: Wenn du teure Marken so billig verkaufst. Sicher, es gibt natürlich überall Strukturen, die versuchen illegal zu arbeiten: auf den Märkten, in Kiew, in Geschäften. Aber dafür gibt es das Innenministerium, die Staatsanwaltschaft, den Zoll, die Grenztruppen."
Ich habe anderes gehört: Ja, es gibt Kontrollen, die Steuerpolizei kommt, aber bevor sie kommt, gibt es eine Warnung. Und alle machen ihre Läden zu. Natascha Eduardowna schluckt kurz, dann ist sie wieder ganz Geschäftsfrau: "Also ich kann nicht sagen, dass das überall so ist aber wir haben ja so ein Sprichwort: Wer auf sich selbst aufpasst, wird auch von Gott beschützt. Es gibt Unternehmer, die lieber nichts riskieren: Sehen sie: Man findet immer etwas, woran man sich festbeißen kann. Selbst wenn alle Papiere in Ordnung sind. Das sind ja keine schönen Geschäfte, wo alles sauber auf Regalen liegt. Das Geschäft läuft anders hier. Weniger ordentlich. Um Schwierigkeiten aus dem Weg zu gehen, machen die Leute darum manchmal lieber zu, wenn die Inspektion kommt. Das ist normal. Die Gesetzgebung ist ja leider auch nicht ideal."
Ich blicke aufs Meer. Die Sonne steht tief und färbt das Wasser in Rot und Gold. Ich wage einen letzten Vorstoß und frage Natascha Eduardowna noch einmal, ob sie nicht mit mir an einem der nächsten Tage einen Rundgang über den Markt machen würde mir alles zeigen und erklären. Aber sie bleibt hart: "Der Markt, der funktioniert wie eine Kommunalwohnung, ja? Wenn irgendwas Ungewöhnliches passiert, gibt es Wellen. Wie wenn du einen Stein ins Wasser wirfst. Und das würde ich ehrlich gesagt lieber vermeiden. Es geht nicht um Angst. Aber das ist immer eine Kettenreaktion. Man muss das erklären, diesem und jenem. Wer
Sie sind, warum Sie hier sind, was Ihnen gefällt, was Ihnen nicht gefällt. Also lieber nicht. Ich kenne sehr viele Leute dort auf dem Markt. 99 Prozent davon würden nicht mit Ihnen reden. Ich habe einige gefragt. Ernsthaft: Ich glaube nicht, dass sich irgend jemand auf dem Markt mit Ihnen unterhalten wird." Es wird dunkel am Strand von Otrada. Die Seilbahn hinauf auf die Steilküste stellt den Betrieb ein, die letzten Schwimmer ziehen sich an, die ersten Gäste kommen zum Abendessen. Auf der Reede liegen riesige Frachter, auf denen in drei, vier oder fünf Etagen Container gestapelt sind. Grün. Grau. Gelb. Rot. Rostig. Blau. Hinter mir liegt Europa, weit draußen die Türkei, links der Kaukasus und dahinter Asien. Das weiß ich, aber sehen kann ich nur das Meer und die bunten Containerschiffe. Neue Ware für den "7. Kilometer".
Am nächsten Morgen will ich mein Glück dennoch versuchen und mache mich noch mal auf zum "7. Kilometer". Der Weg dorthin führt über den Hauptbahnhof. Nachtzüge bringen die Leute aus Moskau, aus Kiew und Kischinjow, aus Minsk und Charkow, aus Woronesch und Wolgograd. Aus dem gelben Bahnhofsgebäude treten die verschlafenen Menschen hinaus auf den Bahnhofsvorplatz. Hier warten duzende Sammeltaxis, genannt Marschrutka. Sie alle tragen das weithin sichtbare, schwarz-gelbe Schild, das gute Geschäfte und guten Einkauf verheißt: 7. KM.
Es ist Montagvormittag, und auf dem "7. Kilometer" ist heute wenig los. Und das ist, wie sich zeigen soll, mein Glück. In der Nacht waren die Großeinkäufer hier, aus fast allen ehemaligen Sowjetrepubliken. Die Reinigungskommandos waren noch nicht da, darum kann man die Überreste der nächtlichen Verkaufsschlachten sehen. Kilometerweit Tüten und Kartons, leere Flaschen, Zigarettenkippen, Packpapier. Inmitten dieses Infernos haben Walja und Mila ihren Stand aufgeschlagen. Die beiden sind Mitte 40 und verkaufen Unterhosen, Strumpfhosen und Trainingsanzüge auf dem 7. Kilometer. Als sie hören, woher ich komme, sind sie begeistert und plaudern los. Mila war früher Laborantin, Walja Köchin in einem großen Sanatorium. Dann kamen die Kürzungen der 1990er Jahre und beide verloren ihre Arbeit.
Walja und Mila erzählen von absurd hohen Containerpreisen und -Mieten, und allmählich wird mir die ökonomische Hierarchie des "7. Kilometers" klar: Ganz oben stehen die Besitzer des Marktes Viktor Dobrjanskij und die anderen Aktionäre. Sie vermieten Stellplätze für Container. Die Containerbesitzer betreiben entweder selbst ein Handelsunternehmen oder vermieten ihre Container weiter. Die Leute, die in den Containern arbeiten, sind in den meisten Fällen so genannte Realisatoren: angestellte Verkäufer, die nach Umsatz entlohnt werden und nicht selten 70 oder 80 Stunden in der Woche arbeiten, Sommer wie Winter, Tag und Nacht. Soziale Absicherung, Tariflohn, Lohngarantien, Kündigungs- oder Gesundheitsschutz gibt es nicht. Dafür die Möglichkeit, durch brutal harte Arbeit viel zu verdienen. Hier herrschen frühkapitalistische Zustände. Man passt sich an, oder man geht.
Die Türkei und China das sind die Länder, aus denen 99 Prozent der Produkte auf dem "7. Kilometer" kommen. Die Europäische Union (EU) hingegen, der ukrainische Politiker in Kiew so gern beitreten wollen, ist eine ferne und teure Welt. Es sind zwar nur zwei Autostunden von Odessa ins EU-Land Rumänien. Doch die Türkei und China liegen in jeder Hinsicht näher.
Unterdessen verkauft Walja einem älteren Ehepaar lange Unterhosen für den Winter. Danach ruft sie die mobile Kaffee- und Teefrau heran. Der Besuch aus dem fernen Deutschland muss gefeiert werden. Butterbrote werden aus ihren Zelofanverpackungen befreit, die Verkäuferin schenkt Kaffee und Wodka ein. Die Sonne scheint. Es ist elf Uhr vormittags. Walja und Mila feiern die Feste, wie sie fallen, und sei es am Montagvormittag. Auch wenn die Sorgen gewiss nicht gering sind. Bis Ende der Woche müssen beide noch gut verdienen: die Universitätsgebühren für ihre Kinder sind fällig. Bei Mila sind das 150 Euro beziehungsweise 1000 ukrainische Griwen. Das ist viel Geld und deutlich mehr als das offizielle durchschnittliche Monatseinkommen ukrainischer Arbeiter und Angestellter. Die verdienen circa 700 Griwen.
Mila erzählt: "Meine Kleine ist an der Uni und dafür muss ich bezahlen. 870 Griwen für das erste Semester. Sie hat vor drei Jahren angefangen jetzt ist es schon teurer. Das kommt auf die Fakultät an. Sie will Hydrologe werden. Anderswo kostet es schon mehr. Meine Nachbarin studiert Romanistik sie bezahlt mehr als umgerechnet 700 Euro im Jahr. Und, Herzchen, dazu kommen noch mal 15 oder 20 Euro pro Examen."
Und dann kommen die beiden richtig ins Schimpfen über die allgemeine Korruption im Lande, das ewige Unter-dem-Tisch-Bezahlen. Egal ob man ins Krankenhaus muss oder studieren will: Überall sind Schmiergelder nötig, um zu bekommen, was einem theoretisch auch kostenlos zusteht. Umgekehrt wissen die beiden genau, dass weder Ärzte noch Lehrer von den offiziellen Gehältern leben können. "So ist unser Land: ein einziger Saustall. Die Leute hier sind richtig gut. Sie arbeiten viel und sind gastfreundlich. Aber der Fisch stinkt vom Kopf her." Und Walja ergänzt: "Wofür bekommt ein Abgeordneter 20.000 Griwen (3000 Euro). Wofür? Sag mir das bitte? Und die Leute, die in der verfluchten Fabrik arbeiten und Stahl kochen: Die kriegen 700 Griwen. Oder der Bergarbeiter, der umkommt. Für 500. Also sag mir: Warum kriegt ein Politiker 17 oder 20.000 Griwen. Warum? Damit er rumsitzt und mit dem Arsch die Hosen durchscheuert?"
Die Zeitung Vechernaya Odessa (Odessa am Abend) hat zurückgerufen. Die Wirtschaftsredakteure Alla und Oleg sind bereit, sich mit mir zu treffen. Im Bus die typische erstaunliche Mischung: knuddelige, gebeugte Babuschkas mit dicken Einkaufstaschen, ein paar Kinder und immer wieder: groß gewachsene, schöne Mädchen, mit makellosem Make-up in offensichtlich teuren Designerklamotten. Die beiden Schülerinnen neben mir reden über New York und Paris, sie haben Freundinnen dort und streben wie diese eine Model-Karriere an. Vorerst aber stehen sie noch in einem klapprigen Bus, der wahrscheinlich schon durch die Odessaer Schlaglöcher jagte, als Generalsekretär Breschnew noch im Amt war.
Die Redaktion von Vechernaya Odessa residiert am Platz der Unabhängigkeit, in der vierten Etage eines sowjetischen Bürogebäudes. Resopaltische, alte Computer, freundliche und auskunftswillige Kollegen. Die Redakteurin Alla ist die erste Person in verantwortlicher Position, die bereit ist, offen über den "7. Kilometer" und seinen öffentlichkeitsscheuen Besitzer Viktor Dobrjanskij zu reden. Mich interessiert, wie die Odessaer Öffentlichkeit den Mann sieht, der das wirtschaftliche Leben der Stadt so dominiert, als Geschäftsmann oder doch eher als Verbrecher? Alla beruhigt mich: Dobrjanskij sei ein Geschäftsmann.
Doch stimmt das auch? Mir fällt das informelle Gespräch ein, das ich am Vorabend mit einem Odessaer Unternehmer hatte. "Nein, nein nur ohne Mikrofon" hatte der ehemalige Radweltmeister gesagt. Und: Vechernaya Odessa sei zu einer handzahmen Zeitung geworden, seit vor zehn Jahren der Chefredakteur Boris Derevjanko einem Auftragsmord zum Opfer fiel.
Allas Kollege Oleg kommt herein und erzählt von Dobrjanskijs gesellschaftlichem Engagement: In der Siedlung Avantgarde unweit des Marktes ist in den letzten Jahren ein großer neuer Kirchenkomplex entstanden. Es heißt, er wolle sich dort begraben lassen, später. Kein Zufall ist es wohl, dass die zentralen Kirchen des Komplexes dem Heiligen Viktor und der Heiligen Irina gewidmet sind. Dobrjanskijs Vorname ist Viktor, seine Tochter heißt Irina.
Dass Alla und Oleg mehr über Dobrjanskij und den "7. Kilometer" wissen, als sie sagen, ist offensichtlich. Die beiden wissen genauso gut wie ich, dass niemand in den 1990er Jahren in Russland oder in der Ukraine Geschäfte machen und zu Geld kommen konnte, ohne die Gesetze zu biegen oder zu brechen. Dann erzählen sie von den Versuchen, Schmuggel und Steuerhinterziehung zu unterbinden.
Immerhin sind das die Grundlagen für die günstigen Preise auf dem "7. Kilometer". Als Julia Timoschenko Premierministerin war, versuchte sie, die über Jahre gewachsenen Kontakte zwischen Zoll und Geschäftsleuten zu unterbinden. Mobile Zolleinheiten wurden aufgestellt, einige Gesetze geändert. Odessaer Zollbeamte wurden versetzt, aus anderen Bezirken kamen Zöllner nach Odessa. "Das waren befristete Maßnahmen, aber es führte dazu, dass es auf dem "7. Kilometer" ziemlich ruhig wurde: weniger Ware, weniger Arbeit. Die Leute wurden sehr nervös, so nervös, dass sogar Präsident Juschtschenko auf den Markt kam. Vom ,7. Kilometer' leben ja sehr viele Leute, bestimmt ein Viertel der Stadt. So oder so."
Nach einiger Zeit hatte sich alles wieder eingespielt. Julia Timoschenkos Zeit als Premierministerin war kurz und liegt schon wieder eine Weile zurück. Wie die orange Revolution, die im Westen so euphorisch begrüßte wurde. Der Süden des Landes inklusive des russischsprachigen Odessa war von Anfang gegen die Orange Macht. Oleg: "Darum war auch nachher keiner enttäuscht, im Gegenteil, es gab so etwas wie Schadenfreude: 'Ha! Wir haben's ja gesagt. Ihr habt euch jetzt auch blamiert.' Und heute? Heute sagen die Leute: 'Bitte, wer regiert, ist uns egal. Wir finden schon einen Weg, aber bitte: Irgendwer soll reagieren'." Für Alla bestand die Orange Revolution aus wenig mehr als Emotionen. "Sie wurde von Leuten gemacht, die nicht mehr so leben wollten, wie bisher. Aber wie man anders leben kann, das wussten sie nicht. Sie hatten keinen Plan."
Ich bin noch einmal raus gefahren zum "7. Kilometer", vor allem um mich von Walja und Mila zu verabschieden. Als ich ankomme, sitzt gerade eine schnaufende Rentnerin bei den beiden. Die Alte ist raus auf den Markt gefahren, weil ihr die Strumpfhosen in der Stadt zu teuer sind. 18 Griwen circa. 3,50 Euro sind zu viel. Mila und Walja versprechen, Strumpfhosen zum Großhandelspreis zu besorgen. Telefonnummern werden notiert, Rezepturen für Salben getauscht. Schließlich bekommt die alte Dame einen Schwächeanfall. Doch auch hier wissen die beiden umtriebigen Business-Ladies Rat. Mila kramt ein Fläschchen mit Valocardin-Herztropfen aus ihrer Handtasche, kurz darauf ist die Rentnerin wieder fit.
Walja und Mila sind seit zehn Jahren auf dem "7. Kilometer". Einige Jahre arbeiteten sie als Realisatoren für andere Unternehmer, doch das war auf Dauer schlicht zu anstrengend. Seither sind sie selbständig. Mila: "Wir kaufen unsere Ware hier, auf dem Markt und dann verkaufen wir sie weiter. Wer schon lange Geschäfte macht und Geld hat der importiert natürlich selbst. Andere machen Schulden. Zum Beispiel meine Nachbarin. Die hat sich 15.000 Euro geborgt und ist nach China gefahren, um Ware zu holen. Sie hat einen Container gemietet, für 1600 im Monat. Und jetzt zahlt sie ab."
Als ich frage, ob sie den Schritt ins Import/Export- Geschäft auch wagen würde, schüttelt Mila erst entschieden den Kopf. Obwohl: "Na ja. Wenn ich 30 Riesen hätte, Dollar, dann würde ich fahren. Aber die hab ich nicht. Und auf Risiko gehen und Geld leihen das ist gefährlich. Das ist ja so eine Sache mit dem Business. Heute hast du was verdient und morgen gehst du unter wie die Schweden bei Poltawa!" Zwischen Odessa und dem Markt am "7. Kilometer" verkehren sieben Bus-und insgesamt zehn Marschrutka-Linien: Hunderte von Kleinbussen mit Platz für zwölf bis fünfzehn Menschen. In einem von ihnen sitze ich jetzt mit Walja und Mila. Es ist Feierabend. Das Taxi-Unternehmen gehört naturgemäß zum Sieben-Kilometer-Imperium des Viktor Dobrjanskij. Die Frauen im Minibus sind müde von der Arbeit. Aber das Taxi fährt nicht los, weil der Fahrer von einem Verkehrsinspektor kontrolliert wird. Zeit für mich, um den vietnamesischen Geldwechslerinnen zuzusehen, die 20 Meter weiter ihren Geschäften nachgehen. Direkt am Eingang des Marktes stehen sie geschmeidig mitten im Besucherstrom und wechseln sekundenschnell Dollar und Euro in ukrainische Griwen. Manchmal, so hatten Walja und Mila mich aufgeklärt, manchmal muss man eben schnell Geld tauschen und möchte keine Spur bei der Bank hinterlassen. Und ja, natürlich zahlen die Vietnamesen Provision an den Markt und seinen Besitzer: Viktor Dobrjanskij.
Schließlich fahren wir los, für Walja und Mila geht ein harter Tag auf dem größten Markt der Welt zu Ende. Und sie erzählen mir noch eine Geschichte: "Oh, dieser ,7. Kilometer'. Es gibt da so einen Witz, obwohl eigentlich ist es kein Witz, sondern die Wahrheit: Es gibt da so eine Reklamezeitung in Odessa. Und da war eine Anzeige drin: Suche Frau! Da stand also: Ich suche eine Frau für ein gemeinsames Leben, für eine Beziehung. Bitte keine Frauen vom ,7. Kilometer!'"
aus: der überblick 03/2007, Seite 60
AUTOR(EN):
Uli Hufen
Uli Hufen ist freier Autor und schreibt seit über zehn Jahren über
Osteuropa und den postsowjetischen Raum. Im Juli
2007 sendete der Westdeutsche Rundfunk sein Feature
"Toltschok oder der 7.Kilometer 700.000 m²
Frühkapitalismus in Odessa".