Leere Paradiese
Korallenriffe sind die Kinderstuben vieler Fischarten. Sie gelten als die "Tropischen Regenwälder der Ozeane". Doch weil die Korallen nur sehr langsam nachwachsen, können sie das, was Überfischung und Umweltverschmutzung zerstören, nicht wieder ersetzen.
von Onno Groß
Wo einst blühendes Leben sprießte, herrscht heute graue Ödnis. In rasantem Tempo vernichtet die Überfischung die tropischen Paradiese im Korallenmeer. Hauptursachen sind die Langleinen- und Dynamitfischerei. Auch der illegale Handel von Zierfischen und Meeresprodukten führt zum Ausverkauf der Reichtümer des Meeres. Nur in streng bewachten Schutzgebieten können diese empfindlichen Ökosysteme noch gerettet werden.
Als erstes begannen Fischer, in den blauen Buchten vor Birma die Seegurken illegal einzusammeln. Diese etwa 50 Zentimeter großen, länglichen Verwandten der Seeigel gelten im asiatischen Raum als Delikatesse - und Aphrodisiakum - und waren in dem Labyrinth aus Inseln und Lagunen eine leicht zu bergende Beute.
Als keine nennenswerten Seegurkenbestände mehr vorhanden waren, machten sich die Fischer mit ihren wendigen, fünf bis sechs Meter langen und weniger als einen Meter breiten motorisierten Longtail-Booten auf die Suche nach den Triton-Schnecken. Die handgroßen und seltenen Schneckengehäuse sind eine begehrte Ware auf den Touristenmärkten Asiens.
Es dauerte nicht lange, da waren nach den Schnecken auch die Langusten infolge der vielen Reusen verschwunden. Nun begann man mit Dynamit, Giften und Netzen den Korallenfischen nachzustellen. Nicht die so genannten Sea-gypsis, die "See-Zigeuner" und traditionellen Fischer-Nomaden im Andamanischen Meer (vor der Küste Birmas und Thailands), sondern die vielen illegalen Boote fischten gnadenlos die Riffe leer.
"In nur acht Jahren", berichtet der Unterwasserfilmer und Taucher Sascha Kellersohn, "ist das marine Leben vor Birma heute fast komplett verschwunden". Kellersohn war 1996 einer der ersten, der in den Gewässern des als unberührt geltenden Mergui Archipels vor der Südküste von Birma filmen durfte. Dieses rund 10.000 Quadratkilometer große Gebiet mit etwa 800 kleinen Inseln und unzähligen Korallenriffen galt als Geheimtipp. Mantas (Rochen), Hammerhaie, Walhaie und Seeschlangen zogen die Taucher in ihren Bann.
Doch seit der Öffnung des ostasiatischen Staates für den Westen hat sich einiges geändert. Seitdem hat Kellersohn jedes Jahr die tropischen Riffe vor der Küste besucht und mit Akribie den Untergang einer Unterwasserwelt festgehalten. "Es ist erschreckend zu sehen", sagt Kellersohn, "wie diese einmalige Welt so schnell verschwindet."
Todbringende "Geisternetze", Millionen Haken an Kilometer langen Leinen, Dynamitfischen und illegale Harpunenjagd sind im Meer vor Birma alltäglich geworden. So werden den mit Schlingen gefangenen Ammenhaien ebenso wie den geangelten Hai-Exemplaren bei lebendigem Leibe die Rückenflossen abgeschnitten (Shark finning), um sie auf den Märkten Thailands lukrativ als Zutat für Suppen zu verkaufen. Und ob Mantas, Muränen oder Walhaie: Unkontrolliert jagen die Fischer nach Beute.
"Die Riffe galten als eines der besten Tauchreviere der Welt", sagt Kellersohn. "Nun findet sich hier kaum mehr ein Weißspitzenhai, selten mal eine Schildkröte. Bei jedem Tauchgang entdecke ich an den Riffen verloren gegangene Netze, Geisternetze, die endlos lange weiteren Fischen zum Verhängnis werden."
Der Verlust der Unterwasserwelt Birmas hält bereits die so wichtigen, devisenbringenden Tauchtouristen fern. Im Internet beklagen sich die Unterwassersportler über das Fehlen der attraktiven Großfische und die gewaltigen Ausmaße der Zerstörung der Riffe. "Es gab sehr viele Fische zu sehen", schreibt ein Taucher, "doch leider nur tote am Meeresboden. Bei den Tauchgängen konnte man das Dröhnen der Dynamit-Explosionen hören."
Die Zustände vor der Küste Birmas sind kein Einzelfall. Unter der Zunahme der Weltbevölkerung, der Technisierung der lokalen Kleinfischerei und dem gewinnbringenden illegalen Handel mit Meeresprodukten leiden besonders die tropischen Zonen der Meere.
Die Taucher sind meist die Ersten, die den Verlust des Fischreichtums an fernen tropischen Eilanden bemerken. Denn offizielle Statistiken über den Einfluss der lokalen Fischerei in Asien gibt es kaum. Geschult von Meeresbiologen sammeln deshalb im Reefcheck-Programm, Taucher freiwillig die Beobachtungen ihrer Tauchgänge. Die Ergebnisse sind erschreckend: Von 1107 untersuchten Riffen in 60 Ländern erwies sich im Jahr 2002 nur ein Gebiet in der Nähe von Madagaskar noch als weitgehend unberührt und gesund - alle anderen Korallenriffe waren gestört, die Arten- und Fischvielfalt drastisch eingeschränkt.
Tropische Korallenriffe sind eine der vielfältigsten und wertvollsten Ökosysteme auf der Erde. Sie sind auf die warmen Meere etwa zwischen dem 30. nördlichen und südlichen Breitengrad beschränkt. Die Riffe entstehen aus den Überresten abgestorbener Korallen, auf denen immer neue Schichten der Tierkolonien wachsen. Das Wachstum eines Riffes erfolgt sehr langsam und beträgt nur etwa ein Zentimeter pro Jahr. Der Korallenkalk neuerer (noch lebender) Riffe kann jedoch wie auf den Malediven trotzdem im Laufe von 1,5 bis 2 Millionen Jahren bis zu einer Höhe von 2200 Metern angewachsen sein.
Obwohl Korallenriffe nur etwa 290.000 Quadratkilometer des Meeresbodens bedecken - das ist rund halb so groß wie Frankreich oder 0,08 Prozent der Meeresoberfläche des Erdballs -, beherbergen sie 25 Prozent aller Arten von Meeresorganismen. Rund 4000 Fischarten sowie 90.000 wirbellose Meeresbewohner und Algen wurden bisher in Korallenriffen dokumentiert.
Doch die bunten Habitate sind auch eines der am meisten bedrohten Ökosysteme der Erde. Etwa 10 Prozent der weltweiten Korallenriffe, so das World Resources Institute, waren schon im Jahr 1993 für immer verloren und mehr als 60 Prozent gelten mittlerweile durch menschliche Aktivität als in höchstem Maße gefährdet. Das jedenfalls hat die einzige bisher weltweite Studie aus dem Jahr 1993 ergeben, in der zahlreiche Wissenschaftler anhand ihrer Daten den Zustand der Korallen einschätzten. In Asien, das die artenreichsten Korallen beherbergt, so ergab eine Studie des Instituts aus dem Jahr 2002, seien nur noch 12 Prozent der Korallen nicht durch menschliche Eingriffe gefährdet. Die Liste der Faktoren, die zum Untergang beitragen, ist lang: globale Erwärmung, falsche Küstenentwicklungsmaßnahmen, kommerzieller Raubbau der Korallen, unreglementierter Handel mit Weichtieren und Meeresprodukten für die Aquaristik, Schmuckindustrie oder traditionelle Medizin.
An vielen Orten, wo die Gesetze zum Umweltschutz noch ungenügend sind, oder wo nicht mit Nachdruck für ihre Einhaltung gesorgt wird, verwüsten die Einheimischen ihre Riffe und beuten deren Schätze übermäßig aus. An erster Stelle der Zerstörung stehen Überfischung und schädliche Fischereipraktiken. Dabei sind Kontrollen an Ort und Stelle meistens kaum möglich, und das Verständnis für den Schutz der Meeresschätze und für den Einsatz von bestandserhaltenden Ausbeutungsverfahren nicht gut genug entwickelt.
Vor der etwa 3000 Kilometer langen Küste Birmas etwa sorgen nur fünf Patrouillenschiffe für die Einhaltung der Vorschriften, wie des offiziellen Verbots des Shark finnings. Um gegen die unter falscher birmanischer Flagge operierenden thailändischen Fischer etwas zu unternehmen, werden zur Abschreckung oftmals sehr drastische Methoden angewandt: Da werden die Boote auf offener See aufgebracht und konfisziert und Kapitäne in Haft genommen. "Oder die Boote werden gleich an Ort und Stelle versenkt", berichtet Kellersohn, "und die Mannschaft ihrem Schicksal auf offener See überlassen."
Nicht überall sind solch mittelalterliche Methoden praktikabel, und selbst, wo sie angewendet werden, wirken sie nicht abschreckend. In den Weltmeeren werden sogar Kriegsschiffe gegen Piratenfischer eingesetzt. Den größten Teil des weltweit gefangenen Wildfischs aber holen die Hochseeflotten der Industrienationen aus den Weltmeeren. Hinzu kommt so genannter Beifang - Seevögel, Albatrosse, Delphine, Schildkröten und andere Tierarten, die unbeabsichtigt gefangen und größtenteils wieder über Bord geworfen werden. Daten darüber gibt es kaum. Experten schätzen, dass der Beifang so groß ist wie ein Viertel bis ein Drittel der registrierten, angelandeten Fangmenge, die nach der jüngsten Statistik der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) im Jahr 2001 rund 92 Millionen Tonnen betrug.
Der Raubbau an den Meeresbeständen hat in den letzten Jahren so zugenommen, dass bei Fortsetzung der gegenwärtigen Praktiken die Meere bald leergefischt sein würden. Nach einer Mitteilung der FAO vom Mai 2004 sind 65 Prozent der weltweit 200 häufigsten Nutzfischarten entweder bereits überfischt oder werden bis an die Grenze der Regenerationsfähigkeit befischt. Weitere 10 Prozent sind so gut wie ausgerottet oder erholen sich langsam davon.
Aber auch die Küstenfischer mit ihren zahlreichen kleinen Booten erzeugen gewaltige Probleme. Obwohl das Korallenmeer hoch produktiv ist, weil die Wassertemperatur nur leicht zwischen 25 Grad Celsius im Winter und 30 Grad Celsius im Sommer schwankt, können dort neue Fangmethoden zu Raubbau führen. Früher wurden Thunfische und Stachelmakrelen im offenen Meer noch mit den traditionellen Angelmethoden gefangen, heute sind dort Treibnetze "Gardinen des Todes" für alle Lebewesen.
Das Korallenriff selbst kann der Bevölkerung Schnapper, Zackenbarsche und viele andere essbare Fischarten zuhauf liefern. Als wichtige Nahrungsquelle kommen Garnelen, Langusten und Schnecken hinzu. Doch auch hier hat die Effizienzsteigerung bei Fang- und Sammelmethoden zum Überfischungsproblem geführt. Die meisten Korallenriffe gehören zu Entwicklungsländern, viele Einheimische müssen mit der Ausbeutung der Meeresschätze ihren Lebensunterhalt verdienen. Deshalb bedienen sie auch gern die zunehmende internationale Nachfrage.
So wird die Plünderung der Unterwassergärten etwa durch die Nachfrage international agierender Aquarienhändler noch verstärkt. Ob Falter- oder Kaiserfische, Schmetterlings- oder Kofferfische, giftige Rotfeuerfische, seltene Seepferdchen oder gar räuberische Haie: In jeder Größe und aus den entlegensten Gegenden der Welt sind heute Zierfische für das Seewasseraquarium bei Zoohändlern zu bekommen. Diese sind fast ausschließlich Wildfische und ein Großteil davon stammt von den Philippinen.
Kenner der Szene schätzen den weltweiten Umsatz im Handel mit Zierfischen, Korallen, Mollusken, Garnelen und Seeanemonen auf jährlich 170 bis 280 Millionen Euro. Weltweit würden jährlich 20 bis 24 Millionen marine Zierfische von 1500 Arten gehandelt, heißt es im Bericht der Umweltprogramms der Vereinten Nationen (UNEP) From Ocean to Aquarium: The Global Trade In Marine Ornamentals. In Deutschland erwirtschaftet dieser Handel geschätzte 16 Millionen Euro.
Die Einheimischen fangen die bunten Korallenfische in den tropischen Gewässern mit Netzen, Keschern, Reusen oder dem billigen Betäubungsmittel Natriumcyanid - verdünnte Blausäure. Doch durch das Gift werden nicht nur viele Fische getötet, sondern auch Korallenstöcke und andere Riffbewohner leiden darunter. Bis zur Hälfte der gefangenen Fische verenden außerdem in den ersten Wochen an der schleichenden Vergiftung.
Über Zwischenhändler, so genannte Transshippers, werden die Sammelbestellungen der Zoohändler importiert. Per Luftfracht werden die Fischboxen je nach Art mit Stückzahlen von bis zu 500 Fischen in alle Welt vertrieben. Während der Fischer vor Ort umgerechnet zehn Cent für einen Anemonenfisch erhält, zahlt der Kunde am Ende der Handelskette im Zoohandel fünf bis acht Euro.
Genaue Angaben über die Menge eingeführter Zierfische in Deutschland sind nicht zu finden. Wöchentlich wurden im Jahr 1999 in der Europäischen Union (EU) etwa 45.000 Anemonenfische und Chromis- Riffbarsche importiert, schätzt Robert Brons vom holländischen Großhändler DeJong. Was in geschätzt rund 300.000 Salzwasseraquarien hierzulande gelangt, bleibt unbekannt.
Selbst bei der zuständigen Behörde für Wildtierhandel, dem Bundesamt für Naturschutz, liegen keine exakten Daten vor, da diese Tiere immer noch nicht erfasst werden müssen. Seit Juni 1997 gilt EU-Recht, wonach zwar der Stör und ein paar andere Fischarten, einige Schneckenarten, Riesenmuscheln und Steinkorallen, aber kein tropischer Zierfisch vor umfangreichem Handel geschützt ist. Solange der Zoohandel keine nachgezüchteten Tropenfische anbietet, ist der beste Schutz vor Plünderung vieler Arten, wenn die Kunden ganz auf den Kauf solcher Fische verzichten.
Zumindest für den Handel mit Seepferdchen (Hippocampus spp.) wurde im Washingtoner Artenschutzübereinkommen (CITES, Convention on International Trade in Endangered Species of Wild Fauna and Flora) aus dem Jahr 2003 eine Beschränkung und sberwachung festgeschrieben. In den letzten Jahren war die Anzahl der Seepferdchen in Indonesien und auf den Philippinen dramatisch zurückgegangen - eine südafrikanische Art gilt bereits als vom Aussterben bedroht.
Denn etwa 20 Millionen Seepferdchen verarbeitete die traditionelle asiatische Medizin jährlich zu teuren und angeblich besonders wirksamen Mitteln gegen Asthma, Lethargie und Impotenz. Und schließlich enden weitere Hunderttausende als Souvenirs für Touristen. Das internationale Seahorse-Projekt mit Sitz im Londoner Zoo versucht seit Jahren diesem Aussterben entgegenzuwirken. Mit praktizierenden Anhängern der ländlichen Heilmedizin suchen sie nach Alternativen, um den Fang von wildlebenden Seepferdchen für den asiatischen Markt zu beschränken.
Auch die Vorkämpferin im Seepferdchenschutz, Amanda Vincent, Umweltbiologin von der McGill-Universität in Montreal, arbeitet an Lösungen. Auf den Philippinen hilft sie den Fischern, Schutzgebiete auszuweisen, ihren Fang sorgsam zu sortieren und trächtige Männchen in Aquarien zu halten, bis der Nachwuchs geschlüpft ist und wieder ausgesetzt werden kann. Solch eine nachhaltige Bewirtschaftung der Fanggründe funktioniere sehr gut und sollte mehr Nachahmer bei den exportierenden Staaten finden, fordert Vincent.
Die Bereitstellung von Informationsmaterial zur Aufklärung der Bevölkerung über die Zusammenhänge im tropischen Ökosystem und die restriktive Bestrafung illegaler Fischerei und Fangtechniken sind heute die dringlichsten Aufgaben zum Schutz der tropischen Fischbestände. Eine finanzielle Unterstützung der meist armen Entwicklungsstaaten für solch ein Selbstmanagement ihrer tropischen Ressourcen im Korallenmeer ist gleichzeitig unabdingbar.
aus: der überblick 02/2004, Seite 49
AUTOR(EN):
Onno Groß:
Dr. Onno Groß studierte Biologische Ozeanographie in Hamburg und Tübingen. Nach Projekten in der Biodiversitäts- und Tiefseeforschung war er Redakteur bei "National Geographic Deutschland" und arbeitet seither als freier Wissenschaftsjournalist. Er ist Gründer und 1. Vorsitzender des Meereschutzvereins DEEPWAVE (www.deepwave.org), einer Initiative zum Schutz der Hoch- und Tiefsee.