Der Konsum verändert Indiens Gesellschaft
von Urvashi Butalia
Als wir in Delhi aufwuchsen, begann ein normaler Tag mit dem frühmorgendlichen Ruf des Gemüseverkäufers. Blumenkohl, Kohl, Tomaten, Zwiebeln wurden zur Sprache der Dichtung und des Liedes, als die Gemüseverkäufer miteinander wetteiferten, um ihre Waren zu verkaufen. Bald danach kam der Milchmann, der Kannen und eine große Schöpfkelle mit sich trug. Ich erinnere mich noch, wie aufgeregt ich war, als ich das erste Mal mit einer Schüssel hinausgehen durfte, in die die Milch gegossen wurde frisch und schaumig, noch warm von den Kühen.
Es folgte eine lange Reihe von Verkäufern, die Brot, Obst, Reparaturarbeiten für Öfen und Dampfkochtöpfe anboten, Aufreiharbeiten für Halsketten, Webearbeiten für Kinderbettchen, Flechtarbeiten für Stühle. Alle diese Menschen wurden Freunde, denn sie brachten nicht nur Nachbarn zusammen zum Verzehr einer reifen Tomate oder einer Tüte Erdnüsse, sondern sie ließen uns alle auch an ihren Geschichten und ihrem Familienleben teilhaben.
Dann kam eine andere Entwicklung; Mit viel Getöse und Aufregung trat eine neue Struktur mit der Bezeichnung Super Bazaar in unser Leben. Wie seinerzeit vieles andere auch war das ein staatliches Geschäft, das eine beschränkte Anzahl von Konsumgütern unter einem Dach anbot. Der Gemüseverkäufer verschwand nicht, doch der kleine Lebensmittelladen um die Ecke, wo die meisten Menschen ihren Reis, ihr Mehl und ihre Linsen kauften, hatte jetzt Konkurrenz. Super Bazaar bot Saatgut, Öl, Gewürze, Seife, Waschpulver, Staubtücher, Besen und etliche Konsumgüter wie Uhren, Heizkörper und vieles andere zu annehmbaren Preisen an.
Super Bazaar begann mit einem Laden im Zentrum der Stadt. Es war immer eine größere Expedition, um dorthin zu gelangen. Familien fuhren mit dem Bus, verbrachten den ganzen Tag dort und kamen dann beladen mit Dingen für den Haushalt zurück. Bald eröffnete Super Bazaar Einzelhandelsgeschäfte in anderen Teilen der Stadt. Ein bewusstes Konsumverhalten war damals noch kaum entwickelt, die Auslagen von Super Bazaar waren scheußlich, die Verpackung war noch schlechter. Aber die Preise stimmten. Und dann ging Super Bazaar nach etwa zwanzig Jahren den gleichen Weg wie viele Einrichtungen des öffentlichen Sektors er starb einen langsamen Tod.
Heute ist alles anders. Die Gemüseverkäufer kommen zwar immer noch, auch Lebensmittelgeschäfte sind in der Nachbarschaft immer noch zahlreich. Doch ihre Tage sind gezählt. Ein bedeutender Industrieller hat bereits mit der Verwirklichung seines Planes begonnen, im ganzen Land über 150 Lebensmittel-Hypermärkte einzurichten. Es gibt bereits andere größere Ketten, und im Zuge des steilen Anstiegs der Einkommen der indischen Mittelschicht ist noch ein Phänomen aufgetreten, die Shopping Mall. Bis vor kurzem hätten die meisten Inder wohl Schwierigkeiten gehabt, zu beschreiben, was eine Shopping Mall ist. Einige kennen zwar solche Malls von ihren Reisen in andere Länder, doch in Indien waren diese bis vor 15 Jahren selten.
Heute sind sie allgegenwärtig und in fast allen Städten zu finden. Jede neue ist größer und glänzender als die vorherigen, und sie wetteifern miteinander mit einem möglichst weitgefächerten Angebot, um Kunden anzuziehen. In einem Rundfunksender in Delhi wird für ein Einkaufszentrum geworben, das einen Fluss überspannt: Cross River Mall ist angeblich das größte und beste Einkaufszentrum in Asien. Eine andere Werbung, die das noch übertreffen will, lädt Menschen zum Besuch eines Einkaufskomplexes ein und sagt stolz: "Ja, lieber Hörer, wir sind ein Komplex und kein Zentrum." Was die beiden voneinander unterscheidet, wird nicht näher erläutert.
Shopping Malls haben nicht nur die städtische Szenerie in großen Teilen Indiens verändert, sondern auch das Verhalten, die Ausgabeformen, die Lebensstile der Stadtbewohner. Zum einen sind sie oft so riesig, dass alles andere in Sichtweite sehr klein erscheint. Sie verbrauchen viel Energie, da sie ständig helle Beleuchtung benötigen, nicht nur als Lichtquelle, sondern auch, um sie attraktiv aussehen zu lassen und Kunden anzuziehen. In den meisten großen Städten, wo die Straßen mit immer mehr Autos vollgestopft sind, gefährden Shopping Malls den Verkehr, verursachen Staus und Schneckentempo. In der Nähe meines Hauses in Delhi befindet sich auch so eine Mall. An Sonntagabenden und vielen anderen Abenden fahre ich ungern daran vorbei, denn zu gewissen Tageszeiten wird diese Fünf-Minuten-Strecke zu einem Albtraum.
Das wäre in mancher Hinsicht nicht so schlimm, wenn die Waren in den Shopping Malls billiger wären als in Einzelhandelsgeschäften. Eigentlich müssten die Preise niedriger sein, weil viele Läden unter einem Dach untergebracht sind und so die fixen Kosten besser verteilt werden können. Doch in Indien besteht ein solcher Vorteil noch nicht, von vereinzelten Lebensmittel-Einkaufszentren einmal abgesehen. Denn die meisten Shopping Malls befinden sich in Top Lage. Dadurch ist die Miete so hoch, dass sich nur die edelsten Geschäfte hier auf Dauer niederlassen können. Und diese haben ständig hohe Preise. Auch die Energiekosten und die Kosten für eine große Anzahl von Sicherheitspersonal und für Designerbeleuchtung und -ausstattung sind nicht gerade gering. Um möglichst viele Kunden anzuziehen, müssen Malls auch Geld für Verpackung und Präsentation ausgeben, was ebenfalls auf den Kunden abgewälzt wird.
Die Shopping Mall wird somit zu einem teuren und häufig exklusiven Ort. Für die Reichen sind sie wegen der Anzahl von Designerläden und der exklusiven Waren, die man nur hier bekommt, attraktive Orte. Wer in der Mall X oder Y einkauft, gibt damit seinen sozialen Status zu erkennen. Man ist, was man einkauft, wo man einkauft und mit wem man einkauft. Deshalb kommt die besondere Kundschaft im eleganten, schnittigen, von einem Chauffeur gefahrenen Auto an, wandelt in Designerkleidung umher, kauft in exklusiven Geschäften ein. Da begegnet man nicht dem Pöbel, da steht man nicht in einer Schlange mit Köchen, Gärtnern und Schornsteinfegern. Das gleiche, was auch in einem Geschäft in einem weniger schicken Stadtteil erhältlich ist, kann man in solch einer Shopping Mall zum doppelten Preis erwerben, schön eingepackt und von einem Bediensteten in Livree zum Auto gebracht. Für die weniger Begüterten werden die Shopping Malls zu Symbolen des Status, den sie anstreben: In eine Mall zu gehen, wird zu einer Methode, seinen eigenen sozialen Aufstieg kundzutun oder zu bekräftigen, dass man sich auf dem Weg nach oben befindet. Man hat vielleicht nicht das Geld, um zu kaufen, doch kann man zumindest schauen und sich in der Präsenz von Wohlstand bewegen.
Vor jeder Shopping Mall sind zahlreiche arme Kinder und Bettler, die nachdrücklich daran erinnern, dass aller Glanz der Welt die hässlichen Realitäten des realen Lebens nicht beseitigen kann. Die Kinder, die vor den Malls herumlungern und manchmal staunend und ehrfürchtig die ausgestellten Waren anstarren, sind häufig die Kinder der armen, unterbezahlten und ausgebeuteten Arbeiter, die die Shopping Mall gebaut haben denn in Indien geschehen noch viele Bauarbeiten mit der Hand. Der Ort, an dem sie arbeiteten und vor dem sie campierten, solange er nur aus Mauern und Trägern bestand, ist ihnen nun nicht mehr zugänglich.
Wo sich früher ein ausgedehntes Gebiet von Feldern und Bauernhöfen befand, liegt heute Gurgaon, ein Vorort von Dehli. Das dortige Zentrum der Informationstechnologie (IT) beherbergt eine große Anzahl von Call-Centern, IT-Fabriken sowie einige der größten Shopping Malls im Land. Die Hauptschnellstraße, die sich durch diese IT-Stadt zieht und an der sich mehrere Einkaufszentren befinden, ist auch eine Verkehrsader, die nach Delhi führt. Wer etwa von Rajasthan nach Delhi fährt, benötigt für diesen Abschnitt, der mit Autos vollgestopft ist, die zu den Shopping Malls fahren, manchmal mehr Zeit als für den gesamten Rest der Fahrt. Verkehrsstaus nerven, und gereizte Nerven führen zu Straßenkollern, und was als Einkaufsbummel oder Familienausflug mit Essen in einem neuen Restaurant in einem Einkaufszentrum begann, kann manchmal in hässlichen Gewaltausbrüchen und Wut enden. Es ist schwer zu sagen, ob die Zentren das herbeiführen oder ob es an den betreffenden Personen selbst liegt.
Wenn Gurgaon heute eine Stadt von Shopping Malls ist, dann ist Straßenkoller nicht der einzige Preis, den sie zu zahlen hat. Denn die Architektur der meisten Einkaufszentren in Indien ist dem Klima des Landes völlig unangemessen. In einem Land, in dem die Sommertemperaturen manchmal bis zu 48 oder 50 Grad steigen können, könnte man sich nicht in einer umschlossenen Struktur aufhalten, wenn sie nicht klimatisiert ist. Die Shopping Malls sind aber auch deshalb ein Anziehungspunkt für viele Inder, weil sie im Sommer kühl und im Winter warm sind. Das erfordert sehr viel Energie und in den meisten indischen Städten herrscht Stromknappheit. So kommt es zu häufigen Stromausfällen, Pannen und Blackouts, vor allem im Sommer, wenn der Strombedarf am größten ist. Deshalb haben die Shopping Malls ihre eigenen Generatoren, große Gebilde, welche die Umwelt schädigen, sowohl durch Lärm als auch durch ihre Dämpfe.
Konsumrausch, offene Zurschaustellung von Wohlstand, Verkehrsstaus, Energieverschwendung, Umweltverschmutzung, zunehmender Lärmpegel haben die Malls überhaupt etwas Positives zu bieten? In mancherlei Hinsicht ist die Shopping Mall das perfekte Symbol der Bestrebungen einer aufsteigenden Mittelschicht. Sie hilft den Menschen, einen Lebensstil anzustreben, der dann durch geballte Werbung in elektronischen Medien, Hochglanzzeitschriften von Filmstars und anderen Berühmtheiten unterstützt wird.
Der Erfolg der Shopping Malls hat auch mit dem raschen Wachstum der Kultur des Plastikgeldes zu tun. Bis vor kurzem wurde im Land nur mit Bargeld bezahlt, doch inzwischen ist Plastikgeld in Indien weit verbreitet. Während Indien früher unter Devisenmangel litt, verfügt es jetzt über hohe Devisenreserven. Das bedeutet, dass Inder nunmehr internationale Kreditkarten verwenden können. Die Zeiten sind vergangen, als sie für Auslandsreisen nur jedes zweite Jahr 500 US-Dollar Bargeld genehmigt bekamen. Und wenn man Plastikgeld verwendet, beeinträchtigt einen das lästige Gefühl des Geldausgebens dabei weniger. Auch das macht den Einkauf in einer Shopping Mall leichter. Im Laden an der Ecke braucht man Bargeld, in der Mall braucht man nur eine Plastikkarte mit Kredit.
Die Ausbreitung von Shopping Malls hat besonders für die städtische Jugend in Indien noch eine anderen positiven Effekt: Sie hat neue Räume geöffnet, wo man zusammenkommen und Zeit miteinander verbringen kann. In einer Gesellschaft, die im Großen und Ganzen nicht permissiv ist, ist eine Shopping Mall ein relativ "sicherer" Treffpunkt für junge Männer und Frauen oder auch Personen des gleichen Geschlechts. Es ist ein öffentlicher Ort und doch anonym, hat Restaurants und Kinos, jedoch keine wirklich dunklen Ecken. Eltern, die sich Sorgen machen würden, wenn ihre Kinder auf der Straße "herumlungern", sind relativ gelassen, wenn die Kinder in eine Shopping Mall gehen. Und das könnte auf lange Sicht den Beginn neuer Formen der Sozialisierung von jungen Indern bedeuten.
Hinzu kommen noch die neue Art von Restaurants, Fast-Food-Stätten und eleganten Geschäften, die in den Einkaufszentren entstehen und die neue Beschäftigungsmöglichkeiten für junge Menschen geschaffen haben, insbesondere für Mädchen. Früher wäre die Tätigkeit als Verkäuferin für eine junge Frau nicht das Rechte gewesen, vor allem weil in traditionelle Läden alle möglichen Kunden kommen. Doch Einkaufszentren sind anders, der Zugang zu diesen, auch wenn er angeblich öffentlich ist, wird recht sorgfältig überwacht. Niemand, der in Lumpen gekleidet ist, kann ein Einkaufszentrum betreten. Es gibt somit eine Klassenschranke verbunden mit der oft fälschlichen Annahme, dass von Menschen einer bestimmten Gesellschaftsschicht keine Gefahr ausgeht. Viele Eltern, die sich der Beschäftigung ihrer Töchter in einem einfachen Laden früher widersetzt hätten, sehen es recht gerne, wenn diese nunmehr für Chanel oder ein exklusives Uhrengeschäft oder auch nur Pizza Hut oder McDonald's arbeiten. Auf diese Weise haben Shopping Malls eine ganz neue Welt für junge Angehörige der Mittelschicht und der unteren Mittelschicht eröffnet, sich nunmehr außerhalb der vier Wände ihres Hauses bewegen zu können und eine gewisse wirtschaftliche Unabhängigkeit zu erwerben.
Veränderungen sind oft beschwerlich. Für Indien, eine Gesellschaft, die nach der Entlassung in die Unabhängigkeit einen Weg der Eigenständigkeit wählte, war der Eintritt in die globale Welt nicht leicht. Es gab eine Zeit, da Inder stolz darauf waren, dass sie zu den wenigen Ländern der Welt gehörten, die Coca Cola hinausgeworfen und ihre eigenen Marken von kalten Getränken hergestellt hatten, die sehr populär waren. Früher gab es in Indien keine McDonald's und Pizza Huts und keine Shopping Malls.
All das ist nun jedoch fast selbstverständlich und wird es bleiben. Und da viele dieser Neuerungen sich als unentbehrlich darstellen, ist es umso schwieriger, über ihre negativen Seiten zu sprechen.
aus: der überblick 03/2007, Seite 76
AUTOR(EN):
Urvashi Butalia
Urvashi Butalia ist Verlegerin und Schriftstellerin und lebt in Delhi.
Ihr Buch "The Other Side of Silence: Voices from the
Partition of India", Duke University Press, Durham,
USA, hat mehrere Preise gewonnen.