"Ich hatte einen Beruf, bei dem ich mich selbst entwickeln konnte"
Helmut Hertel, einer der dienstältesten Mitarbeiter in der kirchlichen Entwicklungsarbeit, geht Ende Juli in den Ruhestand. Von 1971 an war er als Referent für Dienste in Übersee tätig, wurde zwei Jahre später Referatsleiter und 1975 DÜ-Geschäftsführer. 1994 übernahm Helmut Hertel die Leitung der Planungs- und Grundsatzabteilung der Arbeitsgemeinschaft Kirchlicher Entwicklungsdienst. In den letzten Jahren hat er am Aufbau des Evangelischen Entwicklungsdienstes EED mitgewirkt.
von Frank Kürschner-Pelkmann
Herr Hertel, wie sind Sie zur kirchlichen Entwicklungsarbeit gekommen?
Ich habe in den sechziger Jahren Elektrotechnik studiert und dann gemerkt, dass ein solcher Berufsweg doch nicht die richtige Zukunft für mich eröffnen würde. Ich habe deshalb ein wirtschaftswissenschaftliches Aufbaustudium angeschlossen. In der Evangelischen Studentengemeinde lernte ich viele Studierende aus Übersee kennen und engagierte mich für Dritte Welt-Anliegen. Ich hatte zu dieser Zeit auch sehr engen Kontakt zur Gossner Mission in Mainz, die sich in Deutschland vor allem in der Industriemission engagierte. Ich wurde gefragt, ob ich Lust hätte, nach dem Studium für die Gossner Mission nach Indien zu gehen. Dort suchte man einen Mitarbeiter, der ein technisches Ausbildungszentrum leiten könnte, um es in indische Hände überzuleiten. Das war mein Einstieg in die kirchliche Entwicklungsarbeit. Ich habe begeistert zugesagt und mich mit meiner Familie auf dieses Abenteuer eingelassen.
Was war im Rückblick Ihre wichtigste Einsicht in Indien?
Diese Einsicht lag weniger auf entwicklungspolitischem als auf kultur- historischem Gebiet. Mir wurde deutlich, dass Indien ein Kontinent mit einer Vielfalt an Völkern und einer sehr alten Kultur ist. Irgendwie kam ich mir dort komisch vor als Entwicklungshelfer, denn Indien hatte vieles zu bieten, was in Europa nicht zu finden war. Die Inder waren nicht nur auf ihre Kultur sehr stolz, sondern auch auf den wissenschaftlichen Hintergrund ihres Landes.
Wie sind Sie trotzdem zu Dienste in Übersee gekommen, einer Organisation, die Fachpersonal vermittelt?
Schon in der Vorbereitung auf die Arbeit in Indien hatte ich mit DÜ Kontakt bekommen, weil die Gossner Mission mich dort hinschickte, um an einem Vorbereitungskurs teilzunehmen. In Indien selbst waren in unserem Zentrum auch Fachkräfte von DÜ tätig. Gegen Ende meiner Zeit in Indien wurde ich von Dienste in Übersee gefragt, ob ich nicht anschließend in einem Ausbildungszentrum in Uganda arbeiten wollte. Auf der Rückreise aus Indien bin ich dann nach Afrika gereist, aber als ich in Nairobi ankam, erfuhr ich, dass ein Einsatz in Uganda doch nicht möglich sein würde. Nach meiner Rückkehr nach Deutschland hat DÜ mich angesprochen, ob ich Referent in der Geschäftsstelle werden wollte. So habe von 1972 an als Referent für Bildung und Technik in der Stuttgarter Geschäftsstelle gearbeitet.
Die siebziger Jahre waren eine Zeit des Aufbruches der Ökumene und des Entwicklungsdienstes. DÜ verstand sich als Teil der ökumenischen Bewegung. Wie hat sich nach Ihrer Beobachtung das Verhältnis von Ökumene und Entwicklungsdienst in den folgenden Jahren und Jahrzehnten entwickelt?
Es bestand damals ein sehr enges Verhältnis, dass durch gegenseitige Befruchtung, aber auch Spannung geprägt war. Ich kann mich an viele Konferenzen erinnern, wo ökumenische Partner auf Konfrontation mit uns aus dem Norden gegangen sind. Eine Leitfigur war damals Burgess Carr, der Generalsekretär der Allafrikanischen Kirchenkonferenz. Es war sehr beeindruckend, mit welcher fast Arroganz wir aus dem Norden behandelt wurden als diejenigen, die gewissermaßen verpflichtet seien, ihre Möglichkeiten den Partnern im Süden zur Verfügung zu stellen, ohne daran irgendwelche Bedingungen zu knüpfen.
Ein besonders attraktives Unternehmen war damals das ÖRK-Programm Churches Commission for Participation in Development (CCPD). Ich habe in diesen sehr spannenden und fruchtbaren Diskussionen sehr viel gelernt.
Was ist aus diesem engen Verhältnis der Entwicklungsdienste zur weltweiten Ökumene geworden?
Der ökumenische Enthusiasmus hat abgenommen, und auch das Verhältnis ist heute nicht mehr so eng. Sowohl die Dienste im Norden als auch die Partner im Süden scheinen nicht mehr auf die Ökumene angewiesen zu sein und klären vieles bilateral und multilateral miteinander. Der ÖRK seinerseits hat sich umorientiert und sich sehr viel stärker auf seine Mitgliedskirchen besonnen. Auch ist der Stab stark reduziert worden, und damit ist auch das Potential für eine Zusammenarbeit mit den Entwicklungsorganisationen geringer geworden. Die Gruppen und Organisation spielen aus dem Genfer Blickwinkel nicht mehr die Rolle, die sie vor 20 Jahren gehabt haben. Die Hilfswerke arbeiten weiter eng mit dem ÖRK zusammen, aber die Auseinandersetzungen und gegenseitigen Befruchtungen haben abgenommen.
Welche Themen wurden bei DÜ und den anderen kirchlichen Entwicklungsorganisationen diskutiert, als sie dort anfingen?
Damals stand der Slogan "Entwicklung ist Befreiung" sehr stark im Mittelpunkt der Diskussion, und daher waren auch Befreiungsbewegungen ein attraktiver Partner für die Zusammenarbeit. Das hat damals in den deutschen Kirchen zu vielen Auseinandersetzungen geführt, vor allem das Antirassismus-Programm des ÖRK. Dieser Aufbruch im Süden der Welt hat auch viele Entwicklungshelferinnen und Entwicklungshelfer begeistert und eine große motivierende Kraft gehabt.
Was ist aus diesen Hoffnungen geworden?
Inzwischen ist eine gewisse Ernüchterung eingetreten. Vielleicht waren die Erwartungen in die Bewegungen im südlichen Afrika und dann später in Nicaragua überzogen. Es gab damals schon Warnungen vor einer Ideologisierung, und ich würde heute sagen, dass diese Warnungen berechtigt gewesen sind. Es haben wichtige Aufbrüche stattgefunden, aber sie sind — biblisch gesprochen — in die Mühen der Ebenen eingemündet. Simbabwe war ein Land, mit dem viele Hoffnungen verbunden wurden, aber was dort heute passiert, ist ein Trauerspiel. Trotzdem gab es dort und in anderen Ländern Impulse, die weiterwirken. Und es sind viele sinnvolle Projekte entstanden, die wichtig geworden sind.
Ein wichtiger historischer Einschnitt war das Jahr 1989. Wie haben sich die dramatischen Veränderungen in der Weltpolitik auf den kirchlichen Entwicklungsbereich ausgewirkt?
Auf dem Höhepunkt der Ereignisse haben wir eine Tagung zur kirchlichen Entwicklungsarbeit durchgeführt, und unsere gemeinsame Überzeugung war, dass die Entwicklungsländer ein Stück ihrer Verhandlungsmacht verlieren würden. Das Ausspielen des Ost-West-Gegensatzes war bis dahin eine Möglichkeit für die Entwicklungsländer, an Ressourcen zu kommen. Und in der Tat hat diese Verhandlungsmacht seither abgenommen. Wir haben damals außerdem den Eindruck gehabt, dass sich hier in Deutschland die öffentliche Meinung und die Menschen stärker für die neuen Bundesländer und Osteuropa interessieren werden und das Interesse an der Dritten Welt abnehmen wird. Auch das ist tatsächlich so geworden. Die Dritte-Welt-Bewegung hat heute nicht mehr den Stellenwert, den sie damals hatte.
Interessant ist aber auch, dass vieles, was man damals etwas künstlich in der Inlandsarbeit hat propagieren müssen, also Zusammenhänge zwischen Fragen hier und in Übersee, heute den Menschen sehr viel offensichtlicher bewusst ist. Deutschland steht heute sehr viel stärker im internationalen Standortkonkurrenzkampf, auch mit Ländern der Dritten Welt und Ländern in Osteuropa. Dass wir Teil einer globalen Auseinandersetzung und globalen Veränderungsbewegung sind, ist vielen Menschen inzwischen sehr viel bewusster geworden, als wir das damals durch Bildungsarbeit haben vermitteln können.
Ein ganz anderes Thema: In der kirchlichen Entwicklungsarbeit hat es einen Trend hin zu einer größeren Professionalisierung gegeben. Wie beurteilen Sie das Verhältnis von Spontaneität und Professionalität in dieser Arbeit?
Es hat eine solche Veränderung stattgefunden. Ich hätte heute nicht zugelassen, dass jemand wie ich damals nach Indien geschickt wird, ohne über praktische Erfahrungen zu verfügen, geprägt durch das Studium, vor allem aber durch Begeisterung. Auch in den ersten Jahren meiner Mitarbeit bei DÜ haben wir sehr viele Menschen vermittelt, die wirklich begeistert an die Arbeit gegangen sind. Später hat das Professionelle eine größere Rolle gespielt, ebenso das Absicherungsinteresse. Viele Fragen in Übersee sind schwieriger und komplizierter geworden. Wenn wir von hier aus einen Beitrag leisten wollen, dann muss das auf einem höheren beruflichen Niveau passieren, als das vor 30 Jahren der Fall war.
Gleichzeitig wird heute sehr viel stärker geprüft, ob ein Programm auch Wirkungen hat. Früher spielte der gute Wille eine viel größere Rolle, jetzt muss stärker nachgewiesen werden, dass etwas Positives bewirkt wird. Das ist richtig, aber Partner leiden auch etwas darunter, dass sie sehr stark unter den Wirksamkeitsdruck gesetzt werden. Das kann die Beziehung zwischen Menschen hier und dort belasten.
Auch sucht man stärker Partner, die diesen Voraussetzungen entsprechen. Ich bedaure manchmal, dass man Partner, die einen veralteten Entwicklungsansatz haben, nicht mehr akzeptiert und habe mir gesagt: Es geht darum, Entwicklung in Gang zu bringen, also nicht Entwickeltes zu unterstützen, sondern gerade das weniger Entwickelte ist uns aufgetragen. Ich meine, man sollte auch weiterhin Partner akzeptieren, die in dieser Hinsicht noch einen gewissen Nachholbedarf haben, und das vermisse ich manchmal.
Welche Bilanz ziehen Sie nach drei Jahrzehnten Mitarbeit in der kirchlichen Entwicklungsarbeit?
Ich blicke nicht im Zorn zurück, sondern die Arbeit hat sehr viel Spaß gemacht. Und ich meine auch, dass die Arbeit sehr viel gebracht hat. Entwicklung ist möglich und passiert auch. Viele Menschen in meiner privaten Umgebung haben mich immer beneidet um diese interessante Aufgabe. Ich habe einen sehr schönen und interessanten Beruf gehabt, der mich selbst entwickelt hat, und dafür bin ich auch noch bezahlt worden. Das war eine ideale Kombination.
aus: der überblick 02/2001, Seite 106
AUTOR(EN):
Frank Kürschner-Pelkmann:
Frank Kürschner-Pelkmann ist Redakteur der FORUM-Seiten im überblick