"Aus einem Stück Holz wird nie ein Krokodil"
Immer mehr Menschen in Schwarzafrika sehen die Lösung für ihre Probleme in der Arbeit im Ausland. In der Casamance im Süden Senegals schicken viele Familien ihre Söhne oder Töchter nach Europa, weil sie ohne deren Überweisungen nicht mehr überleben können. Die Erträge ihrer Felder sinken seit Jahren, und ein Teil der Felder wurde durch Rebellen vermint. Für manche der Migranten entpuppt sich jedoch der Traum vom schnellen Reichtum als Albtraum.
von Lisa Hörler
Am Anfang standen Verwandte und Nachbarn, die so gerne Ferngespräche führten, dass die Telefonrechnung in astronomische Höhen schnellte. Daraufhin beschaffte sich Augustin Badiane einen Gebührenzähler. Der Mann aus dem Städtchen Oussouye in der Casamance im Süden Senegals rückt seine Brille zurecht und schmunzelt. Ohne den Gebührenzähler fürs Telefon hätte er heute in Oussouye kein eigenes Geschäft: ein Telecentre, das täglich gute Umsätze macht. Das verdankt er seiner Tochter Agnes.
Agnes ist Emigrantin. Sie war zuerst aus der Casamance in die senegalesische Hauptstadt Dakar gezogen. "Lokale" oder "nationale Migration" nennt man das. Es ist häufig der erste Schritt auf dem Weg ins Ausland. Agnes arbeitete in Dakar zunächst als Dienstmädchen beim italienischen Botschafter und zog dann vor zwölf Jahren mit ihm nach Italien. Um ihre Familie telefonisch erreichen zu können, schickte sie Geld für die Installation eines Telefons nach Hause. Der 70-jährige Badiane schildert, wie dieses Telefon unter - wie er es nennt - "usage abusif" litt, zu Deutsch: wie die halbe Stadt sein Telefon kostenlos nutzte. So bat er seine Tochter, ihm nochmals Geld zu schicken für einen Gebührenzähler. Seither wird das Telefon als Telecentre benutzt, die Leute bezahlen ihre Gespräche. Punkt.
Badiane war früher Leiter einer Tanzgruppe in Dakar. Als er in den Ruhestand treten musste, kehrte er zurück in die Casamance. Ohne die Hilfe seiner Tochter, die ihm aus Rom regelmäßig Geld schickt, hätten er, seine Frau und die elf Geschwister von Agnes große finanzielle Schwierigkeiten gehabt.
Badiane sitzt in seinem kleinen Büro im hinteren Teil des Telecentre, das zugleich Schreibwaren-und Buchladen ist; er ist umgeben von Stapeln von Papieren, Heften, Büchern und scheint in ihnen fast zu schwimmen. "Alle profitieren von der Migration", holt er aus zu seinem Lieblingsthema. "Derjenige, der emigriert, profitiert, weil er mehr Geld verdient", sagt er. Aber auch der Europäer profitiere von der Immigration, weil er selbst die vielen schlecht bezahlten Arbeiten gar nicht mehr verrichten wolle. Emigranten hingegen erledigten jede Arbeit, auch wenn sie eine gute Ausbildung hätten, denn Hauptsache sei, dass sie etwas verdienten. Es sei ein Geben und Nehmen, ein "Kulturaustausch".
Als Badiane auf Besuch in Europa war, hätten die Leute ihn betrachtet "wie jemand, der ihnen etwas wegnehmen will". Dabei stamme ein Teil des heutigen europäischen Reichtums aus Afrika, die Franzosen hätten viele Rohstoffe aus Senegal importiert und davon profitiert. "Heute ist es umgekehrt, wir sind auf sie angewiesen."
Fast alle Familien in der Casamance sind zumindest nebenerwerblich in der Landwirtschaft tätig. Aber seit seiner Rückkehr aus Dakar habe die Verwaltung von Oussouye seiner Familie fast keine Felder mehr zugeteilt, sagt Badiane. Dafür gibt es zwei Gründe: Die Zahl der Reisfelder nimmt ab, weil Salzwasser in die Felder dringt. Und im Süden von Oussouye sind die Felder zum Teil vermint.
Auch Marie Sambou (Vorname geändert) ging als Wanderarbeiterin nach Frankreich, weil die Ernteerträge der Familie Sambou in den vergangenen Jahren immer geringer geworden sind. Marie hat keine Arbeitsbewilligung für ihre Tätigkeit als Dienstmädchen. Dabei hatte sie in Dakar die Hotelschule absolviert und verfügt über ein Diplom. Nein, Marie Sambou gehört nicht zu den "neuen Sklavinnen", die vom Comité contre l'esclavage moderne (Komitee gegen moderne Sklaverei) in Paris ausgemacht wurden: Das sind Tausende von Migrantinnen in Frankreich, die hinter verschlossenen Türen in einem Haushalt malochen, 15 bis 18 Stunden pro Tag, sieben Tage pro Woche, ohne Freizeit, ohne Lohn, häufig misshandelt und geschlagen (vgl. "der überblick" 01/2002).
Marie arbeitet zwar schwarz, hat aber einen relativ anständigen Arbeitgeber. Sie wohnt in einem winzigen Zimmer in der Agglomeration, einem Wohnghetto von Paris. Ihr rosa T-Shirt, die abgewetzten Schuhe und der knielange Rock stammen offensichtlich aus Second-Hand-Beständen. Sie erhält 6,30 Euro pro Stunde, arbeitet etwa 30 Stunden pro Woche. So kommt sie auf rund 760 Euro im Monat. Gut 180 Euro davon zahlt sie für die Miete, 80 Euro für den öffentlichen Nahverkehr - da bleibt nicht viel zum Leben übrig. "Frankreich ist sehr, sehr teuer", sagt sie. "Gott sei Dank habe ich eine afrikanische Erziehung und brauche sehr wenig. Ich esse eben täglich Reis, manchmal mit etwas Fisch."
Was dann noch übrig bleibt, geht an ihre Eltern in Djembereng in der Casamance: rund 230 Euro alle drei Monate. "Schließlich haben früher eine ganze Anzahl Verwandte und Freunde, allen voran mein Vater, Geld für mein Ticket nach Frankreich zusammengekratzt", erklärt sie. "Jetzt möchte ich mich revanchieren." Marie ist nicht der Typ, der sich beklagt. Nur die Tatsache, dass sie schwarz arbeitet, bedrückt sie. "Ich habe immer Angst, dass das Ganze einmal auffliegt."
Ihr Heimatdorf Djembereng ist ein idyllischer Ort direkt am Atlantik, rund acht Kilometer vom Touristen-Eldorado Cap Skirring mit dem Club Mediterrané entfernt. Ein mächtiger Urwaldriese, ein Kapokbaum (oder Fromager) mit seinem Stamm wie aus schlangenförmigem Wurzelwerk, bildet das Zentrum des Dorfes. Wir treten in ein solides Haus mit dicken Lehmmauern, das Haus der Eltern Sambou. Albert Sambou war früher Bürgermeister von Djembereng. Die vergilbten Fotos an den Wänden des Wohnzimmers künden aus dieser Zeit: Der Bürgermeister begrüßt eine Delegation des Club Mediterrané.
Albert Sambou ist seiner Tochter für die finanziellen Zuwendungen sehr dankbar. Sie verdient sehr viel Geld in Paris, sagt der 63-Jährige. Sambou weiß nicht, dass sich seine Tochter die Scheine schwarz verdient. Der Vater geht davon aus, dass sie eine gute Stelle in einem Restaurant in Paris hat. Dabei hat Sambou früher selbst in Frankreich gearbeitet. Sehr jung, als 19-Jähriger, ging er nach Lyon, eingeladen von einer Familie, die ihn "wie ein Adoptivkind" behandelte. Eigentlich hatte er studieren wollen, aber da er kein Stipendium erhielt, arbeitete er während zehn Jahren in einer Leder-und in einer Papierfabrik.
Im Jahr 1968 kehrte Sambou nach Djembereng zurück. Das Heimweh trieb ihn, die Sehnsucht nach seinem Vater, denn die Mutter war früh gestorben. Sambou hatte etwas Geld erspart. Als er später heiratete, führten Albert Sambou und seine Frau zunächst einen Lebensmittelladen. Später bauten sie sich aus den Ersparnissen ein Campement, ein einfaches Hotel ländlichen Typs. Sein Campement rural intégré (CRI) liegt traumhaft schön, direkt am Strand. Jahrelang warf es für ihn und seine vier Kinder genügend Gewinn ab. Zusätzlich führte die Familie Sambou einen "Mittagstisch", ein Restaurant, das von Touristengruppen besucht wurde.
Seit einigen Jahren lassen sich die Touristen nicht mehr blicken. Das Campement steht leer, der Mittagstisch hat ausgedient. "Die Reisebüros im Norden, in Dakar, werden nicht müde, zu behaupten, dass es in der Casamance wegen der Rebellen zu gefährlich sei", klagt er. In Wahrheit gibt es in der Touristenregion Cap Skirring (zu der Djembereng gehört) seit Jahren keine Überfälle von Rebellen oder Banditen. Die Region der Basse Casamance gilt als absolut ungefährlich. Cap Skirring empfängt im Winterhalbjahr Tausende von Touristen, weil es einen eigenen Flughafen besitzt, auf dem Charterflugzeuge mit Gästen für den Club Med (mit riesigem Golfplatz) und für eine Anzahl weiterer Hotels landen. Sambous Campement hingegen geht seit einigen Jahren leer aus. Bei ihm kehrten Rucksack-und Individualtouristen ein. In der Casamance auf eigene Faust mit dem Buschtaxi von CRI zu CRI herumzureisen, ist vielen zu gefährlich geworden. Hinzu kommt, dass auch die Reisfelder der Familie Sambou wegen der Versalzung durch das Meer viel geringere Erträge abwerfen.
Unter schrumpfenden landwirtschaftlichen Erträgen leidet auch der Fetischpriester Atabo Diatta in Oussouye. Diatta hat schon mehrere Zeremonien veranstaltet, um den Frieden in der Casamance herbeizubeten. Er nennt sich "Féticheur de la Paix", Fetischpriester des Friedens. Wenn jemand ihn bitte, einen bösen Fetisch durchzuführen, schwarze Magie also, dann weigere er sich. Durch einen Fetisch - beispielsweise einen Baum oder einen Stein, dem übernatürliche Kräfte zugeschrieben werden - gelangt Diatta an Gott und betet um Frieden. Palmwein wird auf die Erde geträufelt, ein Huhn, ein Schwein oder eine Ziege geopfert. Einige Weise und Berater stehen Diatta jeweils zur Seite, wenn es darum geht, für jemanden - oder für die ganze Casamance - um Glück, Gesundheit oder Frieden zu beten. Und wenn es eine Bittstellerin ist, übernimmt häufig Diattas Frau Alouga die Zeremonie; denn sie ist ebenfalls Fetischpriesterin.
Die Eheleute sind außerdem Bauern. Auch ihre Ernten haben sich stark verringert. Elf Kinder hat das Fetischpriester-Paar. Ihr drittes Kind ist ausgewandert und wohnt in der Schweiz. Tochter Madeleine greife ihnen finanziell sehr unter die Arme, lobt Diatta, denn weder als Fetischpriester noch als Landwirt verdiene er heute genug zum Überleben. Ob ich die Tochter in der Schweiz nach meiner Rückkehr besuchen werde, fragt mich Diatta. Ich nicke, und Atabo Diatta bittet mich, ihr auszurichten, dass sie sich so sehr ein Telefon wünschten.
Einen Monat später in Lausanne in der Westschweiz: Madeleine Sadhio (Name auf Wunsch geändert) wohnt mit ihren vier Kindern in einer Vierzimmerwohnung. Ihr Mann war vor 15 Jahren aus der Casamance ausgewandert und hatte in der Schweiz Arbeit gefunden. Er ließ darauf seine Frau und die gemeinsame Tochter nachkommen. Drei weitere Kinder wurden in der Schweiz geboren. Als ihr Mann vor zwei Jahren starb, erhielt Madeleine Sadhio eine Witwenrente. Von diesen knapp über 3000 Schweizer Franken, von denen 1250 sfr für Miete abgehen, leben sie nun zu fünft. Aber Madeleine Sadhio schafft es, jeden Monat durchschnittlich knapp 200 Franken für ihre Eltern abzuzweigen. Sie möchte nichts lieber als eine dauerhafte Arbeit finden, die ihren Qualifikationen entspricht. Sie, die im Senegal eine gute Ausbildung als Buchhalterin und Sekretärin genossen hatte, arbeitet mal als Putzfrau, mal als Zimmermädchen.
Will sie zurückkehren in ihre Heimat? Sie überlegt und wischt sich schließlich heimlich eine Träne aus den Augen: "Die politische Situation dort, die Minen..." Nein, diese Zukunft möchte sie ihren schulpflichtigen Kindern nicht zumuten. Zudem könnte sie dann ihren Eltern kein Geld mehr schicken. Dabei hat Madeleine schreckliche Sehnsucht nach ihrer Familie. Man fühle sich als Emigrantin häufig so alleine: "Sobald ein Problem auftaucht, ist man hier in Europa völlig auf sich allein gestellt." Von den Nöten, der Einsamkeit der Emigranten in Europa, ihren finanziellen Problemen wissen die Angehörigen daheim, die monatlich Geld erhalten, meist wenig. Die Migranten selbst sprechen ungern über schlechte Erfahrungen, und daheim würden die meisten Angehörigen solche Berichte auch gar nicht glauben.
Anders Abou Seck aus Ziguinchor, der Hauptstadt de Casamance: Er habe schon als Kind davon geträumt, nach Europa zu gehen, erzählt er. Zusammen mit seinen Geschwistern habe er häufig den Flugzeugen nachgeschaut, die über ihren Köpfen gen Norden flogen, gen Europa. "Eisenvogel, Eisenvogel, bring mir Glück" heißt ein Kinderreim im Senegal. Der Eisenvogel flog nach Europa und machte diejenigen reich, die er in seinem Bauch nach Europa trug.
Der 37-jährige Abou Seck stammte ursprünglich aus dem senegalesischen Norden, aus der Region Kayor. Das ist eines der Gebiete, die von der Ausbreitung der Wüste am meisten betroffen sind. Kayor war traditionell ein Erdnuss-Zentrum. Heute sind die Erdnusserträge stark gesunken. Das liegt auch daran, dass die umgerechnet rund 20 Cents pro Kilo, den die Bauern beim Verkauf ihrer Ernte erhalten, kein Produktionsanreiz mehr sind.
Abou Seck zählt die vielen Stationen seines Lebens im Telegrammstil auf, als ob sie dadurch weniger schmerzhaft wären: Sein Vater hatte kein Geld, um ihm das ersehnte Jura-Studium an der Universität von Dakar zu bezahlen. Die Felder, die noch vor einer Generation die Familie ernährten, sind seither zunehmend versandet und bringen nicht mehr genug ein. Deshalb wurde der älteste Sohn Abou dazu bestimmt, mit dem Eisenvogel nach Europa zu fliegen. Abou bettelte sich mit 20 Jahren von seinen Verwandten Franc für Franc die Summe fürs Billett zusammen. Die gaben bereitwillig, was sie entbehren konnten, denn sie glaubten einhellig, Abou werde reich werden und alles mehrfach zurückzahlen.
In Dakar suchte Abou die Adresse eines "Reisebüros" auf, in Wahrheit eine Schlepperbude. Um ein (Touristen-)Visum für Italien zu erhalten, musste er sich bei diesem Büro zuerst ein Flugticket nach Rom und Traveller-Schecks im Wert von umgerechnet gut 3000 Euro "mieten", denn ohne den Beweis, dass man über Geld und Billett verfügt, gibt es kein Visum. Nach drei Monaten Wartefrist bekam Abou das Visum und kaufte sich ein richtiges Ticket.
In Rom suchte Abou seinen Cousin auf. Zu seinem Erstaunen hatte der aber keine gute Stelle in einer Fabrik, sondern schlug sich als so genannter Vucumpra in Roms Straßen durchs Leben: Illegal, immer auf der Hut vor der Polizei, verkaufte er Kleinkram wie Sonnenbrillen, falsche Armani-T-Shirts oder Feueranzünder an Passanten. Weil Tausende von Senegalesen, die in Italien dasselbe tun, in einer Mischung aus Französisch (vous) und italienisch (comprare) den Passanten die immer gleiche Frage stellen ("Wollen Sie kaufen?"), nennt man die Straßenverkäufer dort Vucumpras.
So begann auch Abou im Vucumpra-Gewerbe. "Ich verdiente kaum etwas, und ich hatte immer Angst vor der Polizei," erzählt er, "denn wir hatten weder eine Arbeitserlaubnis noch eine Straßenhändler-Lizenz. Die Passanten beschimpften uns manchmal als Diebe oder Taugenichtse." Abou wohnte zusammen mit seinem Cousin und weiteren zwölf Vucumpras in einer Abbruchbude mit zwei Zimmern, auf jeder Matratze zwei Männer. Im Winter blies es durch alle Ecken und Ritzen, eine Heizung gab es nicht, und er war immer erkältet, die Nase lief und lief. Immerhin: Er war nicht alleine. Denn Abou, ein Wolof, gehört zur muslimischen Bruderschaft der Muriden (arabisch Muridiyya), wie viele andere Wolof auch. Fast alle schwarzafrikanischen Straßenhändler in Italien sind Muriden, und die nehmen sich eines neuen Mitgliedes der Gemeinde automatisch an.
Rund 60 bis 70 Euro nahm Abou pro Monat ein. Knapp die Hälfte davon brauchte er fürs Essen (jeden Tag Reis und nochmals Reis), ein Drittel für die Miete des Abbruchobjektes. Rund 15 Prozent wurde für die Familie zur Seite gelegt. "Nach einem Jahr hielt ich es nicht mehr länger aus", sagt Abou. Er nahm den Zug in Richtung Schweiz, hängte sich einer Gruppe Illegaler an und marschierte über die grüne Grenze.
Die Schweiz! Ein reiches Land, hatte man ihm immer wieder gesagt. Auf der anderen Seite der Grenze meldete er sich als Asylbewerber, nicht ohne vorher seinen Pass weggeworfen zu haben, denn Personen aus dem Senegal erhalten in der Schweiz kein Asyl. Zuerst kam Abou im Tessin unter, dann in der Deutschschweiz. Monatelanges Herumsitzen in einem Luftschutzbunker ohne Fenster. Täglich gab's ein paar Schweizer Franken Taschengeld; es reichte für einen oder zwei Kaffees pro Tag. Abou versteht heute noch nicht, weshalb man ihn und die anderen nicht arbeiten ließ. Einige Kollegen arbeiteten deshalb schwarz in Restaurants - zu Niedriglöhnen, sie verdienten knapp 1800 Franken. "Diese Arbeit macht kein Schweizer für diesen Lohn, schon gar nicht mit Arbeitszeiten von morgens um acht bis abends um elf Uhr. Weshalb lässt man uns Emigranten nicht legal arbeiten, da ja doch niemand anders diese Arbeit erledigen will?" fragt Abou.
Eines Tages erhielt auch er Schwarzarbeit in der Küche eines Restaurants in Basel. Sein Lohn betrug 1750 Franken. Malochen während 13 Stunden, tagein, tagaus. Nach zwei Monaten flog die Sache aber auf, denn die Polizei war dem Wirt auf die Schliche gekommen. Abou musste die Schweiz verlassen. Damals hatte Abou eine Freundin, die von ihrem Mann getrennt lebte. Er kannte sie bereits seit mehreren Monaten. Natürlich hoffte er auf eine Heirat. Abou Seck kehrte mit ihrer finanziellen Hilfe zurück in seine Heimat. Später erfuhr er, dass sich seine Freundin wieder mit ihrem Mann zusammengetan hatte.
Abou, wo sind die früheren Träume geblieben? Heute kann Abou Seck über diese Frage lachen, er hat sich wieder aufgefangen. Aber damals ... "Es ist nicht eben lustig, nach drei Jahren in Europa zurückzukehren und ohne Geschenke heimzukommen", sagt er und streicht sich nachdenklich durchs Haar. "Lange konnte ich meinen Freunden nicht erzählen, dass ich in Europa gescheitert war. Später aber ... Die Familie wollte mir meine Geschichte von Armut, harter Arbeit und Verfolgung durch die Polizei schon gar nicht glauben. Nein, Europa war die Hölle", sagt er und schüttelt den Kopf. "Das glaubt dir hier niemand. Und ich hatte Schulden, musste mein Ticket abbezahlen."
Heute verkauft Abou Seck getrockneten Fisch in Ziguinchor und kann recht gut davon leben. Er ist verheiratet, hat zwei Kinder und erzählt seinen beiden Söhnen immer wieder, dass Europa kein Traumland sei.
"Viele Migranten sind unehrlich", sagt einer, der ebenfalls in Europa war. Falilou Diouf ist Antiquitätenhändler in Cap Skirring. In seiner kleinen Boutique verkauft er antike Schnitzereien, Schmuck, Taschen, afrikanische Tücher. Drei Monate lang war er als Händler in Zürich, in der Schweiz. "Von dort kehren die Migranten aus Europa zurück", sagt er, "und tragen angeblich die neueste Mode, was vielen Afrikanern imponiert. Dabei haben sie die Kleider aus den Altkleidersammlungen am Straßenrand zusammengehamstert. Von jedem, der in Europa war, nimmt man automatisch an, dass er reich sei. In Europa sind die Arbeitsbedingungen jedoch unmenschlich, man arbeitet wie ein Tier und verdient als Emigrant schlecht. Und es gibt dort auch einen gewissen Rassismus. Hier bei uns im Ferienparadies sind die Weißen freundlich, entspannt und manchmal etwas sentimental. Aber dort sind sie dann gestresst und abweisend."
Falilou Diouf wohnt mit seiner Familie und seinen sieben Kindern in seinem eigenen kleinen Häuschen mit drei Zimmern in Cap Skirring. In Europa könnten sich viele Emigranten - ja sogar Schweizer - kaum die Miete leisten, weil die Wohnungen so teuer seien. Migranten sollten besser ehrlich sein, wenn sie in ihre Heimat zurückkehren, sagt Falilou und lächelt. Zwar verdiene man in Europa wesentlich mehr, aber man müsse auch viel, viel mehr ausgeben. Dies aber erzählten die angeblich reichen Migranten ihren Familien selten. Die Familienmitglieder wollten solche Dinge auch gar nicht zur Kenntnis nehmen und träumten weiterhin lieber vom reichen Europa. Reichtum bemesse sich aber eben nicht in trockenen Einkommenszahlen, kommentiert Falilou.
El Hadj Dioum, Bildhauer in Ziguinchor, geht in seiner Kritik noch weiter: "Emigration ist eine Katastrophe." Der 54-Jährige gehört zur Ethnie der Peulh/Fulbe und arbeitete bereits als Jugendlicher beim Club Med im Touristenparadies Cap Skirring als Bildhauer. Als 18-Jähriger wurde er zum ersten Mal mit einer Gruppe von Künstlern nach Frankreich eingeladen. Insgesamt war er vier Mal in Europa. Einmal lud ihn ein Mäzen ein, ein Multimillionär. "Ich arbeitete wie ein Esel", sagt El Hadj. "Ich schnitzte 15 Stunden am Tag meine Skulpturen, die überall in europäischen Museen landeten. Ich bekam beim Mäzen zu essen, hatte meine Unterkunft - aber ich erhielt kein Geld. Wie denn auch, ich hatte keine Arbeitsbewilligung. Und der Winter: Die Kälte brachte mich fast um." Als El Hadj - freiwillig - in seine Heimat zurückkehrte, konnten weder Familienmitglieder noch Freunde dies verstehen: "Warum bist Du nicht in Europa geblieben? Haben sie Dich zurückgeschafft?" Und als er ihnen erzählte, wie hart das Leben in Europa ist, wollten sie es ihm einfach nicht glauben.
Mehr noch als seine eigenen schlechten Erfahrungen belastete El Hadj in Europa das Schicksal von Bekannten. "Ich habe afrikanische Brüder in Europa gesehen, die haben vor mir geweint", erzählt er. "Sie waren keine privilegierten Künstler wie ich und hatten keinen Centime, sie hatten nichts zu essen, keine Unterkunft. Einer schlief nachts in einer Toilette. Andere ließen sich nur im Dunkeln auf den Straßen blicken, weil sie sich illegal in Europa befanden. Migranten riskieren, beim Emigrieren ihre eigene Würde zu verlieren und unglücklich zu werden." El Hadj hatte einen Freund, der mit einer Schleppergruppe durch die Wüste nach Libyen ging und dort starb, denn die Gruppe mit einigen Dutzend Schwarzafrikanern wurde einfach in der Wüste ausgesetzt und verdurstete. Pro Jahr, so schätzt "Der Spiegel", kommen auf dem weltweiten Migrationstreck in die nördlichen Industrieländer über 1000 Personen ums Leben.
Aber das wird gerne verdrängt, weil viele Familien ohne das Geld, das ihnen die Emigranten schicken, nicht überleben könnten. Die Transferzahlungen von Migranten in ihr Heimatland machen in manchen Staaten Westafrikas bis zu 80 Prozent der Haushaltseinkommen von Familien aus. El Hadj kommentiert: "Mit diesem Geld fressen die Familien die Seele des Emigranten auf." Die Familie verkaufe ihr eigenes Vieh, um dem Sohn oder der Tochter ein Billett nach Europa zu kaufen. Sie würden das Geld besser in Afrika investieren." Und die Großen, die afrikanischen Diktatoren und Superreichen, investierten ebenfalls nichts in Afrika, klagt er weiter, sie deponierten ihre Milliarden lieber auf Schweizer Konten.
"Wir Afrikaner glauben, dass Europa das Paradies ist", fährt der fünffache Familienvater fort. "Aber es gibt Europäer, die leiden und auf der Straße wohnen. Die sich keine Miete, kaum etwas zu essen leisten können." Nie hätte El Hadj früher geglaubt, dass es in Europa arme Menschen gibt. Was ihn ebenfalls schockierte: die Hektik der Menschen. "Sie sind immer in Eile, um noch mehr zu verdienen. Sie reden nicht miteinander und kennen keine Solidarität in der Familie. Und sie haben häufig keine Freude. Es gibt Millionäre, die sind todunglücklich."
El Hadj Dioum hat sich richtig in Fahrt geredet. Er schließt sein Plädoyer gegen Emigration mit einem Sprichwort ab: "Man kann ein Stück Holz beliebig lange in den Fluss legen, es wird nie ein Krokodil daraus." Gemeint ist: Ein Afrikaner kann noch so lange in Europa verweilen, er wird nie zum Europäer werden, wird nie wie ein Europäer leben können.
Senegals CasamanceEinst die Reiskammer der NationDie Casamance ist der südliche Teil Senegals, der vom nördlichen Senegal durch den Staat Gambia abgetrennt wird, der von der Küste her wie eine Zunge in das Land hineinragt. Seit 1982 gibt es in der Casamance eine Separatistenbewegung. Die Casamance unterscheidet sich historisch, geografisch, klimatisch und kulturell vom übrigen Senegal: ein fruchtbar-grüner Teppich mit verzweigten Wasserarmen (Bolongs) rund um den Fluss Casamance, mit Mangrovensümpfen, dichtem Urwald, Reis-und Gemüsefeldern und kilometerlangen, wunderschönen Sandstränden. In der Casamance, die etwas größer als die halbe Schweiz ist, wohnen rund 1,1 Millionen Menschen. Während die Dyula, die größte Ethnie der Casamance, christlich oder animistisch sind, ist der senegalesische Norden mit seiner größten Ethnie, den Wolof, muslimisch. Der Norden gehört zur Sahelzone und ist zunehmender Bodenerosion ausgesetzt. Wie schon unter der Kolonialherrschaft wurde die abgelegene Casamance auch nach der Unabhängigkeit Senegals im Jahr 1960 von Dakar aus verwaltet, das weiterhin Beamte und Polizei stellte. Die zentralistischen Ansprüche aus Dakar vertrugen sich aber nicht immer mit der bis heute erhaltenen Basisdemokratie der Dyula. Um gegen diese "Senegalisierung" anzutreten, hatte sich bereits 1947 die Widerstandsbewegung Mouvement des forces démocratiques de la Casamance (MFDC) gebildet. Nach Gründung des bewaffneten Flügels der MFDC schickte Dakar Truppen in die widerspenstige Provinz. Die Gewaltspirale begann sich zu drehen; ein Angriff einer Seite wurde regelmäßig mit Vergeltung der anderen Seite beantwortet. Doch längst wird der Zwist nicht mehr nur zwischen Armee und Rebellen geführt, sondern auch zwischen zerstrittenen MFDC-Splittergruppen. Der seit 1982 amtierende Generalsekretär des politischen Flügels, der katholische Priester Augustin Diamacoune Senghor, spricht sich heute gegen Gewalt aus und verhandelt mit der senegalesischen Regierung von Abdoulaye Wade um einen Friedensvertrag. Dagegen macht der Hardliner-Flügel des MFDC weiterhin regelmäßig mit Anschlägen auf Personen und auf Motorfahrzeuge von sich reden. Darunter befinden sich wohl auch gemeine Banditen, die auf den Rebellenzug aufsteigen und Personen ausrauben. Seit Jahren dokumentiert amnesty international schwere Verstöße von Armee und Rebellen gegen die Menschenrechte. Die Zivilbevölkerung ist sich in einem Punkt einig: Sie ist kriegsmüde. Aber kaum jemand in der Casamance mag offen über den Konflikt reden, alle haben Angst. Die Armee? Die Rebellen? Da gibt es überall Ohren, die mithören könnten. Ein Exponent des Diamacoune-Flügels, der in Paris wohnt und darum gebeten hat, nicht genannt zu werden, sagte: "Es ist der Hardliner-Flügel, von Gambia finanziell und logistisch unterstützt, der in der Casamance die Felder vermint. Dieser Flügel ist gegen unseren Verhandlungsweg." Die Hardliner bestreiten allerdings, von Gambia Hilfe zu erhalten. Allein in den Jahren von 1997 bis 2000 zählten Mitarbeiter der internationalen in der Anti-Minen-Kampagne aktiven Hilfsorganisation Handicap International nicht weniger als 533 verletzte oder tote Minenopfer. Hinzu kommen die Menschen, die durch kriegerische Auseinandersetzungen ihr Leben lassen mussten. Die Zahl derer, die in das benachbarte Guinea Bissau geflohen sind, wurde von dortigen Vertretern der Caritas auf über 62.000 geschätzt. Für den Rückgang der landwirtschaftlichen Erträge sind neben den Minen auch klimatische Einflüsse verantwortlich. Früher versorgte die Casamance auch den Norden Senegals mit Reis. Man nannte sie die "Reiskammer Senegals". Aber in den vergangenen Jahren haben Sturmfluten ganze Küstenstreifen weggerissen und die Felder rund um die Bolongs werden von Jahr zu Jahr häufiger vom Meerwasser überflutet. Dadurch versalzen die Reisfelder, und es gibt immer weniger fruchtbares Land. Zudem kannten früher die Bauern noch zwei Reisernten pro Jahr, heute dagegen gibt es wegen der geringeren Regenmenge nur noch eine. Fachleute sprechen von über 50 Prozent Ernteverlusten in der Casamance in den letzten 10 bis 15 Jahren. Heute müssen die meisten Bauern Reis hinzukaufen, und zwar häufig schon im März, ein gutes halbes Jahr vor der Ernte. Das bot internationalen Agrarkonzernen die Gelegenheit, den Senegal (und andere afrikanische Länder) mit billigem Reis aus Asien zu überschwemmen. Vom Importreis müssen die Senegalesen aber größere Mengen essen als vom Casamance-Reis, der sehr nahrhaft ist und -von Hand geschält -vitaminreicher bleibt. Ältere Personen erinnern sich an Zeiten, als Geld in der Casamance noch kaum benötigt wurde. Noch vor zwei bis drei Generationen war ein Zahlungsmittel wie der Franc CFA in der Casamance fast unbekannt. Die Einheimischen verfügten als Bauern, Jäger und Fischer über genügend Güter wie Reis, Süßkartoffeln, Mais, Gemüse, Mangos, Bananen, Palmwein, Fisch oder Fleisch, die sie untereinander tauschen konnten. Den Bauern fehlt es momentan auch an Transportmöglichkeiten, um ihre landwirtschaftlichen Produkte in den Norden Senegals zu exportieren, denn es gibt kaum Schiffsverbindungen, und die Straßen-und Fährenverbindung durch Gambia sind geschlossen. Lisa Hörler |
aus: der überblick 03/2002, Seite 8
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Lisa Hörler:
Lisa Hörler ist Journalistin in der Schweiz mit dem Schwerpunkt Dritte Welt. Vor kurzem besuchte sie die Casamance zusammen mit dem Fotografen Emmanuel Thomas. Sie ist auch Autorin des Buches "vous comprare? Der afrikanische Traum vom europäischen Glück" (Rotpunktverlag Zürich), das die Emigration von Schwarzafrika nach Europa thematisiert.