Der Machtwechsel gelungen, der Regimewechsel noch nicht
Der Kampf der neuen georgischen Regierung gegen Korruption lässt auf einen demokratischen Wandel hoffen. Im Gegensatz dazu steht der zunehmende politische Druck auf Medien und die Justiz. Wie kann man beurteilen, ob es letztlich einen echten Wandel geben wird oder ob nur neue Personen an die Macht gekommen sind?
von Barbara Christophe
Die Zeit der zynischen alten Männer ist abgelaufen! Das war die vor zwei Jahren gehegte Hoffnung in Georgien, ein Land, das mit Nachrichten von Korruption, Konflikt und Kriminalität bislang eher für negative Schlagzeilen gesorgt hatte. Im November 2003 wurde Georgien plötzlich zu einem über die Grenzen des kleinen Landes hinaus bedeutsamen Hoffnungsträger. Der Sturz des schon lange verhassten Schewardnadse-Regimes durch tagelange Straßenproteste gegen allzu dreiste Wahlfälschungen schien nahezu paradigmatische Bedeutung zu haben. Denn das damals zu Fall gebrachte Regime galt als Synonym für lähmenden Stillstand und Perspektivlosigkeit im postsowjetischen Raum. Schon nach wenigen Tagen gingen die dramatischen Ereignisse als Rosenrevolution in die Geschichte ein. Jahrelang hatte die hemmungslose Selbstbereicherung der politischen Eliten einen schier unüberwindbaren Fatalismus genährt, der in wenigen Wochen dem euphorischen Gefühl eines Neuanfangs wich. Was im Oktober 2000 mit der Entmachtung von Milosevic in Serbien begonnen hatte, war offensichtlich mehr als eine Eintagsfliege. Von Georgien sprang der Funke im Dezember 2004 erst auf die Ukraine über und erreichte dann im März 2005 Kirgisistan.
Demokratie ist machbar, verkündeten diese Ereignisse wider den Pessimismus der letzten Jahre. Sie ist nicht an strukturelle Voraussetzungen gebunden. Auch wenn es an historischen Erfahrungen mit demokratischen Herrschaftsformen mangelt und das sozioökonomische Entwicklungsniveau niedrig ist, muss das kein unüberwindbares Hindernis sein. Man kann es mit Entschlossenheit und Charisma oppositioneller Eliten aus dem Weg räumen.
Doch dies ist nur eine denkbare Interpretation der Ereignisse. Dieser lässt sich leicht ein gewichtiges Aber entgegenhalten. Es steht ja noch gar nicht fest, was tatsächlich geschehen ist. Wer oder was sagt uns, dass wirklich ein Regimewechsel stattgefunden hat? Gibt es nicht vielmehr auch einleuchtende Indizien, die für einen schlichten Machtwechsel sprechen, bei dem die neuen Machthaber nach Art des alten Regimes regieren? Schließlich waren es überall ehemalige Insider der alten Regime, die zu den Protagonisten der so genannten demokratischen Revolutionen wurden. In Georgien gilt dies ganz besonders für Surab Schwanija. Er war die graue Eminenz und das organisatorische Genie der Opposition, wurde postwendend zum Premier ernannt und hatte dieses Amt bis zu seinem Tod im Februar 2005 inne. Die massiven Wahlfälschungen bei den Präsidentschaftswahlen im April 2000, die Schewardnadse noch einmal ein sicheres Ergebnis von 80 Prozent beschert hatten, trugen ganz unverkennbar seine Handschrift. Er war es, der in seiner damaligen Funktion als Generalsekretär der Bürgerunion, der Partei der Macht, alle Fäden in der Hand hielt.
Selbst das charismatische Gesicht der Revolution, der neue Präsident Michail Saakaschwili, hatte der alten Ordnung immerhin als Justizminister gedient. Obwohl er früher und vor allem radikaler als Schwanija mit den alten Eliten gebrochen hatte, droht ihn seine Vergangenheit auch heute noch einzuholen. Seinem Rachefeldzug gegen die alten Günstlinge des Schewardnadse-Regimes fiel vor allem einer zum Opfer: der ehemalige Vorsitzende des georgischen Rechnungshofes Sulchan Molaschwili. Er ist der Einzige, der bislang rechtskräftig verurteilt und zuvor offenbar zur Erpressung von Aussagen gefoltert wurde. Anderen dagegen wurde großzügig die Möglichkeit eingeräumt, sich von Korruptionsvorwürfen freizukaufen. Dass Molaschwili die ganze Härte des Gesetzes traf, verdankt er so will es ein hartnäckiges Gerücht in erster Linie der Tatsache, dass er in seiner alten Funktion belastendes Material gegen Saakaschwili angehäuft hat.
Vor diesem Hintergrund muss zumindest die Frage erlaubt sein, wodurch sich der vorschnell zur Revolution stilisierte Elitenwechsel in Georgien zum Beispiel von dem russischen Szenario eines ausgehandelten Elitenkompromisses zwischen Jelzin und Putin unterscheidet. Wer hier tragfähige Antworten geben will, der wird es nicht bei einem Hinweis auf die kurzfristige Mobilisierung der Straße belassen können. Denn derartige Ereignisse lassen sich im Zeitalter medial inszenierter Politik im Handumdrehen organisieren. Dies ist spätestens durch die kurze Scheinblüte der Volksbewegung in Kirgisistan deutlich geworden. Anstelle eines demokratischen Aufbruchs beobachtet man hier heute extrem unübersichtliche und gewaltsame Machtkämpfe zwischen rivalisierenden Fraktionen des alten Apparates. Auch in Georgien ist es bislang nicht gelungen, das kurze Aufflackern gesellschaftlicher Politisierung in dauerhafte Strukturen der Partizipation zu überführen.
Unter der neuen Führungsriege hat sich das Verhältnis zwischen der Bevölkerung und dem Regime zunächst einmal entspannt. Denn auch die Entwicklungshilfe fließt üppiger, quasi als Ertrag des symbolischen Kapitals eines Neuanfangs. Dieses Kapital verbraucht sich aber schnell. Wie also lässt sich entscheiden, ob die Rosenrevolution tatsächlich einen Bruch mit dem alten Regime markiert oder nur die Eliten ausgetauscht hat? Erstens könnte die Formulierung klarer Kriterien eine Unterscheidung zwischen Macht- und Regimewechsel ermöglichen. Zweitens müssen die Leistungen und Versäumnisse der Regierung Saakaschwili nüchtern bilanziert werden.
Was den Versuch, einen normativen Maßstab zur Beurteilung der Veränderungen zu formulieren, so kompliziert macht, ist die Tatsache, dass sich schon das alte Regime in Georgien kaum zuverlässig klassifizieren ließ. Es verzichtete auf klare und unverrückbare Spielregeln, verschob ständig die Demarkationslinie zwischen Insidern und Outsidern und nutzte genau das als Instrument einer fragilen Stabilisierung, indem es potenzielle Gegeneliten präventiv kooptierte und als korrupte Klientelnetze pazifizierte. Deshalb steht die Beurteilung von Veränderungsprozessen naturgemäß vor einem Dilemma. Wie zieht man in einer Herrschaftsordnung, deren Gestalt sich laufend extrem ändert, die Grenze zwischen einer Politik, die störende Elemente adaptiert, um letztlich die Stabilität des Gesamtsystems zu sichern, und einem tatsächlichen Bruch mit der alten Funktionslogik?
Eindeutige Antworten gibt es hier auch zwei Jahre nach dem Umbruch nicht. Ein Ansatz für eine Lösung des Problems kann jedoch darin bestehen, die Institutionalisierung des Systems zu einer verlässlichen und berechenbaren Ordnung zum entscheidenden Kriterium zu machen. Damit sind es nicht einzelne politische Maßnahmen und Entscheidungen, an denen sich die Reformfähigkeit der Regierung Saakaschwili messen lassen muss, sondern die Bereitschaft, transparente und rechtsstaatlich verfasste Strukturen der Herrschaftsausübung zu schaffen. Diese dürfen auch dann nicht angetastet werden, wenn sie den kurzfristigen Interessen der Machthaber widersprechen.
Zugegeben, damit hängt die Latte sehr hoch. Darüber hinaus ist in der Praxis solch ein normativer Maßstab zur Beurteilung der Veränderungen nicht einfach einzusetzen. Hier kann aber eine Erkenntnis der historischen Soziologie weiterhelfen: Die vergleichende Analyse historischer Prozesse zeigt, dass sich die handelnden Personen nur dann dauerhaft abstrakten Regeln und Institutionen unterwerfen, wenn sie daran zweifeln, ihre Interessen eigenmächtig durchsetzen zu können. Mit anderen Worten: Erfolgreiche Institutionenbildung setzt vor allem prekäre Kräfteverhältnisse voraus. Nur dort, wo konkurrierende Interessen aufeinander prallen, kann die Durchsetzung von verbindlichen Spielregeln gelingen.
Aus diesem Blickwinkel sind Konflikte ein positiver Indikator für Wandel. Für ein Land wie Georgien ist dieser Indikator auch deshalb besonders aussagekräftig, weil es unter Eduard Schewardnadse kaum offene Konflikte gab. Entwickelt sich nun im neuen Georgien wirklich eine Konfliktkultur, die als Indikator dafür gelten kann, dass dynamische Prozesse zur Institutionenbildung frei werden? Gibt es zwei Jahre nach der Rosenrevolution Fortschritte bei der Errichtung transparenter politischer Strukturen? Solche müssten zweierlei gewährleisten: Vorhersehbarkeit und institutionelle Rahmenbedingungen, in denen gegensätzliche gesellschaftliche Interessen artikuliert werden können. Im besten Fall dürfte die Diagnose hier gemischt ausfallen.
Zu den unbestreitbaren Errungenschaften des neuen Regimes zählen zweifelsohne beeindruckende Erfolge im Kampf gegen die Korruption. Mehr als 70.000 Beamte sind bislang entlassen worden. Darunter befinden sich 16.000 Verkehrspolizisten, die sich durch die besonders dreiste Erhebung informeller Abgaben zu einer wahren Landplage entwickelt hatten. Die Gehälter derjenigen, die im Staatsdienst bleiben, sind signifikant erhöht worden. Damit will man Staatsdiener künftig besser gegen die Verlockungen der Korruption immunisieren. Gleichzeitig hat man begonnen, strukturelle Anreize zur Beteiligung an Korruption abzubauen. Der extrem unübersichtliche und vor allem in sich widersprüchliche Steuerkodex wurde radikal vereinfacht. Denn dieser zielte vor allem darauf ab, den Steuerinspektoren Gelegenheit zu geben, Bestechungsgelder einzutreiben. Mehr als 90 Prozent der Lizenzgesetze wurden schlichtweg abgeschafft, weil deren Zweck überwiegend war, potenzielle Unternehmer zu Fall zu bringen oder zumindest völlig abhängig vom Machtapparat zu machen. In geradezu vorbildlicher Weise scheinen alle diese Maßnahmen geeignet zu sein, die Korruption im Lande zu bekämpfen. Die neue Regierung, so die sich aufdrängende Schlussfolgerung, scheint wirklich entschlossen, verlässliche Regeln zu schaffen, die unabdingbare Voraussetzung sind, um Potenziale für die Wirtschaftsentwicklung freizusetzen.
Aber selbst auf dem Schauplatz des Kampfes gegen die Korruption nährt eine genauere Betrachtung der offiziellen Politik verhaltenen Zweifel an den exzellenten Noten, die auch die internationale Gebergemeinschaft den neuen Machthabern in Tbilisi bislang ausstellt. Hartnäckig hält sich das Gerücht, dass die Regierung bei der Verfolgung von korrupten Günstlingen des alten Regimes extrem selektiv vorgeht. Ins Fadenkreuz der Fahnder so die Unterstellung geraten dabei insbesondere solche Personen, die für die neue Regierung politisch bedrohlich sind. Nach alter Manier werden insbesondere kritische Fernsehsender immer wieder von der Steuerfahndung und der Staatssicherheit ins Visier genommen. Im Ergebnis sind mittlerweile alle politischen Talkshows abgesetzt worden. Auch die aus alten Zeiten sattsam bekannte Verteilung von Eigentum an eigene Klienten hat offensichtlich bereits wieder begonnen. Die Freunde und Verwandten zweier Minister sind mittlerweile stolze Besitzer von Fernsehsendern. Zur Herstellung von Vertrauen und Rechtssicherheit tragen solche Aktionen sicher ebenso wenig bei wie die weitverbreitete Praxis, unter Korruptionsverdacht festgenommene Personen gegen völlig intransparent ausgehandelte Sonderzahlungen auf freien Fuß zu setzen. Die Tatsache, dass diese Gelder unter Umgehung parlamentarischer Kontrolle am Staatsetat vorbei in Fonds eingespeist wurden, hat bereits für einen handfesten Skandal gesorgt.
Diese Unterordnung von Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit unter das Primat der Machtsicherung erinnert an alte Zeiten. Sie zeigt sich mittlerweile sogar in Bereichen, die unter Schewardnadse als Aushängeschild für Reformbereitschaft einen gewissen Sonderstatus genossen. Das betrifft zum einen die Medien, die sich bislang einer verglichen mit anderen postsowjetischen Staaten fast einzigartigen Bewegungsfreiheit erfreuten, nun aber zunehmend unter Druck geraten. Zum anderen wird die Justiz aufs Korn genommen. Erst in jüngster Zeit hat Saakaschwili offenbar einige Mitglieder des Obersten Gerichts unter heftigen Druck gesetzt, um sie vor Ablauf ihres Mandats zur Niederlegung ihres Amtes zu bewegen und die frei werdenden Posten mit Personen seines Vertrauens besetzen zu können.
Dieser Angriff auf das System der Gewaltenteilung wiegt besonders schwer in einer Situation, in der das regierende neue Parteienbündnis aus Nationalbewegung und Demokraten mit 75 Prozent der Mandate eine erdrückende Dominanz im Parlament erreicht hat. Wenn jetzt auch noch die Judikative ihre Unabhängigkeit verliert, gibt es bald keine Instanz mehr, die ein Gegengewicht zur Exekutive bilden kann. Was immer schon als entscheidender Defekt hybrider Regime galt, das Fehlen von Elementen vertikaler Machtkontrolle, erreicht damit im neuen Georgien des Michail Saakaschwili eine neue Dimension. Mit seiner Konzentration von Machtbasen hat er das Regime seines unrühmlichen Vorgängers schon lange in den Schatten gestellt. Unmittelbar nach seinem fulminanten Sieg bei den Präsidentschaftswahlen im Januar 2004, in denen er mit 96 Prozent ein geradezu anrüchiges Traumergebnis erzielte, ließ er sich eine Verfassung auf den Leib schneidern, die ihm, zum Beispiel im Falle einer dreimaligen Ablehnung des Budgetplans, das Recht auf Parlamentsauflösung einräumt.
Was soll's, mag man einwenden, wenn er diese Entscheidungsmacht zur Durchsetzung von notwendigen Reformen einsetzt, wenn er ernst macht mit der Bekämpfung von Vetternwirtschaft und Korruption, dann muss man ihm doch nicht mit demokratischer Prinzipienreiterei kommen. War es nicht die Schwäche und Handlungsunfähigkeit des zur Selbstbedienungsanstalt für Partikularinteressen verkommenen Staates, der Georgien unter Schewardnadse zu einer Hölle auf Erden machte? Ist es nicht schlichtweg unrealistisch, von einem Land mit einem Pro-Kopf-Einkommen von umgerechnet gut 1000 US-Dollar im Jahr mehr als die Abhaltung von formal einwandfreien Wahlen zu erwarten?
Derartige Überlegungen scheinen auch der Politik der USA neben geopolitischen Interessen an der Stabilisierung eines wichtigen Transitlandes für Ölpipelines zu Grunde zu liegen. Die USA, der momentan wohl einflussreichsten externen Macht im Kaukasus, greifen Saakaschwili nicht nur mit Krediten unter die Arme, sondern unterstützen ihn auch demonstrativ gegenüber einem nach wie vor an der Eskalation von Sezessionskonflikten in Abchasien und Südossetien interessierten Russland. Und wer hier sofort die finsteren Kalküle einer egoistischen Supermacht am Werk sieht, die sich auch anderswo nicht um die Einhaltung von demokratischen Standards kümmert, dem sei entgegengehalten, dass es zurzeit wohl niemanden gibt, der ein alternatives Konzept anzubieten hätte. Während die Europäische Union, die mit rund 100 Millionen US-Dollar sogar mehr Entwicklungshilfe an Georgien zahlt als Washington, bislang noch keine kohärente Strategie vorgelegt hat, setzt die Regierung Bush gezielt auf nachholende Nationbildung.
Genau das scheint in Georgien auch ganz gut zu funktionieren. Immerhin ist es der von Saakaschwili angeführten Bewegung im Vorfeld der Machtübernahme durch geschickte Mobilisierungsstrategien gelungen, eine Bevölkerung auf die Straße zu treiben, die lange Zeit völlig in Armut und Apathie versunken schien. Ferner verstand es Saakaschwili in allen Wahlen nach der Revolution, gestützt auf sein unbestrittenes Charisma als Retter der Nation, auch ohne Manipulationen und Fälschungen, sichere Mehrheiten für seinen Reformkurs zu gewinnen, der tief ins Fleisch mächtiger Interessen schneidet. Wer hätte denn zu träumen gewagt, dass man eines Tages sogar den mächtigen Schwiegersohn von Schewardnadse einfach so am Flughafen verhaften kann. Dass Saakaschwili dabei auch von einer geschickten Inszenierung symbolischer Politik profitiert, die ihn immer wieder als Garanten einer Rückkehr Georgiens zu seiner vermeintlich nur verschütteten westlichen Identität präsentiert, muss nicht unbedingt gegen ihn sprechen.
Politische Erneuerungen brauchen die Inszenierung eines symbolischen Bruches, das hat Saakaschwili von durchaus respektablen Vorbildern wie Lech Walesa und Vaclav Havel gelernt. Dass er dabei sehr dick aufträgt, dass er bei seiner Inaugurationsfeier riesige Chöre die Europa-Hymne intonieren lässt, dramatische Schwüre vor dem Grab eines mittelalterlichen Königs ablegt oder das ganze Land mit Plakaten zupflastert, die ihn in harmonischer Eintracht mit dem amerikanischen Präsidenten Bush zeigen, erinnert an analoge Rituale, die Anfang der neunziger Jahre in erfolgreichen Transformationsländern wie Litauen oder Polen abgehalten wurden.
Eher kann man den neuen Machthabern in Tbilisi vorwerfen, dass sie die charismatischen Energien, die sie durch solche Spektakel freisetzen anders als ihre litauischen und polnischen Kollegen nicht in langfristige Strukturreformen investieren. Die Regierung konzentriert sich vielmehr auf ad hoc Maßnahmen, die vom Präsidenten im Detail angeordnet werden. So verhindert man die Entstehung von pluralistischen Strukturen, über die in einem ersten Schritt gesellschaftliche Konflikte artikuliert werden können. Daraus könnte in einem zweiten Schritt ein Interesse an der Bildung von Institutionen zur Verregelung solcher Konflikte erwachsen.
Die ad hoc Maßnahmen dagegen überfordern auch die staatlichen Machtstrukturen. Unübersehbar häufen sich mittlerweile die Zeichen dieser Überforderung. Wie schon sein Vorgänger muss auch Saakaschwili seine Amtsträger auf nationaler und regionaler Ebene immer schneller austauschen, weil er überall von der Loyalität von Personen abhängig ist, statt sich auf die Rationalität von Verfahren stützen zu können. Je mehr autokratische Züge die neue Regierung zeigt, desto stärker tritt auch ihre Verwundbarkeit und Schwäche zutage. Ob Saakaschwili dies will oder nicht, diese Schwäche kann ihn wie viele anfänglich durchaus aufrechte Reformer vor ihm letztlich dazu zwingen, zu klientelistischen Strategien der Machtsicherung Zuflucht zu nehmen. Hier lauert die eigentliche Gefahr für die Rosenrevolution. Und hier liegt auch ein entscheidendes Handlungsfeld für deutsche und europäische Geber, die endlich zu einem klaren Profil ihrer Interventionspolitik finden müssen.
aus: der überblick 01/2006, Seite 18
AUTOR(EN):
Barbara Christophe
Prof. Dr. Barbara Christophe lehrt Kulturwissenschaften an der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder).