Umbruch der religiösen Landschaft im – noch – katholischen Brasilien
Evangelische Kirchen gibt es in Brasilien schon seit fast hundert Jahren. Aber seit ungefähr zwei Jahrzehnten sind sie eine echte Konkurrenz für die bisher dominante katholische Kirche geworden. Ihre selbstbewussten Anhänger glauben daran, dass der Einzelne seines Glückes Schmied ist von Gott unterstützt. Anders als im klassisch weltentsagenden Protestantismus zeigen sich die Gläubigen dieser Pfingstkirchen auch aufgeschlossen für Konsum und Reichtum.
von Prof. Dr. Bruno Wilhelm Speck
Religion in Brasilien? Da denken viele immer noch ausschließlich an den Katholizismus. Dessen Einfluss zeigt sich in allen Bereichen der Gesellschaft deutlich, sei es in der Volkskultur oder der Politik. Zur Zeit des Militärputsches 1964 stand der konservative Flügel der Katholiken unter dem Banner von »Tradition, Vaterland und Familie« hinter den Militärs, die im Namen von Recht und Ordnung die linkspopulistische Regierung stürzten und durch ein Militärregime ersetzten. Dieses blieb 21 Jahre an der Macht.
Erst im Laufe der siebziger Jahre wendete sich das Blatt: Politisch engagierte Theologen begannen, kritische Schriften zu verfassen, und wurden von regimekritischen Bischöfen unterstützt. Sie wollten die frohe Botschaft des Evangeliums mit politischer Emanzipation in Verbindung bringen. Gemeinsam mit Gläubigen organisierten sie sich in Basisgemeinden und setzten sich für die Wahrung der Menschenrechte und die Abschaffung der Armut ein. Die Spuren dieses religiös inspirierten politischen Engagements sind bis zur heutigen Regierung unter Präsident Lula zu verfolgen, der mit Frei Betto eine der Galionsfiguren der Befreiungstheologie in seinen engeren Beraterstab geholt hat.
Natürlich hat die katholische Religion in Brasilien ihr lokales Kolorit. Sie wurde vom Synkretismus geprägt, jener Kunst des gegenseitigen Aufnehmens, Einbindens und Verschmelzens, die es möglich macht, dass Menschen, die unter sehr verschiedenen kulturellen Einflüssen stehen, zusammen leben können. Auf diese Weise sind die von schwarzen Sklaven mitgebrachten traditionellen Religionen Afrikas in den von den portugiesischen Kolonialherren amtlich verordneten Katholizismus eingeflossen. Hinter den katholischen Heiligen barocker Kirchenkunst verbergen sich afrikanische Götter und ermöglichten so das Überleben unterdrückter Formen afrikanischer Religiosität hinter der Fassade katholischer Hegemonie.
Als sich mit der Gründung der Republik 1890 erstmals eine Trennung von Staat und Kirche durchsetzte, konnten auch protestantische Einwanderer ihre eigenen Kirchen gründen. Aber dies änderte lange nichts am dominanten Einfluss der katholischen Religion. Noch 1940, ein halbes Jahrhundert nach Aufhebung der Staatsreligion, umfassten alle protestantischen Kirchen zusammen nur 2,6 Prozent der brasilianischen Bevölkerung. Die Existenz protestantischer Kirchen mit ihrer weltabgewandten, verinnerlichten Religiosität konnte allenfalls als Zeichen religiöser Toleranz, nicht aber eines grundlegenden Wandels gelesen werden.
Dieses Bild hat lange Zeit den Blick auf einen Umbruch verstellt, der sich seit gut zwei Jahrzehnten in der religiösen Landschaft vollzieht. Zwar ist auch heute noch der Katholizismus weiterhin die numerisch einflussreichste Religion in Brasilien. Aber protestantische Kirchen und unter ihnen vor allem die Pfingstkirchen sind auf dem Vormarsch.
Die jüngste Volkszählung im Jahr 2000 hat den Wandel dokumentiert. Verglichen mit dem zwei Jahrzehnten zuvor abgehaltenen Zensus wuchs die Gesamtbevölkerung Brasiliens von 120 auf 170 Millionen Einwohner, also um mehr als 40 Prozent. Der Anteil der Katholiken sank im selben Zeitraum von 90 auf 74 Prozent. Dagegen stieg der Anteil der Protestanten auf 14,6 Prozent an, vor zwei Jahrzehnten hatte er noch bei 6,6 Prozent gelegen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass auch diese Zahlen schon wieder fünf Jahre zurückliegen und die Veränderung weiterhin rasant fortschreitet. In den neunziger Jahren nahm das protestantische Lager jährlich etwa um 7,9 Prozent zu, eine beeindruckende Größe angesichts eines Bevölkerungswachstums von 2,3 Prozent. Alle anderen religiösen Gemeinschaften, inklusive der afrobrasilianischen Gruppierungen und der Kardezisten, die an eine stufenweise moralische Erhebung der Seele glauben, sind dagegen numerische Splittererscheinungen mit weniger als 1 Prozent der Gesamtbevölkerung. Lediglich die Gruppe der Religionslosen hat sich von 1,6 Prozent auf 7,3 Prozent der Bevölkerung zu einer zahlenmäßig gewichtigen Gruppe entwickelt.
Teilweise handelt es sich bei den neu entstehenden Gemeinden um evangelische Kirchen, die schon seit fast 100 Jahren als Splittergruppen vorhanden sind, einige sind aber auch Neugründungen. Vor allem die Pfingstkirchen haben das Ghetto der geduldeten Splittergruppe, in dem sie sich, zumindest in ihrem Bewusstsein, lange befanden, verlassen und in den letzten drei Dekaden eine aktive Evangelisierungspolitik betrieben.
Noch gewichtiger werden die zahlenmäßigen Unterschiede allerdings, wenn die Kirchgangshäufigkeit mit berücksichtigt wird. Eine landesweite repräsentative Umfrage Estudo Eleitoral Brasileiro (ESEB) duchgeführt von CESOP-Unicamp und FGV-Opinião im letzten Quartal 2002 ergab, dass etwa 36 Prozent der brasilianischen Katholiken mindestens einmal pro Woche zur Kirche gehen ein erstaunlich hoher Anteil. Er wird aber noch deutlich übertroffen von den protestantischen Kirchen, bei denen 83 Prozent regelmäßig in die Kirche gehen.
Innerhalb der Protestantischen Kirchen gibt es nochmals deutliche Unterschiede. Die Anhänger der Pfingstkirchen, die inzwischen zwei Drittel aller protestantischen Kirchgänger ausmachen, nehmen ihre religiösen Pflichten noch weit ernster. In der Igreja Universal do Reino de Deus (»Universalkirche des Königreich Gottes«), die erst 1977 gegründet wurde, machen die regelmäßigen Kirchgänger 93 Prozent aus.
Während also von den gegenwärtig rund 127 Millionen Katholiken nur etwa 45 Millionen mindestens einmal pro Woche einen Gottesdienst besuchen, sind es von den 25 Millionen Protestanten ganze 21 Millionen. Dieses bringt den religiösen Umbruch deutlicher zum Ausdruck als die offiziellen Angaben zur Religionszugehörigkeit.
Natürlich ist der Indikator der Kirchgangshäufigkeit nur ein grober Anhaltspunkt für die religiöse Erfahrung und deren Bedeutung für die Menschen. In der Öffentlichkeit findet die Expansion der Pfingstkirchen einen sichtbaren Ausdruck: Immer mehr neue Gebetshäuser werden gebaut, in die praktisch zu jeder Tageszeit Gläubige zum Gottesdienst strömen. Der Tempel von Deus e Amor in São Paulo etwa fasst 20.000 Gläubige und ist oft bis auf den letzten Platz gefüllt. Mit der zunehmenden Größe ihrer Gebäude können diese jungen Kirchen ihr gewachsenes Selbstbewusstsein und ihre materielle Macht demonstrieren.
Ein anderes Anzeichen für den Umbruch ist die wachsende Zahl der Rundfunk- und Fernsehprogramme, die sich an die Anhänger der Pfingstkirchen richten oder mögliche neue Zielgruppen ansprechen sollen. Über 102 Radiokanäle hat allein die größte der Pfingstkirchen, die bereits 1911 gegründete Assembleia de Deus. Einer der bedeutensten brasilianischen Fernsehkanäle, Rede Record, wurde 1989 von der Igreja Universal do Reino de Deus gekauft. Erst diese Übernahme machte der brasilianischen Öffentlichkeit deutlich bewusst, dass Kirchen die elektronischen Medien gezielt für ihre Zwecke nutzen. Denn die Pastoren erreichten nun ihre Schäfchen, aber auch andere mögliche Zielgruppen der fernsehbegeisterten Brasilianer direkt in ihren Wohnstuben in Wort und Bild.
Zur Präsenz der Pfingstkirchen im brasilianischen Alltag gehört auch, dass Menschen in öffentlichen Verkehrsmitteln, in Parkanlagen oder Warteschlangen vor aller Augen die Bibel lesen. Denn die regelmäßige Bibellektüre ist eine der Grundpflichten ihrer Gläubigen. Neu sind auch Massenversammlungen auf öffentlichen Plätzen oder Straßen, zu denen Pfingstkirchen ihre Anhänger immer häufiger zusammenrufen. Solche Zusammenkünfte demonstrieren ebenfalls Macht und bewirken eine Stärkung des neuen Selbstbewusstseins.
Während die katholischen Basisgemeinden in den siebziger und achtziger Jahren versuchten, die Gläubigen für eine gerechtere Gesellschaft politisch zu mobilisieren, verkünden die Pfingstkirchen heute eine andere Botschaft. Sie verweisen auf die Eigenverantwortlichkeit eines jeden Einzelnen und bestärken ihre Mitglieder, ihr Schicksal wieder selbst in die Hand zu nehmen. Die Alltagssorgen dieser Menschen Arbeitslosigkeit, Schulden, Drogenkonsum, Gewalt, Familienprobleme werden von den Pfingstkirchen auf eine besondere Weise angesprochen.
Bei der großen Vielfalt der oft jungen Pfingstkirchen gibt es natürlich verschiedene Ansätze beim Umgang mit den gesellschaftlichen und persönlichen Problemen. Zu einer der erfolgreichsten Kirchen gehört die Igreja Universal. Sie zeichnet sich durch eine recht originelle Neuinterpretation der Welt aus. In einer sehr speziellen Mischung vereint sie Wiederverzauberung und materielles Heilsversprechen. Die Wiederverzauberung der Welt ist praktisch für alle Pfingstkirchen in Brasilien typisch: Die Sorgen und Gefahren in der modernen Welt werden uminterpretiert in religiöse Kategorien und letztlich zurückgeführt auf Gott oder den Teufel. Alkoholismus lässt sich so zum Beispiel auf Besessenheit zurückführen, Familienprobleme können durch den 'bösen Blick' eines Bekannten ausgelöst werden und Arbeitslosigkeit und Schulden werden durch mangelnden Glauben an Gott verursacht. Diese Wiederverzauberung der Welt nimmt oft die Form einer Dämonisierung an: Häufig müssen Menschen im näheren persönlichen Umfeld als Sündenbock herhalten; allzu oft auch wird der Einfluss anderer Religionen für Probleme verantwortlich gemacht. Eine bevorzugte Zielscheibe der Pfingstkirchen sind dabei die afrobrasilianischen Religionen, wie beispielsweise die Umbanda-Kulte, die Elemente des Katholizismus und des Spiritismus der Kardizisten mit afrobrasilianischen Traditionen verbinden. Aber auch Marienstatuen als Symbole des katholischen Glaubens kommen nicht ungeschoren davon.
Religiöse Bekehrung bei den brasilianischen Pfingstkirchen, so wird schnell deutlich, ist keine Sache des nach innen gekehrten stillen Glaubens. Vielmehr wollen sie den ganzen Menschen erfassen. Dieser muss seinen Lebenswandel, seinen Umgang verändern, ja oft auch seinen Partner verlassen, falls dieser als Ursache für das persönliche Missgeschick identifiziert wird. Viele Anhänger setzen sich als Missionare aktiv für die Verbreitung ihres neu gewonnenen Glaubens ein und bringen neue potenzielle Mitglieder zu den Kulthandlungen mit.
Der Gottesdienstbesuch ist ein wichtiger Anhaltspunkt religiöser Praxis in der Pfingstkirche, ein anderer sind die Rundfunk- und Fernsehprogramme. Immer wieder wird dort Zeugnis abgelegt über Bekehrungserlebnisse. Gläubige berichten von ihrem problembeladenen, hoffnungslosen Leben, bevor sie Kontakt zur Kirche hatten. Und sie erzählen ausführlich vom Einfluss, den die religiöse Erfahrung in der Gemeinde auf das private Lebensglück hatte. Auch rituelle Teufelsaustreibungen sind immer wieder ein zentraler Bestandteil: Die Dämonen vermeintlich besessener Gemeindemitglieder werden in Streitgesprächen verhört, identifiziert und dann ausgetrieben. Bei den Brasilianern finden diese anschauliche Umdeutung von Alltagssorgen in religiöse Kategorien und der Gottesdienst im Showformat sehr großen Anklang. Deshalb führt inzwischen eine so genannte charismatische Erneuerungsbewegung auch in der katholischen Kirche Gottesdienste in ähnlichem Stil durch.
Eine andere tragende Säule bei den Pfingstkirchen ist die materielle Absicherung ihres neuen missionarischen Eifers. Von den Gläubigen verlangt sie den zehnten Teil ihres Einkommens. Dass diese Strategie Erfolg hat, zeigt eine Erhebung aus dem Jahr 1995, die nach der Spendenfreudigkeit für die Kirche fragte. Mehr als die Hälfte der Mitglieder der Igreja Universal gaben an, den zehnten Teil ihres Verdienstes oder sogar mehr abzuführen. Von den Befragten gaben 24 Prozent den Zehnten, 27 Prozent mehr und nur 17 Prozent weniger als den geforderten Anteil. 24 Prozent gaben allerdings zu, gar nichts zu spenden. Bei der Assembleia de Deus ähneln die Zahlen denen in der Igreja Universal: 23 Prozent gaben den Zehnten, 14 Prozent mehr, 25 Prozent weniger und 33 Prozent gar nichts.
Der neue Reichtum der Pfingstkirchen rückt immer wieder ins Rampenlicht der Öffentlichkeit, etwa durch den Bau und die Ausstattung neuer und immer größerer Gotteshäuser oder den Erwerb von Fernsehstationen. Es liegen jedoch keine gesicherten Daten zur finanziellen Ausstattung der Pfingstkirchen vor. Die spektakulären Investitionen in die Infrastruktur sind sicher kostspielig. Ein erheblicher Teil ihres Einkommens dürfte aber zur Deckung der laufenden Kosten für die wachsende Zahl von Priestern und die Produktion und Instandhaltung aufwändiger Rundfunk- und Fernsehprogramme verwendet werden.
Die Kirche Igreja Universal zeigt anschaulich, wie sich Heilslehre und Finanzierung einer Pfingstgemeinde verknüpfen lassen: Sie verspricht den Gläubigen, dass sich religiöse Hingabe an Gott nicht erst im Leben nach dem Tod, sondern schon im Diesseits auszahle. Im Gegensatz zur weltablehnenden, latent asketischen Grundhaltung anderer Pfingstkirchen nimmt diese Kirche die moderne Welt mit allen ihren Charakteristika so an, wie sie ist, und stellt keine Veränderungsansprüche, die mit politischem Engagement umgesetzt werden müssten. Diese Welt, in welcher Reichtum und Erfolg ungleich verteilt sind, so macht sie deutlich, ist das Feld, auf dem jeder Einzelne sein eigenes Glück selbst suchen muss.
Auf diesem schwierigen Weg ist also Eigenverantwortung gefragt, aber jeder Mensch kann Gott dabei zu Hilfe rufen. Mit ihm kann der Gläubige einen Pakt abschließen und seiner religiösen Hingabe durch Spenden an die Kirche Ausdruck verleihen. Es handelt sich dabei um eine dem mittelalterlichen Ablasswesen durchaus vergleichbare Monetarisierung religiöser Pflichten. Neu ist nun aber, dass die von Gott versprochene Gegenleistung nicht erst im Jenseits erfolgt, sondern bereits im Diesseits geleistet wird. Religiöse Hingabe und Spendenbereitschaft werden von Gott direkt in Erfolg, Wohlstand und Glück auf Erden umgesetzt.
Die Auslegung dieses Tauschverhältnisses durch die Igreja Universal geht so weit, dass der Gläubige die Vertragsbedingungen mit der Höhe seiner Gaben selbst bestimmt. Er kann so das Ausmaß des materiellen Glücks beeinflussen, das ihm widerfahren soll. Gott zahlt ein Vielfaches von dem zurück, was er von den Gläubigen erhält. Der Gläubige wiederum hat einen Anspruch auf Gegenleistung und kann so die Ausdeutung der Igreja Universal Gott in die Pflicht nehmen und Erfolg für sich einfordern.
Diese Weltbejahung beschränkt sich nicht nur auf die moderne Ablassform, die mit diesseitigem Wohlstand entlohnt wird, sondern auch auf die gesamte Lebensführung der Gläubigen. Im Gegensatz zur früheren Haltung der Pfingstkirchen, die von ihren Anhängern Verzicht auf bestimmte Accessoires moderner Lebensführung forderten, erlaubt die Igreja Universal, Schmuck und moderne Kleidung zu tragen und auch Schwimmbäder, Kinos, Theater oder Fußballspiele zu besuchen sowie Fernsehen und Tanzen. Reichtum ist ebenfalls nicht verwerflich, da er ein Zeichen göttlichen Ausgleichs für erfolgte religiöse Dienste ist. Auch die meisten anderen Pfingstkirchen haben ihre Forderungen nach einer weltentsagenden Lebensführung schrittweise aufgegeben. In allen Pfingstkirchen ist es jedoch weiterhin verboten, zu rauchen, zu trinken und andere Drogen zu konsumieren. Ebenso sind vorehelicher und außerehelicher Geschlechtsverkehr untersagt. Zum Schutz der Familienwerte gehört auch die radikale Ablehnung gleichgeschlechtlicher Verbindungen.
Gesellschaftliche Veränderungen gehören nicht zum Kernbereich pfingstkirchlichen Engagements. Mögliche Probleme werden als Konsequenzen einer moralischen Krise in der brasilianischen Gesellschaft interpretiert. Um sie zu beheben, soll vor allem das moralische Niveau der Gläubigen angehoben werden. Das wird aber eher als eine innerkirchliche denn als politische Aufgabe angesehen.
Es ist deshalb auch nicht erstaunlich, dass die Einmischung der jüngeren Pfingstkirchen in die Politik nach einem völlig anderen Muster verläuft als die der katholischen Kirche. Dort sind es Laienbewegungen wie die Basisgemeinden, die sich in die Politik einmischen. Auch kommt es immer wieder zu moralischen Manifestationen oder Appellen von Bischöfen an die politischen Entscheidungsträger, die ein großes Gewicht in der Öffentlichkeit haben.
Auch wenn bei den Pfingstkirchen politisches Engagement zunächst nicht hoch angesiedelt war, haben sie doch bald erkannt, dass viele ihrer Interessen nicht rein innerkirchlich zu lösen sind. Der Staat setzt schließlich wichtige Rahmenbedingungen für Fragen, die der Kirche am Herzen liegen: gleichgeschlechtliche Ehen, Abtreibung oder Ehescheidung. Auch die für die kirchliche Missionierung wichtigen elektronischen Medien sind von staatlichen Konzessionen abhängig, die wiederum einfacher zu erhalten sind, wenn eine politische Hausmacht dahinter steht.
Letztlich sind die protestantischen Kirchen nicht mehr eine kleine Minderheit in einem fremden Umfeld, sondern üben großen Einfluss auf ihre Gläubigen und damit auf einen erheblichen Teil der brasilianischen Wählerschaft aus. Umfragen ergaben, dass die protestantischen Gläubigen die geringste Parteibindung aufweisen. Die Meinung der Kirchenobersten ist für 19 Prozent der Protestanten am wichtigsten bei der Identifikation mit einer Partei. Dagegen spielt dies nur für 8 Prozent der Katholiken eine Rolle. Auch bei der Wahlentscheidung ist für die protestantischen Gläubigen die Meinung der Kirchenväter wichtiger als für ihre katholischen Mitchristen. Im Ergebnis führt das dazu, dass die Pfingstkirchen auch in der Politik Einfluss ausüben. Im brasilianischen Kongress werden die Glaubensgemeinschaften von Abgeordneten vertreten, die aufgrund präziser Wahlempfehlungen der Kirchenobersten gewählt wurden und in überparteilichen Arbeitsgruppen zusammengeschlossen sind.
Die Stärke der Pfingstkirchen in Brasilien
Kirchen | Anzahl der Gläubigen | Anteil an den Pfingstkirchen |
Assembléia de Deus | 8.418.154 | 47,47 |
Congregação Cristã do Brasil | 2.489.079 | 14,04 |
Igreja Universal do Reino de Deus | 2.101.884 | 11,85 |
Evangelho Quadrangular | 1.318.812 | 7,44 |
Deus é Amor | 774.827 | 4,37 |
Andere | 2.630.721 | 14,83 |
Gesamt | 17.733.477 | 100,00 |
aus: der überblick 01/2005, Seite 32
AUTOR(EN):
Prof. Dr. Bruno Wilhelm Speck:
Professor Dr. Bruno Wilhelm Speck lehrt Politikwissenschaften an der Landesuniversität UNICAMP, Campinas, Brasilien.