Die Gewalttaten in Algerien sind auch auf die Zerstörung seiner kulturellen Identität in der Kolonialzeit zurückzuführen
Algeriens Geschichte und Gegenwart sind von Gewalt geprägt. Die harte Kolonialherrschaft der Franzosen hat die Kolonisierten ihres kulturellen Selbstbewußtseins beraubt. Dies ist einer der Gründe für die mythische Überhöhung der Befreiungskämpfer, der Armee und der Regierung, die nicht kritisiert werden durften. Der Protest der Islamisten ist vor diesem Hintergrund zu verstehen !" doch er hat seinerseits den Kampf verherrlicht und Denkverbote errichtet. Wenn die Algerier das Blutvergießen endgültig beenden wollen, müssen sie auch die Frage nach ihrer Identität demokratisch angehen.
von Arnold Hottinger
Verglichen mit seinen beiden nordafrikanischen Nachbarstaaten hat Algerien in seiner jüngeren Geschichte immer wieder das schwerste Los gezogen. Der Ursprung dieses Unglücks liegt im Jahr 1830, dem Beginn der französischen Invasion und Kolonisierung Algeriens - 52 Jahre früher als in Tunesien und 82 Jahre vor der endgültigen Eroberung Marokkos. Die Kolonisierung Algeriens war sehr viel rücksichtsloser als die Errichtung von Protektoraten in den beiden Nachbarländern; schon der Unterschied zwischen Kolonie und Protektorat bringt dies zum Ausdruck.
Im Fall von Algerien kann man von einer Kolonisierung "mit gutem Gewissen" sprechen. Die fragwürdigen Aspekte dessen, was damals zur "Ausbreitung der französischen Zivilisation" geschah, waren den Europäern noch kaum bewußt. Der beste Zeuge dafür ist Alexis de Tocqueville (1805-1859), der zwei berühmte Klassiker über die Demokratie in Amerika und über das Alte Regime und die Revolution in Frankreich geschrieben hat - Werke voller Einsicht und Einfühlungsvermögen, die bis heute ihre Bedeutung nicht verloren haben -, jedoch daneben eine Schrift über die algerische Kolonie, deren rassistische Grundhaltung heute kaum mehr erträglich ist.
Der Unterschied zwischen den beiden Protektoraten und der Kolonie hat sich bis in die Zeit der Unabhängigkeit ausgewirkt. In Algerien brach der Aufstand gegen die Kolonialmacht zuerst aus, und zwar am 1. November 1954. Frankreich zeigte sich zunächst eisern entschlossen, der Algérie Française, wie es damals hieß, auf keinen Fall ihre Unabhängigkeit zu gewähren. Dies bewirkte, daß die beiden Mandatsgebiete (nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die Protektorate Marokko und Tunesien völkerrechtlich Treuhandgebiete der Vereinten Nationen) im Jahr 1956, als sie ihrerseits ihre Unabhängigkeit forderten, auf relativ geringen Widerstand stießen. Paris mußte und wollte seine Mittel auf Algerien konzentrieren und konnte nicht in allen drei Ländern Krieg führen. So verlief der Übergang zu unabhängigen Regimen unter Bourguiba in Tunesien und Muhammed V. in Marokko relativ leicht, gewissermaßen im Windschatten des Algerienkrieges, der bis 1962 unerhört grausam fortgeführt wurde.
Auch die kolonialen Regime waren unterschiedlich. Algerien war auseinandergerissen in zwei getrennte Gesellschaften, die französischen Siedler (les colons) und die Einheimischen (les indigènes), die offiziell auch "muslimische Algerier" (les Algériens musulmans) und in der Alltagssprache les Arabes genannt wurden. Beide Gruppen wählten ihre Abgeordneten für das französische Parlament getrennt und mit sehr unterschiedlicher Gewichtung der Stimmen; in Algerien selbst unterstanden sie unterschiedlichen Gesetzen und Verwaltungsbestimmungen. Letzlich gaben die colons, von denen es zu Beginn der Unabhängigkeitskämpfe etwa eine Million gab, politisch, kulturell und wirtschaftlich den Ton an und übten die Herrschaft aus, während die rund zehn Millionen algerischen Muslime weitgehend rechtlos waren und ihre eigene Kultur nur noch in Restbeständen zu erhalten vermochten. Die arabische Schriftsprache wurde nur noch von den Religionsgelehrten verwendet. Das Volk sprach einen Dialekt, der sich mehr und mehr vom Hocharabischen trennte; unterrichtet wurde französisch, was dazu führte, daß meist auch französisch, kaum mehr arabisch, gelesen wurde. Die Auflage der französisch geschriebenen Zeitungen war mehr als zehnmal so hoch wie die der wenigen arabischen.
Die colons bildeten nicht nur die reicheren Teile der Gesellschaft, sie gaben auch wirtschaftlich die Richtung vor, denn sie nutzten ihre politischen Privilegien aus und machten gleichzeitig von europäischer Technologie und modernen Produktionsweisen Gebrauch. Sie drückten dadurch die große Masse der indigènes auf ein Lebensniveau am Rande des Hungers und machten sie abhängig von Arbeitgebern, die meist zur Klasse der colons gehörten.
Vergleichbare Erscheinungen gab es auch in den beiden angrenzenden Mandatsgebieten Marokko und Tunesien. Doch sie waren lange nicht so ausgeprägt wie in Algerien. Die einheimische Kultur konnte sich besser erhalten. Einheimische Wirtschaftsweisen waren klar unterlegen, aber es gab sie weiter. Die colons der beiden Mandatsgebiete besaßen zwar oft die größten und besten Ländereien und hatten sich dieser meist mit Hilfe der Mandatsverwaltung bemächtigt. Doch ihre Rechte waren nicht im gleichen Maße verankert wie in Algerien, und sie waren weniger zahlreich als die Siedler in Algerien.
Man kann sich fragen, ob schon vor der Kolonialzeit ausgeprägte kulturelle Unterschiede zwischen Marokko und Tunesien einerseits und Algerien andererseits bestanden. Dies ist schwer zu beantworten, weil in Algerien während der Eroberung, etwa durch die Politik der verbrannten Erde unter General Bugeaud (1784-1849), die kulturelle Eigenständigkeit dermaßen gründlich zerstört worden ist, daß es heute fast eine archäologische Aufgabe ist, die Sachlage vor 1830 zu rekonstruieren. Entscheidend für die heutige Lage war sicher die überwältigende Last der französischen Kolonisation in Algerien.
Unter dieser Last erwies sich Algerien als stärker "kolonisierbar" als seine Nachbarn, die nicht dem gleichen Druck ausgesetzt waren. Mit Hilfe des Begriffs der "Kolonisierbarkeit", den Albert Memmi in seinem Portrait du Colonisé in die Diskussion eingeführt hat, läßt sich die vergangene und die gegenwärtige Lage der Algerier wahrscheinlich am besten verstehen. Die Beziehung zwischen Kolonialherr und Kolonisierten wurde in Algerien auf die Spitze getrieben. Das Dasein und die Lebensart der französischen Siedler wurden zum Maß für Macht, Erfolg, Bildung und Selbstachtung.
Die einheimischen Algerier wurden "unsichtbar", auf schattenhafte Schemen reduziert - primär in der Sicht ihrer Kolonialherren, aber auch in gefährlichem Maße in ihren eigenen Augen. Sie entwickelten ein Bewußtsein von "uns" und "ihnen", wobei das algerische, kolonisierte "wir" die Stellung von "ihnen" anstrebte. Wer diese nicht zu erlangen vermochte und daran zweifelte, das je zu können, neigte dazu, auf ein eigenes "wir" zurückzugreifen, welches weitgehend neu entworfen werden mußte und sich in erster Linie auf die Verneinung des Anderen stützte: "Wir" wollen und müssen uns von "ihnen", den Siedlern, unterscheiden, unseren eigenen Weg finden und gehen - wenn nötig, indem wir die anderen bekämpfen, um uns von ihrer Gegenwart zu befreien. Dabei wird das Kontrastsymbol des Anderen unentbehrlich als Folie, von der sich das "Eigene" abhebt. Der Kontrast wird notwendig, um sich selbst überhaupt erkennen und bezeichnen zu können.
Das Nebeneinander von Kolonisatoren und Kolonisierten, das vier Generationen andauerte, war durch eine starke Übermacht der fremden Herren bestimmt. Diese wurde nicht nur als militärische und wirtschaftliche Übermacht, sondern auch als zivilisatorische Überlegenheit gelebt. Am Ende bäumten sich die Unterlegenen auf, wobei es nicht nur darum ging, die anderen loszuwerden, um ihre Stellung einzunehmen, sondern darüber hinaus um Selbstaffirmation; und das ist mehr als Selbstbestätigung. In der Sprache Albert Mémmis: Die Objekte der Kolonisierung wollten wieder Subjekte werden.
Ferhat Abbas, einer der Gründerväter der algerischen Unabhängigkeit, hat in einer berühmten frühen Schrift erklärt, er könne keine "algerische Nation" finden, so sehr er sich nach ihr umschaue. Doch diese Nation wurde nun gefordert; sie mußte entstehen, und viele glaubten, der Kampf selbst würde sie hervorbringen. Damit wurde der Kampf zu mehr als einem blutigen Ringen um die Macht. Er wurde vielmehr der Weg zur Geburt einer Identität und damit zu bedeutenden Teilen auch ein Selbstzweck. Ohne ihn wären die Algerier nicht zur politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Eigenständigkeit, aber auch nicht zu einer eigenen Nation gelangt - nicht zur individuellen und kollektiven Subjektwerdung.
Der Unabhängigkeitskampf wurde aus diesem Grund idealisiert und mythologisiert - schon während er sich abspielte und noch viel mehr, nachdem er Geschichte geworden war. Man wollte in ihm nicht einfach den grausamen, eher hinterhältigen und mit allen Mitteln geführten Guerrillakrieg sehen, der er tatsächlich gewesen war, sondern vielmehr einen Gründungsakt der Nation, ihre blutige Geburt. Die Kämpfer mußten rückblickend als Helden gesehen werden, und die wenig heldenhaften Episoden - beispielsweise die Erdrosselung von Abbane Ramdane durch seine Kollegen aus der Regierung der Front de Libération Nationale (FLN) oder die grausamen Kämpfe zwischen der FLN und den Anhängern von Messali Haj - mußten verschwiegen werden.
Dies war nicht bloß eine Frage der historischen Rückschau. Es ging auch darum, daß der neu entstandene Staat die Blutopfer seines achtjährigen Gründungskrieges rechtfertigen mußte. Er stand unter dem Druck, so vorbildlich auszufallen, so erfolgreich, wohlstandsverheißend und glückbringend, daß er die Opfer rechfertigte. Wenn er das nicht war, wollte er mindestens so erscheinen. Deshalb war Kritik an diesem Staat nicht zulässig - weder an seiner Vergangenheit noch an seiner Gegenwart.
Auch jede Diskussion über den Weg in die Zukunft sollte abgewürgt werden. Deshalb war nur eine einzige Staatspartei erlaubt, die den einzig richtigen Kurs in die Zukunft festlegen sollte. Man kann behaupten, daß der Geltungsanspruch, der den Unabhängigkeitskrieg rechtfertigte, sich in einem Geltungstheater fortsetzte, das immer weniger der Wirklichkeit entsprach, je geringer die Leistungen ausfielen, die der neue Staat zu erbringen vermochte.
Dieser Staat erhielt schöne Kleider, die ihm die neue Staatsklasse überzog, weil sie selbst und die ganze Nation mehr gelten sollten, als sie in Wirklichkeit waren. Dieser Vorgang verstärkte sich selbst: Je mehr es zu verkleiden gab, desto mehr Verkleidung wurde verwendet. Und er wurde zum Selbstbetrug; Beschönigungen und Schmeicheleien werden bis heute umso mehr für die Wahrheit genommen, je weniger es gestattet ist, ihnen zu widersprechen. Am Ende können die umschmeichelten Machthaber selbst die Wahrheit nicht mehr von den Beschönigungen unterscheiden.
Doch die tatsächlichen Mißstände wurden dadurch nicht aus der Welt geschafft, und die Bevölkerung bekam sie immer mehr zu spüren. Dies schuf Mißtrauen gegenüber dem Staat und verhaltenen Zorn auf die Staatspartei, deren große und kleine Machthaber als die Urheber und Nutznießer des Beschönigungssystems angesehen wurden. Die meisten Algerier wußten dabei, daß hinter der Staatspartei seit dem Beginn der Unabhängigkeit die Armee als das eigentliche Rückgrat der Macht stand. Ebenso wußten sie, daß die Armeeoffiziere gewaltige wirtschaftliche und gesellschaftliche Privilegien genossen, die sie über die Jahre hinweg immer weiter ausgebaut hatten. Die Offiziere jedoch waren so mächtig und gefürchtet, daß niemand über sie auch nur zu murren wagte.
Die Abwendung der Bevölkerung von der Regierung und von den Machthabern verhalf dem Islamismus zu seiner Verbreitung. Die Ideologie, nach welcher alles gut werde, wenn die Muslime nur genau das Gottesgesetz der Scharia befolgten, stammte nicht aus Algerien, sondern wurde aus dem Nahen Osten importiert. Doch sie fand Anklang, weil sie einen Neubeginn verkündete, der gleichzeitig als ein Rückgriff auf Altvertrautes erschien und weil eine Lösung der bestehenden Fehlentwicklungen und Mißstände immer dringender wurde.
Das Regime nahm die Bewegung zunächst nicht sehr ernst. Sie erschien wie eine harmlose Beschäftigung für das Volk, welches angesichts der immer schwierigeren Lebensumstände die Moscheen zu füllen begann und den Predigern lauschte. Um das Volk zufriedenzustellen, erließ das Regime sogar Gesetze im Bereich des Familienrechtes, die der neuen konservativ-islamischen Grundstimmung entgegenkamen. Doch die Islamisten entpuppten sich in Algerien wie anderswo in der islamischen Welt als scharfe Kritiker der Regierung und der gesamten in ihren Augen "heidnischen" Umwelt, in der sich das Leben der Algerier abspielte. Sie konnten den Zorn der Bevölkerung auf die Staatspartei und all ihre Nutznießer ausnutzen, indem sie ihnen die Schuld daran gaben, daß Algerien ins "Heidentum" abgeglitten sei und, wie sie behaupteten, aus diesem Grunde verelende.
Im Unabhängigkeitskrieg hatten gerade einfache Leute im Namen des Islam gekämpft, weshalb man sie Moujahedin, das heißt Kämpfer im Heiligen Krieg, nannte; denn der Islam war der letzte Hort der algerischen Eigenständigkeit gewesen. Die algerischen Islamisten riefen nun nach einem neuen Djihad (Heiligen Krieg), der sich gegen den, wie sie versicherten, ins heillose Verderben abgeglittenen algerischen Staat richten sollte. Die Regierenden wurden sogar als die "neuen Franzosen" bezeichnet. Der Heilige Krieg begann mit politischen und propagandistischen Mitteln, doch dann, nach dem Eingreifen der Armee von Januar 1992, das den Weg der Politik abschnitt, kam es zu Gewalt. Der alte Heilsmythos lebte verstärkt wieder auf. Die Regierung nahm nun die Stelle der früheren Kolonialisten ein, der zu unrecht Privilegierten und Mächtigen. Die Moujahedin traten erneut an und hofften diesmal, das endgültige Heil für sich und den Staat zu erstreiten.
Doch der heilige Krieg brachte Unheil. Er glitt ab in Räuberei und Blutdurst. Dies nicht ohne Zutun der algerischen Geheimdienste, die sich an den "schmutzigen Krieg" der Franzosen erinnerten und deren damalige Methoden der Infiltration des Gegners, der Desinformation und politischen Irreleitung anwendeten. Vor allem die von keiner politischen Zentrale aus gelenkten und kontrollierten Groupes Islamiques Armés (GIA, bewaffnete islamische Gruppen) waren beeinflußbar. Sie wurden mehr und mehr zu bloßen Machtinstrumenten von wenig gebildeten sogenannten Emiren ("Befehlshabern"), die oft nicht einmal Kenntisse über den Islam besaßen. Sie waren am anfälligsten für Infiltration, Manipulation und Provokation von seiten der staatlichen Sicherheitsdienste.
Einen realistischen Einblick in die unheilvolle Mischung von doktrinärer Arroganz und Ignoranz, die in solchen Gruppen herrschen konnte, gibt der ausführliche Bericht eines Bandenmitgliedes über seinen Werdegang als islamistischer Mörder und seine Differenzen mit einer Führung, die er als zu primitiv und zu habsüchtig erkannte, um sie noch als islamisch gelten zu lassen. Er ist in Frankreich unter dem Titel Confessions dun Emir du GIA erschienen, herausgegeben von Patrick Forestier und Ahmed Salam. Die Entwicklung dieses islamistischen Idealisten zum kalten Mörder erscheint darin als gradueller Prozeß der Selbstvergiftung, der natürlich stark mitbedingt ist durch das Milieu, in dem der Täter zu leben gezwungen war. Denn einmal als Terrorist gezeichnet, konnte er nur noch in einer Bande Schutz finden und überleben.
Dort bestand eine Rivalität darum, wer die gefährlichsten und grausamsten Taten aushecken und durchführen konnte. Sie wurde verschärft durch die Kämpfe und Spannungen unter den Terroristen; niemand war sicher, ob sein Bandenbruder nicht heimlich als Denunziant für die Sicherheitskräfte wirkte. Von Zeit zu Zeit gab es Anzeichen dafür, daß sich Verräter in der Bande befanden. Um zu beweisen, daß man selbst keiner war, mußte man sich eifrig zeigen und besonders sensationelle oder grausame Pläne aufstellen und ausführen. Man mußte auch vermeiden, die Stimme der Vernunft zu erheben und etwa darauf hinzuweisen, daß es den Islamisten nur schadete, wenn sie Schulen anzündeten oder Unschuldige ermordeten, weil sie letztlich auf die Mitarbeit der Bevölkerung angewiesen waren. Stets setzten sich doktrinäre Gegenargumente durch nach dem Motto: "Wer nicht für uns ist, der ist gegen uns", oder: "Alle die zur Regierung stehen und alle, die sich neutral verhalten, müssen dafür bestraft werden." Das Absurde ist, daß es natürlich auch im Interesse der Doppelagenten lag, sich besonders eifrig zu zeigen und die Bande zu Terroraktionen anzuregen, die ihren wahren Interessen nur schaden konnten. Tollkühne Bluttaten dienten auch dazu, die Guerrillagruppe als ganze gelegentlich in Fallen der Sicherheitskräfte zu locken.
Auch die Regierungskräfte haben sich lange Zeit nach dem Grundsatz verhalten: Wer nicht für uns ist, der ist gegen uns und muß dafür bestraft werden. Die Seite, die sich am engsten und blindesten an diesen Grundsatz hält, dürfte über die Jahre den Rückhalt bei der Bevölkerung endgültig verlieren. Da er letzten Endes entscheidend ist, wird dies aller Wahrscheinlichkeit nach über mittlere Frist den Ausgang des Machtringens bestimmen. Am Ende dürfte die Seite obsiegen, die sich als weniger doktrinär erweist als ihre Feinde.
Vielleicht ist die Entscheidung sogar schon gefallen. Die Regierung unter dem neuen Präsident Abdelaziz Bouteflika ist neuerdings bemüht, die Mördergruppen zu isolieren und sich mit der Bevölkerung zu versöhnen. Sie hat als ersten Schritt ein "Gesetz zur Zivilen Versöhnung" erlassen, das den Islamisten, welche bis zum 30. Januar des kommenden Jahres die Waffen niederlegen und ihren Kampf gegen die Behörden aufgeben, Straffreiheit verspricht, allerdings nur für den Fall, daß sie sich keine Bluttaten und keine Vergewaltigungen zuschulden kommen ließen. Denjenigen, die für Morde verantwortlich sind, wird nur eine Strafminderung zugesagt. Das Gesetz ist vom Parlament und Senat bereits angenommen worden und damit in Kraft. Es wurde dann auch der Bevölkerung am 16. September 1999 in einem Plebiszit zur Bestätigung vorgelegt. Das Plebiszit bestätigte das Gesetz mit 98,6 Prozent der abgegebenen Stimmen bei einer Beteiligung von über 80 Prozent.
Präsident Bouteflika kann den Ausgang der Abstimmung als wichtige Bestätigung seiner Versöhnungsschritte werten. Für ihn wiegt sie umso schwerer, als seine Wahl zum Präsidenten nicht über jeden Zweifel erhaben war. Alle Gegenkandidaten waren kurz vor der Präsidentenwahl vom 15. April 1999 zurückgetreten, um gegen die allzu einseitige Unterstützung zu protestieren, die der Kandidat Bouteflika von Seiten der Machthaber erhalten hatte.
Auch gegenüber den Offizieren dürfte der Ausgang des Plebiszits Bouteflika Rückhalt geben. Sein Vorgänger, Präsident Zeroual, hatte schon 1998 versucht, ein sogenanntes Reuegesetz anzuwenden, um die umkehrwilligen Islamisten zu einer Versöhnung mit dem Staat anzuregen. Dies war gescheitert, offenbar vor allem am Widerstand von seiten der éradicateurs - das heißt jener Offiziere und ihrer Parteigänger, die nur eine vollständige Ausmerzung aller Islamisten als Ziel zulassen wollen. Präsident Zeroual war aus diesem Grund vor dem Ende seines Mandates zurückgetreten.
Allerdings ist die Krise durch das Plebiszit alleine nicht überwunden. Die Bevölkerung ist so kritisch oder einfach so hellsichtig gegenüber dem Staat geworden, daß sie diesem nicht wieder trauen wird, bevor er etwas für sie geleistet hat. Arbeit zu finden, ist ihr erster Wunsch. Die Arbeitslosigkeit beträgt 28 Prozent und trifft in erster Linie die jungen Algerier. Wer keine lohnende Arbeit findet, möchte dringend auswandern und wirft der Regierung vor, ihn dabei zu behindern, statt ihm behilflich zu sein.
Der Islamismus, so wie er sich in Algerien ausgebreitet hat, war mehr das Symptom einer Krise als ihre Ursache. Deshalb besteht die Gefahr, daß neue, andersartige Krisensymptome auftreten, solange die wahren Ursachen der Krise unbewältigt bleiben. Die Ursachen sind vielfältig, und unter Algeriern besteht keine Einigkeit, welchen Stellenwert man den verschiedenen Faktoren zumessen soll. Es gibt Ursachen wirtschaftlicher und sozialer Natur, die in erster Linie durch 25 Jahre einer verfehlten Wirtschaftspolitik hervorgerufen worden sind, bis hin zur katastrophalen Überbevölkerung der Städte. Dahinter stehen kulturelle Widersprüche. Sie gehen auf die ungelösten Spannungen zurück zwischen der eigenen Kultur, die in der jüngsten Zeit - seit etwa zehn Jahren - als eine spezifisch islamische aufgefaßt worden ist, und der sogenannten "Moderne, ohne die heute auch ein islamischer Staat sich in der Welt nicht durchsetzen kann. Dieses Spannungsverhältnis ist in Algerien besonders belastet durch das immer noch ungelöste Identitätsproblem aus der Kolonialzeit: "Wer sind wir Algerier; wie und wohin sollen und wollen wir weitergehen?"
Alles spricht dafür, daß derartige Grundfragen nicht durch Anordnungen der politischen Führung zu lösen sind. Die Arabisierungskampange der achtziger Jahre wurde von der Regierung befohlen; heute sagen viele kritische Algerier, sie habe Analphabeten auf Französisch und auf Arabisch hervorgebracht. Die wirkliche Lösung, oder besser gesagt der Anfang des Weges auf eine solche hin, hängt vielmehr davon ab, daß Möglichkeiten der Mitbestimmung geöffnet werden, die den Algeriern erlauben, sich eine eigene Meinung zu erarbeiten und sie dann in die Diskussion einzubringen. An die Stelle der staatlich manipulierten und kontrollierten Mythenbildung, die bis heute das Schicksal des Landes bestimmt, müßte die Möglichkeit freier Meinungsbildung und darauf aufbauend einer echten Diskussion über den Weg in die Zukunft treten.
Diese notwendige Umkehr wird einem Staat, der ohnehin unter einem Legitimitätsdefizit und geringer Glaubwürdigkeit leidet, schwer fallen. Für die Herrschenden wird die Versuchung groß sein, auf der alten, für sie gewinnbringenden Schiene weiterzufahren. Dies würde auf die Behauptung hinauslaufen, der staatliche Apparat sei befähigt, das Land mit "wissenschaftlicher Sicherheit" in die beste aller Welten zu befördern, während gleichzeitig natürlich alle gegenteiligen Meinungen und Aussagen verboten werden, bis die Glaubwürdigkeit der staatlichen Meinungsmacher, Profiteure und Gesinnungsmonopolisten erneut zusammenbricht. Tröstlich ist nur, daß es diesmal gewiß nicht mehr 26 Jahre dauern wird, wie in der Periode von 1962 bis 1988, bis die Wahrheit zu Tage tritt - eher schon 26 Monate. Die Bereitschaft der Algerier, den von oben formulierten und manipulierten Mythen Glauben zu schenken - ob es sich nun um nationalistische, sozialistische oder islamistische handelt -, dürfte angesichts der grausamen letzten acht Jahre und ihrer langen Vorgeschichte bedeutend geringer geworden sein.
aus: der überblick 04/1999, Seite 29
AUTOR(EN):
Arnold Hottinger:
Arnold Hottinger war langjähriger Korrespondent der "Neuen Zürcher Zeitung" für die arabische Welt. Er ist Autor mehrerer Bücher und Reisebegleiter für den Orient. Heute lebt er in Madrid.