Wenn über Einsparungen in öffentlichen Haushalten gestritten wird, dann ist von Entwicklungshilfe nicht die Rede. Zwar hat Ministerin Wieczorek-Zeul um ihr Budget kämpfen müssen, wie sie bei der ersten Beratung des Haushalts 2005 in diesen Tagen im Parlament bekannte, aber am Ende ist im Vergleich zum Vorjahr eine Erhöhung von einem Prozent herausgekommen. Sprecher der Opposition und ein paar Experten werden sicher auch dieses Jahr wieder vorrechnen können, dass von einer echten Steigerung nicht gesprochen werden kann, wenn man allerlei Verschiebungen, neue Aufgabenzuweisungen und finanztechnische Aspekte berücksichtigt. Doch das bleibt die Debatte derjenigen, deren Aufgabe es ist, der Regierung am Zeug zu flicken, oder das Argument derer, die gerne noch mehr Geld bewilligt sehen möchten. Weniger Entwicklungsausgaben aber fordert derzeit niemand.
Das ist aus zweierlei Gründen erstaunlich: Zum einen war in den ersten Jahrzehnten der Entwicklungspolitik immer mal wieder vorgebracht worden, wir hätten hierzulande eigene Probleme, die Vorrang haben sollten. Damals hatten wir vielleicht ein paar Missstände, die eine oder andere Notsituation, aber keine wirklichen (finanziellen) Probleme. Nun aber müssen an den Sozialtransfers Abstriche gemacht werden, im Zeichen von Hartz IV droht auch Angehörigen der Mittelschicht der Abstieg. Zum andern ist eine Entsolidarisierung zu beobachten: Den einen stört das Anspruchsdenken von unten, die andere die Maßlosigkeit derer oben, die hart arbeitende und Steuern zahlende Mittelschicht reibt sich an beidem. Aber an der Hilfe für den fernen Nächsten will niemand rumstreichen, weiterhin wird auch noch viel privat gespendet.
Meinungsumfragen scheinen die Wertschätzung der Entwicklungspolitik zu bestätigen, immer wieder gab es hohe Zustimmung zur Hilfe für Menschen in Not. Und seit dem 11. September 2001 kommt für manche Abendländer noch die strategische Überlegung hinzu, dass es angeraten sein könnte, etwas gegen das Armutsgefälle in der Welt zu tun.
Doch wie weit und wie tief reicht diese verbal bezeugte Sympathie wirklich? Die einschlägigen Meinungsumfragen sind so allgemein gehalten, dass, wer nicht herzlos ist oder viel weiß, kaum ablehnend reagieren wird. Wird die Zustimmung nicht schnell sinken, wenn ein paar Skandale Schlagzeilen machten und die Wirksamkeit der Entwicklungshilfe anschließend in auflagenstarken Medien grundsätzlich in Frage gestellt würde? Und wenn dann ein (zum Glück sich noch nicht abzeichnender) Demagoge von rechts das Thema für seine Zwecke ausschlachten würde? Dass das alles nicht ganz ausgeschlossen ist, das lehrt die verwandte und unter Umständen sehr brisante Ausländerpolitik. Und auch für den derzeitigen parteiübergreifenden Konsens in der Entwicklungspolitik gibt es, wie das Beispiel Dänemark (vergl. S. 32ff) zeigt, keine Garantie.
Die entwicklungspolitischen Einrichtungen - vom Ministerium bis zum örtlichen Eine-Welt-Laden, insbesondere aber die Kirchen - haben viel in Sympathiewerbung und Aufklärung investiert. Damit haben sie zu einem, wenn auch begrenzten, Bewusstseinswandel beigetragen und eine interessierte Öffentlichkeit aus Fachleuten und Aktivisten entstehen lassen. So eindrucksvoll das im Einzelfall ist, insgesamt hat der dadurch entstandene entwicklungspolitische Diskurs auch verschiedene Schwächen, die sich in schwierigeren Zeiten als Nachteil erweisen können.
Er hat - erstens - zu viel versprochen: Es gibt wenig, was Entwicklungszusammenarbeit nicht zu leisten beansprucht. Von Armutsbekämpfung bis Zuzugsbegrenzung ist fast alles im Angebot (vergl. “der überblick” 4/2000). Diese globalen Postulate - wahlweise von Rhetorik der noblen Gesinnung, dem Verweis auf berechtigte Ansprüche und (vor allen Dingen im Umweltbereich) düsteren Krisenszenarien begleitet - können sich als rhetorische Falle erweisen und “die ohnehin brüchige Legitimität des Politikfeldes Entwicklungszusammenarbeit weiter schmälern”. So urteilt Professor Stefan Brüne in seinem in diesen Wochen erscheinenden Buch über Europas Außenbeziehungen und die Zukunft der Entwicklungspolitik: “Die auf staatlicher und nichtstaatlicher Seite verbreitete Versuchung, entwicklungspolitische Zielvorgaben ohne Ansehung realer Umsetzungsmöglichkeiten und unter Ausblendung widersprüchlicher Interessenlagen auf die öffentliche Agenda zu setzen, lässt sich sicher auch als aus der Not geborener Versuch innenpolitischer Legitimationsbeschaffung begreifen. Die so beförderten Glaubwürdigkeitslücken könnten sich allerdings, weiterhin billigend in Kauf genommen, als Bumerang erweisen.”
Die Entwicklungspolitik neigt dazu, ihre Fähigkeiten zu überschätzen und sich selbst zu überfordern. Gute Projekte, und davon gibt es viele, brauchen keine rhetorische Überhöhung, sie überzeugen auch so. In dem kleinen Büro von Ilitha Labantu in Guguletu, einem der Kapstädter Townships, werden Frauen und Mädchen, die Gewalt erlitten haben, angehört, getröstet, beraten und begleitet. Das ist trotz der progressiven Rhetorik der südafrikanischen Regierung nur mit finanzieller Unterstützung von außen, in diesem Fall durch den “Evangelischen Entwicklungsdienst” möglich. Und der Präsident - und mit ihm eine Regierung - musste erst von einer Bürgerbewegung gezwungen werden, an AIDS erkrankten Menschen wirksame Medikamente verabreichen zu lassen. Das Geld der Spenderinnen und Spender von “Brot für die Welt” wurde in der Förderung der Treatment Action Campaign gut angelegt. Beide Projekte lassen sich auch ohne Verweis auf die Modevokabel “Zivilgesellschaft” verstehen und begründen.
Die “Entwicklungspolitiker” üben - zweitens - zwar gerne und manchmal lautstark Kritik an Fehlentwicklungen und Fehlleistungen. Wenn sie selbst aber mit kritischen Fragen konfrontiert werden, werden sie nicht nur mucksmäuschenstill, sondern mauern regelrecht. Journalisten etwa, die am nächsten Morgen weiter verfolgen wollen, was sie am Abend zuvor beim Bier gehört haben (“Das Land xxx ist völlig überfördert”), sehen sich bei der Recherche einem Kartell der Gutmeinenden gegenüber, die am Ende alles zu relativieren wissen. Damit ja kein Zweifel daran aufkommt, dass Entwicklungshilfe und ihre jeweilige Tätigkeit sinnvoll ist.
Warum haben die Institutionen so wenig Vertrauen in die Urteilskraft von Journalisten und am Ende der Bürgerinnen und Bürger? Warum ist ihnen mehr an dieser Fassade als an einer differenzierten und realistischen Beurteilung gelegen? Fehlentwicklungen und Fehlsteuerungen sind ja auch im eigenen Land zu besichtigen, im Fall der Wohnungsbaupolitik sogar in Beton gegossen. Warum sollen sie ausgerechnet in sehr viel weniger konsolidierten Gesellschaften nicht vorkommen dürfen?
Die öffentliche Legitimation der Entwicklungspolitik wird zunächst vielleicht ein wenig Schaden nehmen, aber mittelfristig an Glaubwürdigkeit gewinnen, wenn auch einmal Fehler und Fehlschläge eingestanden werden. Oder Übereifer zuzugeben wird, wie im Fall der Massai in Tansania (vergl. S. 17ff), auch andernorts so selten nicht und in der Fachöffentlichkeit als “Überförderung” durchaus nicht unbekannt.
Gravierender aber noch ist - drittens -, dass zwar viel über die Notwendigkeit zusätzlicher Mittel gesprochen, über die Frage, was Hilfe eigentlich an Entwicklung bewirkt, jedoch öffentlich meist geschwiegen wird. Auf Dauer wird sich Entwicklungspolitik nicht nur durch Verweis auf Not und Unrecht und gute Absichten begründen lassen, sie wird ihre Wirksamkeit nachweisen müssen. War, wo Entwicklung erfolgreich verlaufen ist, überhaupt Hilfe im Spiel? Wie sieht es in den Ländern aus, die besonders viel finanzielle Unterstützung bekommen haben? Dazu gibt es ja grundlegende - und durchaus ernüchternde - Untersuchungen. Halten wir nicht an der Entwicklungshilfe (und den entsprechenden Institutionen) fest, statt den Menschen und den Ländern Chancen zu eröffnen, ihren Lebensunterhalt zu verdienen? Immerhin wird seit einiger Zeit öffentlich in Relation gesetzt, was an Entwicklungshilfe gegeben und durch Subventionen und andere Handelshemmnisse an Möglichkeiten genommen wird. Und seit kurzem ist immer häufiger davon die Rede, welche Summen Migranten für ihre Familien und ihre Heimatländer erarbeiten. Ihre Überweisungen nach Afrika, Asien und Lateinamerika sind weit höher als die gesamte Entwicklungshilfe (vergl. S. 60f und “der überblick” 4/2000). Und wenn sich im Handelsbereich mal ein Türchen öffnet, etwa mit dem US-amerikanischen African Growth and Opportunities Act (AGOA), dann wird es offenbar schnell und clever genutzt. Die Löhne und Arbeitsbedingungen in diesen neuen Exportfabriken lassen allerdings teilweise kräftig zu wünschen übrig.
Und schließlich: Warum wird nicht offen darüber nachgedacht, wie unsere Außenbeziehungen in der globalisierten Welt institutionell am besten zu gestalten sind, um - nehmen wir eine alte Forderung der Entwicklungspolitik - mehr Kohärenz zu erreichen? Muss es immer weiter das eigentlich der Innenpolitik geschuldete Nebeneinander von Außen- und Entwicklungshilfeministerium geben? Werden die Freunde der Entwicklungspolitik auf Dauer einer Debatte über die deutschen Interessen dadurch ausweichen können, dass sie diese für verwerflich erklären oder nur durch die Beiträge zu Frieden und Entwicklung anderswo definieren?
Dass es in absehbarer Zeit grundsätzliche Diskussionen um und über Entwicklungspolitik geben wird, dafür ist ein Leitartikel (“Verfehlte Hilfe”) in der FAZ vom 10. August dieses Jahres ein erster Vorbote. Geschrieben hat ihn Jochen Buchsteiner, als Korrespondent mit Sitz in Indien mit einigen wirtschaftlich sehr erfolgreichen Ländern Asiens vertraut. Er stellt die Frage, was es für die Entwicklungspolitik bedeutet, dass sich “ein beträchtlicher Teil der vormals armen Welt mit eigener Kraft auf die Aufholjagd begeben hat”. Indien etwa hat ja vor einem Jahr “die meisten Geber ausbezahlt” (vergl. “der überblick” 4/2003). Soll das international absteigende Deutschland die aufstrebenden Konkurrenten unterstützen, fragt Buchsteiner: “Warum werden in Thailand, das sich auf dem Sprung in die erste Liga der Weltwirtschaft befindet, mit deutscher Hilfe kleine und mittlere Unternehmen gefördert?”
Buchsteiner plädiert dafür, langfristige Hilfen nur noch dort zu geben, wo strategische Interessen berührt sind. Das ist im Blick auf die staatliche Entwicklungspolitik eine legitime Überlegung und eine ernsthafte Diskussion wert. Was strategische Interessen sind, wäre aber erst noch mal zu definieren.
Am Ende aber wird die - ungemütliche - ethische Frage bleiben, was mit den Menschen und Ländern geschehen soll, an denen wir kein strategisches Interesse haben. Buchsteiner mogelt sich über diese Frage hinweg, wenn er lediglich plebiszitäre Argumente ins Feld führt: Warum Schulen in Mosambik heute wichtiger sein sollen als Schulen in Mecklenburg, sei nur noch schwer zu vermitteln, meint er. Das ist nicht nur polemisch formuliert, sondern wird (siehe oben) bisher so nicht hinterfragt. Noch nicht.
Renate Wilke-Launer ist Chrefredakteurin des überblick.