Besuch beim fernen Nächsten
Kaum ist die vom Evangelischen Entwicklungsdienst (EED) organisierte entwicklungspolitische Themenreise für kirchliche Entscheidungsträger vorbei, da nimmt der Alltag die Teilnehmer wieder in Beschlag. Termine drängen, Arbeit hat sich aufgestaut. Es gibt Etatprobleme bei den dringend zu lösenden Aufgaben im heimischen Umfeld. Fast könnte man vergessen, dass die Welt sich nicht auf unsere unmittelbare Umgebung beschränkt.
von Jürgen Duenbostel
Aber die von der Reise nach Guatemala und El Salvador mitgebrachten Eindrücke sind doch stark genug, um von Zeit zu Zeit daran zu erinnern, dass es in fernen Ländern Menschen und Gemeinden gibt, deren Sorgen weitaus größer sind als unsere und die unsere Solidarität brauchen. Sie wären froh, wenn sie überhaupt einen Haushalt planen könnten. Es würde sie nicht zu sehr schrecken, wenn der Plan zunächst ein Defizit ausweisen müsste. Sie sind ohnehin seit langem darauf angewiesen, von der Hand in den Mund zu leben. Wie könnten sie überhaupt auf längere Sicht planen, wenn sie nicht einmal wissen, was am nächsten Tag sein wird.
Die Maya-Frauen, die wir nahe der guatemaltekischen Stadt Chimaltenango in dem evangelischen Bildungszentrum CEDEPCA (Centro Evangélico de Estudios Pastorales in America Central) getroffen haben, wussten vor zwanzig Jahren nicht einmal, ob sie am nächsten Tag noch am Leben sein würden. Der Bürgerkrieg wütete damals in ihrem Land. Ihre Heimatregion war das Operationsgebiet der Guerilla, und jeden Tag überfielen Militärs oder Todesschwadrone Dörfer und töteten jeden, den sie verdächtigten, mit der Guerilla zu sympathisieren. Die indianischen Familien in dem Gebiet von San Marcos im Westen des Landes galten von vornherein als verdächtig - zumal die meisten katholisch waren und die katholische Kirche sich sehr für die Armen einsetzte, während das Militär eher für die Interessen der Reichen kämpfte.
Eine der Frauen berichtet, wie es zu Anfang der achtziger Jahre ihr Heimatdorf in San Marcos traf: "Viele konnten nicht rechtzeitig fliehen, 70 Menschen haben die Streitkräfte umgebracht und viele verstümmelt. Sie raubten die Ernte und das Vieh und zündeten die Häuser an." Sie war damals noch ein Kind. Ihre Familie konnte gemeinsam mit anderen Dorfbewohnern gerade noch entkommen und in die Berge fliehen. Dabei durften die Kinder nicht schreien, weil das die Flüchtenden verraten hätte. Es war auch nicht möglich zu kochen, denn auch der Rauch wäre verräterisch gewesen. Der Hunger trieb viele bald aus den Bergen ihrer Heimat. Sie mussten bei fernen Verwandten Unterschlupf finden.
"In meinem Dorf sind 13 Menschen ermordet worden", erzählt eine andere der Frauen. Ihre 90-jährige Großmutter konnte auf der Flucht nicht mit den anderen mitkommen. Sie versteckte sich unter einem Busch. Aber die Militärs fanden und folterten sie, um herauszubekommen, wo die übrigen Dorfbewohner waren.
In den Heimatdörfern der Frauen leben heute andere Menschen, denen die Militärs die verlassenen Grundstücke zugeteilt hatten. Auch manche Verräter leben noch dort. Die Frauen, die wir im CEDEPCA-Zentrum treffen, haben als Binnenflüchtlinge bei Verwandten in Chimaltenango und Umgebung Aufnahme gefunden.
Das Bibelzentrum ist jetzt für sie ein Treffpunkt, wo sie miteinander über die schreckliche Vergangenheit reden und neue Zuversicht schöpfen können. Am Anfang fiel es ihnen schwer, überhaupt darüber zu reden. Es war scheinbar einfacher, das Schreckliche zu verdrängen. Gleichzeitig fanden sie es bedrückend, die Last der Vergangenheit schweigend mit sich zu tragen.
Die katholische Menschenrechtskommission hat als erste das Tabu gebrochen, über die Gräuel des Bürgerkriegs zu sprechen, und die Menschenrechtsverletzungen mit Hilfe von Zeugenaussagen offengelegt. Leichen aus "geheimen" Massengräbern - die Maya-Bevölkerung hatte zumeist gewusst, wo diese lagen, aber lange nicht gewagt, davon etwas zu sagen - wurden exhumiert, sodass die Toten endlich in Frieden bestattet werden konnten.
Im Zentralpark von Chimaltenango steht ein kleines Denkmal zur Erinnerung an die Verschwundenen: Eine Frau, die ein Gewehr zerbricht, symbolisiert die Frauen, die sich für die Verschwundenen eingesetzt haben, obwohl das sie selbst in Gefahr brachte. Das Denkmal wurde von Frauenvereinigungen mehrerer evangelischer Kirchen aufgestellt.
Mittlerweile haben die Maya-Frauen bei CEDEPC gelernt, miteinander offen über die Vergangenheit zu sprechen und ebenso darüber, dass sie nicht unterwürfig sein müssen, sondern Menschen mit Würde und Rechten sind, die ihr Leben selbst gestalten können. Sie wissen auch, wie man am besten mit seinem ganz persönlichen Ärger fertig wird. "Leider nehmen unsere Männer nicht an solchen Workshops teil", bedauert eine der Frauen. Sie hat Erfahrung damit, dass bei den Männern der Frust leicht in körperliche Gewalt umschlägt. Neben den Workshops und Gesprächen, die ihr Selbstbewusstsein fördern, können die Frauen an den Webstühlen in dem Zentrum kunstvolle Stoffe und Kleidungsstücke anfertigen und mit diesem Nebenverdienst ein wenig unabhängiger von ihren Männern werden. Darüber hinaus gibt es ein Stipendienprogramm zur Fortbildung. Eine der Frauen hat gerade erfolgreich ihre Prüfung als Fremdsprachensekretärin bestanden.
Die Besucher aus Deutschland sind beeindruckt, wie fröhlich und selbstbewusst diese Frauen sind - nach all dem Schrecklichen, was sie erlebt haben. Hier empfangen nicht devote Almosenempfänger gönnerhafte Besucher von Geberorganisationen (CEDPCA wird vom EED unterstützt), sondern stolze Frauen lassen die Gäste aus Deutschland an ihren Erfahrungen und Zukunftsplänen teilhaben.
Vier der Frauen haben im Rahmen eines Austauschprogramms eine ähnliche Gruppe in einem Dorf an Guatemalas Atlantikküste besucht. "Da haben wir gemerkt, dass wir hier schon viel weiter sind." Die dortigen Frauen seien anfangs sehr verschlossen gewesen und hätten sich gewundert, dass die CEDEPCA-Frauen immer lachten. "Wir haben Gottvertrauen", hätten sie ihnen geantwortet. Mit gemeinsamen Spielen hätten sie schließlich auch ihre Gastgeberinnen zum Lachen gebracht.
Die gleiche Fröhlichkeit wie bei CEDEPCA umfängt uns auch beim Gottesdienst in der lutherischen Kirche in San Salvador, der Hauptstadt des Nachbarlandes El Salvador. Und wie bei CEDEPCA haben die Frauen auch hier ihre Kinder und Babys mitgebracht. Niemanden stört es, wenn mitten in der Predigt Kleinkinder quietschvergnügt durch die Gänge laufen. Die Kirche ist voller als üblich, denn Bischof Medardo Gómez, der seit seiner mutigen Haltung im Bürgerkrieg hohes Ansehen genießt, wird neue Pastoren und Diakone in ihr Amt einführen, und zwei Kinder sollen getauft werden - von der deutschen Pröpstin Almuth Noetzel aus Stendal, die zu unserer Besuchergruppe gehört. In diesem Gottesdienst ist keine Orgel nötig, um den richtigen Ton anzugeben. Mit kräftigen Stimmen singen die Gemeindemitglieder alle Lieder zur Gitarrenbegleitung - auswendig bis zur letzten Strophe.
Weniger Zuversicht herrscht bei den Leitern der Lutherischen Universität in San Salvador. Die bisherige Unterstützung des Diakonischen Werkes Bayern ist ausgelaufen. Man erwartet, dass die Universität allmählich nachhaltig arbeitet und ohne ständige Zuschüsse auskommen kann. Die Uni muss sich aber gegen zahlreiche kommerzielle private Hochschulen im Land behaupten, die hohe Studiengebühren nehmen und deshalb vorwiegend Studierende aus der Ober- und Mittelschicht aufnehmen. Bei der Lutherischen Universität aber gibt es viele Studenten und Studentinnen, die relativ arm sind, nach ihrer Arbeit in Abendkursen studieren und sich keine hohen Studiengebühren leisten können.
Viele von ihnen kommen aus Gebieten, die während des Bürgerkriegs von der Guerilla kontrolliert wurden. Darunter sind viele Lehrerinnen, die einen formellen Pädagogik-Abschluss nachholen wollen. Sie hatten während des Bürgerkriegs, als der Staat seine Lehrer aus den Guerillagebieten abgezogen hatte, einfach selbst angefangen, die Kinder zu unterrichten. Nach dem Friedensschluss durften die Frauen für eine Übergangszeit mit staatlichem Salär weiter unterrichten. Künftig will der Staat aber nur noch Lehrerinnen und Lehrer mit Hochschulabschluss bezahlen.
Da die Universität mit ihren niedrigen Studiengebühren nicht mehr auskommt, plant sie jetzt, einen zusätzlichen Informatik-Fachbereich zu gründen, der auch Studenten aus besser verdienenden Familien anziehen und mehr Studiengebühren einbringen soll. Aber es fehlen Geldgeber für die dafür nötige Anfangsausrüstung mit modernen Computern. Und die kommerzielle Konkurrenz ist entschieden besser ausgestattet, sodass nicht einmal sicher ist, ob die Lutherische Universität selbst mit neuen Geräten Studenten anlocken könnte, die bereit sind, höhere Gebühren zu zahlen. Wenn aber die Uni nicht bald neue Gelder einwerben kann, wird sie schließen müssen. Und dann wird es für die Armen in El Salvador weniger Bildungschancen geben.
Die entwicklungspolitische Themenreise nach Guatemala und El Salvador, von der hier nur ein kleiner Ausschnitt beschrieben werden konnte, war die erste dieser Art, die die Arbeitsstelle für Ökumenische Begegnung des EED durchgeführt hat. Das Programm soll Entscheidungsträger aus den evangelischen Kirchen in Deutschland mit Gemeinden in Entwicklungsländern zusammenbringen und so deutlich machen, vor welchen Entwicklungsaufgaben diese stehen. In einer Zeit, in der Entwicklungspolitik in der Öffentlichkeit immer weiter aus dem Blickfeld gerät, hofft der EED, mit solchen Reisen das Bewusstsein dafür zu schärfen, dass die christliche Gemeinschaft mehr umfasst als die heimischen Gemeinden, dass internationale ökumenische Solidarität gerade in solchen Zeiten gefordert ist, wo einem das Hemd näher scheint als der Rock.
Kontakt:
Evangelischer Entwicklungsdienst
Ressort III/Ökumenische Begegnung
Ulrich-von-Hasselstr. 76
53123 Bonn
Tel: 0228-8101-2105
E-Mail: christoph.wilkens@eed.de
aus: der überblick 04/2001, Seite 122
AUTOR(EN):
Jürgen Duenbostel :
Jürgen Duenbostel ist Redakteur beim überblick.