Ansichten und Aussichten
Friedhöfe sind vergleichbar mit anderen kulturellen Errungenschaften wie ein Schloss oder eine Kohlenzeche aus vergangenen Tagen, die man erhalten möchte und auch soll, weil sie zur Geschichte eines Volkes oder der Menschheit gehören.
von Hanns Dieter Elschnig
"Einen Toten vergessen heißt nicht nur, ihn aus dem Leben zu entfernen, sondern auch, ihn aus der Geschichte zu streichen." Mit dieser Erkenntnis versehen, haben schon Griechen und Römer ihre Verstorbenen versorgt, in der Regel nicht in ihrer Stadt, der polis oder urbs, sondern außerhalb der Stadt, in Kolumbarien, den Grabkammern für die Urnen. Das schloss die Anlage kleiner und großer Mausoleen nicht aus, die sich, wie an der Via Appia, auf weite Strecken aneinander reihten.
Im zweiten nachchristlichen Jahrhundert setzten sich die Erdbestattungen durch, und wesentlich für das christliche Mittelalter wurde der Ort des Begräbnisses: Wer Rang und Namen hatte oder dem geistlichen Stand angehörte, "musste" in den Kirchen und ihren Krypten oder im Klosterhof beigesetzt werden, und dafür erhielt die Kirche Geld oder andere Privilegien. Das war nicht sehr sozial, aber die guten Gaben kamen nicht nur denen zu Gute, die kirchliche Ämter ausübten, sondern es wurden damit auch Kirchen und Kapellen verschönert, und das nicht selten in überreichem Maße. Das bewundern wir auch an vielen prachtvollen Kirchen in den ehemaligen spanischen und portugiesischen Provinzen Südamerikas. Die Ärmeren und Armen wurden vor oder hinter den Kirchen begraben, und Ungetaufte, Ketzer oder gar Schauspieler mussten außerhalb der geweihten Grenzen verscharrt werden.
Bald platzten Kirchen und Klöster aus ihren Nähten, und der spanische König Karl III erließ im Jahre 1787 ein Dekret, das die Beisetzung in den Kirchen verbot. Dieses wurde in den spanischen Besitztümern aber meist erst nach den Unabhängigkeitskriegen umgesetzt.
Damit kam die enge Gemeinschaft von Toten und Lebenden zu ihrem Ende und es begann die Geschichte der Friedhöfe. Sie lagen zunächst noch um die Kirchen, wurden aber bald in die Gebiete außerhalb von Siedlungen verbannt.
Der Friedhof wurde nach und nach zu einer Ansammlung von Gräbern und Grabmalen, die von den Angehörigen immer seltener besucht werden, verlassen oder vergessen und nur noch am Totensonntag mit frischen Blumen bedacht. Der einsame und dunkle Friedhof wurde für die Lebenden eine Stätte, die Unheimlichkeit und Schrecken verbreitet.
Irgendwann begann man, darüber nachzudenken, die Friedhöfe von ihrer bedrohlichen Erscheinung und Traurigkeit zu befreien, und es entstanden die Wald- oder Parkfriedhöfe. Ein Vorläufer und mit 400 Hektar Ausdehnung der größte Parkfriedhof der Welt ist der Friedhof Ohlsdorf Hamburg, eröffnet 1877, eine Oase der Ruhe und Schönheit für den Besucher, ein Refugium für Tiere und Pflanzen. Gärten und Waldstücke, Teiche und Bäche verschönen diesen kunstvoll gestalteten Landschaftspark.
Eine große Bedeutung erwarb sich später Stockholms Skogskyrkogarden, eine Naturlandschaft mit hügeligen Wiesen und Nadelbaum-Wäldchen, in denen "die Gräber zur Natur werden". Lauschige Waldwege führen zu drei Kapellen und einem einzigartigen Waldkrematorium. Der erste Teil der Anlage wurde 1920 eröffnet und erstreckt sich heute über mehr als 100 Hektar Land, das von einer Mauer aus riesigen Natursteinblöcken umschlossen wird. 1994 wurde Skogskyrkogaden zum Weltkulturerbe erklärt.
Die Parkfriedhöfe eroberten sich ihren Platz in der Alten und vor allem auch in der Neuen Welt, in Südamerika - zeitlich verschoben - in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts. Wenige Jahre zurück kam die Idee auf, Totenstädte in Naturlandschaften einzufügen, etwa am Rande eines Bergwaldes oder über einer Meeresbucht fern der großen Städte, wo das Rauschen der Wellen und Wälder und das Singen der Vögel die akustische Ergänzung bilden. Finisterre an der Westküste Galiziens, der "größte Friedhof der Welt" ist ein Beispiel dafür: An dieser Küste zerschellten zwischen 1870 und 1987 zweihundert Schiffe mit 3000 Seeleuten, und seit kurzer Zeit legt ein "poetischer Friedhof" davon Zeugnis ab. 1987 wurde nahe Hongkong nach ähnlichem Muster über dem Meer eine weitläufige Anlage für Kolumbarien gebaut.
Aber die Park- und Waldfriedhöfe sehen sich in ihrer weiteren Ausbreitung gefährdet wegen ihres in oder nahe bei großen Siedlungen unerfüllbaren Platzbedarfs, und in vielen Fällen wohl auch deshalb, weil die unscheinbaren Messingplaketten, oft verstreut auf weitem, baumlosem Gelände, nicht mehr dem Anspruch der Zeit entgegen kommen, nach dem ein Friedhof mehr sein soll als eine Stätte der Toten.
Das Platzproblem hat sich freilich an manchen Orten dadurch verringert, dass die Zahl der Einäscherungen stetig zunimmt und die Aufstellung der Urnen in Nischenwänden erheblichen Raum spart. Besonders in Südamerika, wo seit alters her eine starke Neigung besteht, Särge in Nischen zu bewahren, sind wegweisende Ansätze dafür entstanden, wie die Gemeinde der Lebenden mit ihren Toten zu einem vielfältigen Ausdruck der Gemeinsamkeit gebracht werden kann. Diese Gemeinschaft entspricht auch weitgehend den religiösen Vorstellungen der indianischen Eingeborenen, die im Tod nur den Übergang von einem Abschnitt des Lebens in einen anderen sehen.
In Südamerika gibt es eine ähnliche Entwicklung der Friedhofskultur wie im spanischen Mutterland: Die bis zur Eroberung durch die Konquistadoren bestehenden Grabfelder der Eingeborenen wurden ersetzt durch die Begräbnisse in den Kirchen, in den Gottesäckern um die Kirchen herum und in den Gemeinde-Friedhöfen außerhalb der Orts- oder Stadtgrenzen. Diese fanden in den größeren Städten bald keinen Platz mehr, sich auszudehnen, weil sie von ganzen Stadtvierteln umringt wurden, und es kam schließlich seit einigen Jahrzehnten zur Einrichtung neuer, privater Friedhofsanlagen, häufig in Form von "Friedensgärten" - Jardines de Paz.
Die alten Friedhöfe kämpfen um ihr Überleben, weil die Gemeinden für ihre Instandhaltung meist kein Geld haben oder ausgeben wollen. So verfallen wertvolle Skulpturen und Monumente. Die neuen Friedhöfe beschränken sich im Wesentlichen auf die einfache Friedhofskultur ihrer Vorgänger oder auf den Typus schlichter Plattenfelder.
Der Raumbedarf im Umfeld großer Wohnsiedlungen führte dazu, dass überall und schon seit langer Zeit in steigender Zahl Wände und Gebäude für Kolumbarien, sogenannten Palomarien, gebaut wurden. Man findet sie in kleinen und kleinsten Gottesäckern und auch in den Friedhöfen der Eingeborenen und natürlich in so gut wie allen Stadtfriedhöfen mit zum Teil sehr großen Anlagen.
In Brasilien führte die Entwicklung zum Bau beeindruckender Gebäude, den sogenannten "vertikalen Friedhöfen", mit modernsten Technologien ausgestattet, für Hunderte und Tausende von Särgen und Urnen. Am eindruckvollsten präsentiert sich die Nekropole in Santos, von der als letzter Bauteil gerade der 32-stöckige Turm errichtet wird. Charakteristisch für solche Anlagen ist ihr Standort in der "reinen Natur", und sie nennen sich ökologisch auch deshalb, weil sie durch den Einsatz modernster Technik bei den Nischen, den Krematorien und den übrigen Einrichtungen dem Schutz der Umwelt große Beachtung widmen.
Dass auch die Ökumene dort mit Großbuchstaben geschrieben wird, leuchtet aufgrund der multifunktionellen Zielrichtung ein: Für so gut wie sämtliche Religionen und Glaubensrichtungen werden Bestattungsdienste angeboten, mit den erforderlichen Geistlichen, Musik und Brauchtum.
Zukunftsweisende Friedhofsanlagen sind solche, wo es ein Zusammenspiel zwischen der Pflege der Gräber und Lebenskultur und Lebensfreude gibt. Der Friedhof Museo Cementerio de San Pedro in Medellin, Kolumbien, ist dafür ein Beispiel. Er besteht im Wesentlichen aus einem riesigen kreisrunden Kolosseum in Form einer durchgezogenen Nischenwand mit Säulengang, welche die inneren Grabanlagen umschließt, sowie den außerhalb liegenden Bereichen für Gräber, Mausoleen und Kapellen. Gegründet im Jahre 1842 ging der Friedhof zunächst den gleichen Weg anderer derartiger Einrichtungen: Unter dem Einfluss uninteressierter Politiker und infolge chronischen Geldmangels pendelte er zwischen Zerfall und Aufbau hin und her, bis gegen Ende des vergangenen Jahrhunderts eine Stiftung ins Leben gerufen wurde, die es sich zur Aufgabe machte, Architektur und Kunstwerke in voller Pracht zu erhalten, sozusagen als Museum in situ, und die Gemeinde der Lebenden in unmittelbarer und entfernter Nachbarschaft zu interessieren und einzubeziehen; der Friedhof wird zum Schauplatz von bildenden, kulturellen und wissenschaftlichen Programmen und Vorführungen.
Kinderprogramme wechseln sich ab mit Erwachsenenschulung in Genealogie, Kunst- und Kulturgeschichte, Schauspiele aus der Stadtgeschichte mit Konzerten des sinfonischen Rocks, tägliche Führungen mit Vorlesungen bei Vollmond, und immer wieder Ausstellungen aller Art. "Illusionen schaffen" heißt die Devise, "den Tod entmythisieren" und "das Alte für die Nachwelt bewahren".
Finanziert wird das zum Teil durch eigene Einnahmen, vor allem aber mit Spenden von Industrie und Handel, die dort auch eigene Veranstaltungen durchführen können.
Der Friedhof Cemitério Vila Formosa, in São Paulo, Brasilien, trägt den Untertitel "Metropole des Todes" - Nekropole des Lebens. Das Konzept stammt von Eduardo Coelho Morgado Rezende. Er beschreibt die Anlage etwa so: Ein Friedhof unserer Zeit muss sich in Richtung eines kommunalen Zentrums wandeln, wohin die Menschen nicht nur gehen, um Gräber zu besuchen, sondern wo soziale und kulturelle Akzente gesetzt werden und wo die benachbarte Bevölkerung - hier eher untere soziale Schichten - aufgefordert ist, am Erhalt der Anlage Anteil zu nehmen, aber auch an der Gestaltung von Darbietungen aller Art. Da wird der Tod in Form von Gräbern unterbrochen von Freizeitaktivitäten. So wird auf dem Friedhofsgelände Fußball gespielt wird. Es gibt Marathons, Fahrradrennen sowie Wettbewerbe im Drachensteigen und mit Rollerskates. Familien treffen sich zu gemeinsamer Mahlzeit, Händler aller Waren und Wachskerzensammler treiben sich herum, Sektenmitglieder treffen sich zu Singspielen und zum Deklamieren, Räuber finden Versteck vor der Polizei, und es fehlen nicht die leichten Mädchen, die Drogendealer und -raucher und die umbandistas, die ihre nächtlichen Musik- und Tanzzauber der calunga betreiben. Zwischen zigtausenden von einfachen und einfachsten Gräbern mit rosaroten und blauen Kreuzen - für Frau und Mann - ist Platz für alles, was sich auch in der Gemeinde der Lebenden abspielt: 763.000 Quadratmeter umfasst das gesamte Areal, das sich im Herzen von São Paulo ausbreitet, und dessen Gründung im Jahre 1942 ermöglicht wurde durch Überlassung größerer Areale aus dem Besitz privater Eigner und durch Enteignung einiger heruntergekommener Favela-Gebiete durch die Stadtverwaltung.
Vielleicht finden diese Konzepte ihren Weg in die Alte Welt zurück, so dass sich auch dort die Menschen zu Heiterkeit inmitten der Gräber verführen lassen, um Leben mittels des Todes zu schaffen.
aus: der überblick 02/2003, Seite 28
AUTOR(EN):
Hanns Dieter Elschnig:
Hanns Dieter Elschnig lebt seit 1965 als Unternehmer in Venezuela und schreibt über Kulturgeschichte.