Ulrich Hambüchen berät Peking beim Aufbau einer neuen Sozialversicherung
Die Regierung in Peking weiß, dass sie das System der sozialen Sicherung reformieren muss. Aber sie steht vor einer sehr schwierigen Aufgabe, erklärt Dr. Ulrich Hambüchen. Er ist Richter am Bundessozialgericht und seit 1994 beurlaubt, um im Auftrag des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) das chinesische Ministerium für Arbeit und soziale Sicherheit in Peking beim Aufbau der Sozialversicherung und eines neuen Arbeitsrechts zu beraten. Zusätzlich berät er seit Anfang 2000 auch den Ständigen Ausschuss des Nationalen Volkskongresses, des Parlaments der Volksrepublik China, bei der geplanten Neuordnung des Verwaltungsrechts.
von Bernd Ludermann
Interview mit Dr. Ulrich Hambüchen
Sie beraten das chinesische Arbeitsministerium beim Aufbau von sozialen Sicherungssystemen. Welche Reformen erachten die chinesischen Behörden als besonders dringend?
Das erste Problem ist die Alterssicherung, im Wesentlichen also die gesetzliche Rentenversicherung. Früher waren die Betriebe für die gesamte soziale Sicherung zuständig, auch für die Rentenzahlungen. Das ist zu teuer geworden, die gesamten Lohnnebenkosten sind zu hoch. Deswegen ist es wichtig, dass man die Betriebe von diesen Kosten entlastet und ein getrenntes soziales Sicherungssystem aufbaut. Das zweite, vielleicht noch gravierendere Problem ist die
Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Jetzt, unter dem marktwirtschaftlichen System, hat sich – wie in vielen früher sozialistischen Systemen – herausgestellt, dass es keine wirkliche Vollbeschäftigung gab; viele Arbeitnehmer wurden in den Betrieben einfach mitgeschleppt. Mehr als ein Drittel der Arbeitnehmerschaft ist heute entbehrlich und wird nun entlassen.
Liegt für die Alterssicherung auch ein Problem darin, dass der Anteil der Rentner an der Bevölkerung wächst?
Ja. Das ist in fast allen entwickelten Ländern ein großes Problem, auch in Deutschland. Das Durchschnittsalter der chinesischen Bevölkerung ist in den letzten 30 Jahren kontinuierlich gestiegen. Das ist erfreulich, aber für die Sozialversicherung ist es sehr problematisch, denn das gesetzliche Rentenalter beträgt für Männer in der Regel 60 und für Frauen 55 Jahre. Da die Chinesen heute fast so alt werden wie bei uns, können Sie sich vorstellen, wie viele Rentner es gibt. Die Ein-Kind-Politik erschwert das Problem weiter.
Wer muss das Geld für die neue Rentenversicherung aufbringen, wenn die Betriebe entlastet werden?
Zuständig für die Auszahlung der Renten sind jetzt nicht mehr die Betriebe, sondern Sozialversicherungsbehörden, die überall im Lande errichtet worden sind. Aus deren Kassen werden die Renten gezahlt. Die Beiträge werden von den Betrieben und von den Beschäftigten aufgebracht – die Betriebe zahlen 20 Prozent ihrer gesamten Lohnsumme und die Beschäftigten acht Prozent des individuellen Lohns ein. Das Geld fließt in zwei unterschiedliche Fonds. Wir unterscheiden in der Rentenversicherung das Kapitaldeckungs- und das Umlageverfahren. In Deutschland praktizieren wir derzeit noch das Umlageverfahren, das heißt die Beschäftigten und ihre Arbeitgeber zahlen Beiträge, und jede Mark, die so hereinkommt, wird sofort wieder für die gegenwärtigen Rentner ausgegeben. In Zeiten der Vollbeschäftigung ist das gut, bringt aber in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit, verbunden mit einem sehr starken Rückgang der jugendlichen Bevölkerung, ein großes Problem mit sich. Dieses Problem haben auch die Chinesen. Deswegen versuchen sie eine Mischfinanzierung. Nach einem kapitalgedeckten Verfahren spart jeder Versicherte in China für sich einen Kapitalstock an und bekommt daraus später eine entsprechende Rente. Zusätzlich erhält er aus einer Solidarkasse, also umlagefinanziert, eine zusätzliche Grundrente. So ist das System konzipiert, es funktioniert allerdings noch nicht überall und immer.
Wie hoch ist die Grundrente?
20 Prozent des regionalen Durchschnittslohns.
Davon kann ein chinesischer Rentner doch nicht leben?
Schlecht, sehr schlecht.
Aber die individuelle Rente kann doch für Chinesen, die demnächst in Rente gehen, keine Lösung sein, weil sie auf dem Individualkonto gar nicht mehr genug ansparen können.
Das ist genau das Problem. Ein solches System ist möglicherweise tragfähig, wenn es schon 20 Jahre läuft. Aber es ist ein riesiges Problem, wenn man, während man es aufbaut, gleichzeitig eine starke Rentnerschaft mitfinanzieren muss, und so ist es in China zurzeit. Die gegenwärtigen Rentner werden von ihren Betrieben nicht mehr bezahlt und müssen daher auch aus der neuen Versicherung finanziert werden, obwohl sie keine Kapitalstöcke angespart haben. Damit überstrapaziert man das System.
Ist das mit der Situation in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg vergleichbar? Damals hat das Umlageverfahren es erlaubt, Renten an Personen zu zahlen, die keine oder kaum Einzahlungen geleistet hatten.
Man kann das vergleichen. Wir haben 1957 und 1969 in zwei Stufen das System vom Kapitaldeckungs- auf das Umlageverfahren umgestellt. Daher war man übrigens auch in der Lage, die DDR-Bürger nach der Vereinigung grundsätzlich in die Rentenversicherung einzugliedern. Das wäre mit einem Kapitaldeckungsverfahren nicht möglich gewesen, es ging nur mit dem Umlageverfahren – und auch nur dadurch, dass man auf der einen Seite die Beiträge stark erhöht und auf der anderen Seite der Staat aus Steuern mehr Mittel zugeschossen hat.
Und dieser Weg ist für die Chinesen nicht gangbar?
Das wird jetzt intensiv überlegt. Mitte Dezember gab es im Staatsrat eine große Diskussion über das Problem. Mehrere Modelle werden erwogen, unter anderem das, bestimmte Übergangsleistungen aus Steuern zu finanzieren.
Wer soll denn in diese Rentenversicherung einbezogen sein?
Alle Personen, die in städtischen Betrieben beschäftigt sind, sowie alle Selbstständigen, alle privaten Unternehmer.
Private Unternehmer sind aus ihren Betriebseinnahmen beitragspflichtig?
Genau. Und zwar sowohl für ihre Angestellten – es gibt ja private Unternehmer mit Angestellten und Arbeitern – als auch für sich selbst aus dem Betriebsvermögen.
Wie sieht es mit Wanderarbeitern aus, die in Städten beschäftigt sind?
Davon gibt es zwischen 120 und 150 Millionen. Und sie haben keinerlei soziale Absicherung. Das ist ein weiteres Problem.
Wird das nicht dazu führen, dass für Betriebe der Anreiz steigt, Wanderarbeiter zu beschäftigen, weil für die keine Beiträge gezahlt werden müssen?
Man muss versuchen, die Wanderarbeiter möglichst bald in das Sozialversicherungssystem zu integrieren. Aber man muss Schritt für Schritt vorgehen, man kann nicht alles gleichzeitig machen, sonst kann man überhaupt nichts mehr finanzieren.
Hat die chinesische Regierung denn vor, die Versicherung auf Wanderarbeiter auszudehnen?
Dass sie das Problem der Wanderarbeiter sieht, ist klar. Aber man weiß eben, dass man diese Personen nicht von heute auf morgen mit einbeziehen kann. Auch die ländliche Bevölkerung – und aus diesem Personenkreis stammen ja nahezu alle Wanderarbeitnehmer – hat mit der Rentenversicherung noch nichts zu tun. Es gab erste Ansätze vor zehn Jahren; da hat man für die Bauern Kassen eingerichtet, wo sie sich selbstständig versichern konnten. Aber das sind nur Pilotvorhaben, bislang ist das noch nicht weiter fortgestritten.
Gibt es in der chinesischen Staatsführung unterschiedliche Ansichten darüber, welches Modell der sozialen Absicherung am geeignetsten ist?
Ab 1995 hat man in unterschiedlichen Provinzen, die verschiedene Voraussetzungen hatten, mehrere Modelle erprobt. Die Erfahrungen hat man gesammelt und 1998 vereinheitlicht. Seitdem gilt das Modell, das ich geschildert habe. Darüber besteht Konsens. Es gibt natürlich immer wieder Überlegungen, wie man dieses recht starre Modell an besondere Umstände anpassen kann. Erstens wird überlegt, es stärker aus Steuern zu finanzieren, zweitens, die Beitragssätze zu verändern, und drittens, das Individualkonto gegenüber der Solidarkasse zu stärken.
Können die Provinzen bis zu einem gewissen Grade ihren eigenen Weg gehen?
Sie müssen ihren eigenen Weg gehen. Der Rahmen ist vorgegeben, aber es gibt an vielen Stellen Klauseln, in denen es heißt, hiervon kann abgewichen werden, wenn die Provinz besonders reich oder besonders arm ist, besonders ländlich strukturiert oder was auch immer.
Sehen Sie denn die Gefahr, dass das auch zu sehr unterschiedlicher sozialer Absicherung je nach Provinz führt? Die wirtschaftlichen Unterschiede zwischen den Provinzen sind ja gewachsen.
Das ist eine grundsätzliche Frage: Wollen Sie ein ganz China abdeckendes Sozialversicherungssystem mit einem einheitlichen Beitrags- und Leistungsverfahren?
Das wird wahrscheinlich nicht gehen, weil die Einkommensverhältnisse zu unterschiedlich sind. Also wird man wahrscheinlich dazu übergehen, das System zwar mit einem nationalen Rahmen zu versehen, aber in den Provinzen die Beiträge und Leistungen unterschiedlich zu gestalten. Das Problem ist dann möglicherweise, dass Wanderbewegungen gefördert werden, aber das muss man abwarten.
Wie weit sind die chinesischen Behörden in der Lage, das Rentenversicherungsmodell auch durchzusetzen? Können sie zum Beispiel tatsächlich die Beiträge erheben und korrekt verwalten?
Das ist ein weiteres Problem. Beiträge werden in großer Menge gesammelt. Aber es gibt Betriebe, die sich weigern, Beiträge zu zahlen, oder die nicht richtig erfasst werden. Das ist bei der Größe des Landes verständlich. Es gibt natürlich auch Regionen oder Kassen, die nicht so sauber geführt werden, sodass Beiträge zweckentfremdet werden.
Wie viel Vertrauen hat die Bevölkerung zu dem System? Es muss für die Versicherten doch sehr wichtig sein, wie sicher ihr angespartes Kapital ist, besonders unter der Kapitaldeckung auf dem Individualkonto.
Das ist ein zusätzliches Problem. Der Staat muss, wie gesagt, aus dem jetzt aufgebauten zweispurigen System auch die sogenannten Altfälle, die jetztigen Rentner, unterstützen. Dazu reicht die Solidarkasse nicht aus. Er hat sich dadurch geholfen, dass er die individuellen Konten geplündert hat; die angesparten Kapitalstöcke sind derzeit im Prinzip nur virtuell vorhanden. Bisher kamen alle Beiträge in einen Topf, hatten aber zwei verschiedene Namen. Aber das hat man jetzt geändert. Es gibt seit Jahresbeginn Vorschriften, dass das nicht mehr zulässig ist, sodass die Finanzierung der Altfälle aus individuellen Konten ausgeschlossen ist. Gerade das war bislang ein riesiges Problem, und dies fördert natürlich nicht unbedingt die Akzeptanz des Systems in der Bevölkerung.
Bedeutet diese Neuerung, dass der Bedarf an Steuersubvention steigt?
Das ist eine Möglichkeit. Sie können Steuern oder sonstige Einnahmen für diese Altfälle verwenden und dadurch die Solidarkasse vergrößern, um Renten für Personen zu finanzieren, die keine eigenen Beiträge gezahlt haben. Man kann aber auch die Betriebe weiter die Renten für die Altfälle zahlen lassen. Das ist dann wieder ein marktwirtschaftliches Problem: Sind die Betriebe mit diesen Leistungen konkurrenzfähig?
Sind die Behörden, die die individuellen Konten der Versicherung verwalten, denn in der Lage, das Kapital profitabel anzulegen?
Bislang gibt es die Möglichkeit, es zu offiziellen Sparzinsen oder in Staatsanleihen anzulegen, und die waren immer verhältnismäßig profitabel. Aber man kann absehen, dass irgendwann das Wirtschaftswachstum in China nachlässt und man dann nicht mehr so hohe Zinserträge erzielt. Dann wird es sicherlich problematisch. Auf der anderen Seite überlegt man jetzt, ob man andere Arten von Verwertung der Fonds zulassen soll, entweder auf dem Wertpapiermarkt oder sogar im Ausland.
Würde das nicht eine weitere Öffnung des chinesischen Finanzsystems voraussetzen?
Das setzt es voraus.
Stimmt der Eindruck, dass die chinesische Regierung mehr oder weniger das von der Weltbank vorgeschlagene System übernommen hat?
Sie hat beide Modelle kombiniert. Aber man kann einen starken kapitalistischen oder monetaristischen Ansatz nicht leugnen. Das Problem ist, dass man mit diesem Ansatz heute sehr unglücklich ist, aber das nun gewählte Verfahren nicht wieder rückgängig machen kann. Das würde zum Chaos führen.
Wer ist damit unglücklich?
Beispielsweise Mitarbeiter im Arbeitsministerium, die sehen, dass sie mit diesem neuen System große Finanzierungsprobleme haben.
Würden die heute ein anderes System bevorzugen?
Man würde das Modell vielleicht noch weiter differenzieren, indem man die Altfälle aus der neuen Regelung herausnimmt. Denn die Behörden haben das Problem, dass sie ein vielleicht tragfähiges Modell aufbauen, aber das Geld für Leute ausgegeben wird, die jetzt schon Rentner sind.
Wie wird Ihr eigener Rat von den chinesischen Behörden aufgenommen?
Wir, sprich die Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ), die die Entwicklungspolitik des BMZ umsetzt, vertreten nicht unbedingt den deutschen Ansatz, sondern unser Hauptaugenmerk ist darauf gerichtet, Lösungswege für die besonderen Bedingungen in China aufzuzeigen. Wir haben nie gesagt: "Nun macht mal schnell ein Umlageverfahren". Wir unterstützen die Suche Chinas nach einem eigenen Weg. Das Problem ist, dass die Chinesen natürlich sehr viel weniger statistische Grundlagen über ihre Bevölkerung haben als wir in Europa und speziell in Deutschland. Deswegen kann man vielleicht ein Modell entwerfen und merkt dann plötzlich zehn Jahre später, dass man von falschen Fakten ausgegangen ist.
Sucht die chinesische Regierung Rat von verschiedensten Seiten und guckt dann, was sie daraus machen soll?
In der Regel kann man das so sagen, ja. Ich bin jetzt sehr lange hier und habe daher ganz gute Beziehungen zu den chinesischen Fachleuten. Wenn man hier lange arbeitet, hat man auch einen besseren Zugang zur asiatischen Mentalität als jemand, der nur alle drei Monate aus Amerika kommt und einen Vortrag hält und dann wieder fährt. Wir sind schon verhältnismäßig gut akzeptiert, haben aber natürlich anders als die Weltbank und die Asiatische Entwicklungsbank (ADB) keine großen Geldmengen zu Verfügung. Das ist unser Manko.
Hat sich das Verhältnis von den chinesischen Behörden zu Ihnen über die Jahre verändert?
Ja. Als ich 1994 anfing, war ich einer der ersten, der in einem chinesischen Ministerium arbeitete, und das war für beide Seiten natürlich völlig neu. Dass wir heute die Chance haben, im Ständigen Ausschuss des Volkskongresses, also im Innersten der Gesetzgebungsmaschinerie, tätig zu sein, das ist schon enorm. Das wäre früher undenkbar gewesen.
aus: der überblick 01/2001, Seite 60
AUTOR(EN):
Bernd Ludermann :
Bernd Ludermann war viele Jahre Redakteur beim "überblick". Er arbeitet jetzt als freier Journalist in Hamburg und betreut unter anderem als Redakteur die Forum-Seiten im "überblick".