Der Schlüssel zu einem Impfstoff gegen HIV ist möglicherweise bei afrikanischen Prostituierten zu finden.
Nairobi, Kenia. In Pumwani, einem der Elendsviertel dieser Stadt, scheint alles verkehrt herum zu laufen. Pumwani gehört zu den Rotlichtvierteln der kenianischen Hauptstadt, aber das, was sich in solchen Bezirken normalerweise nachts abspielt, findet hier am helllichten Tage statt. Nach Einbruch der Dunkelheit wird die Gegend selbst für Prostituierte zu gefährlich.
von Mark Schoofs
Verkehrt ist auch die Art und Weise, wie die Frauen auf sich aufmerksam machen. Miniröckchen und hochgebundene Busen gibt es hier nicht. Im Gegenteil, sagt Joshua Kimani, ein charismatischer junger Arzt, der eine Forschungsklinik für Frauen aus dem Milieu leitet, eine Prostituierte "ist jede Frau, die vor der Tür sitzt und sauber gekleidet wirkt."
Die außergewöhnlichste Besonderheit jedoch hat mit Frauen wie Joyce zu tun, die in einem einzigen Raum wohnt, kaum groß genug für ihr Bett. Joyce, die nicht möchte, dass ihr richtiger Name genannt wird, ist aus Tansania nach Nairobi gekommen. Sie hatte drei Kinder zu ernähren, und es dauerte kein Jahr, bis sie anfing, sich zu prostituieren. Das war 1983.
Niemand weiß, wann genau das HI-Virus in in Nairobi Einzug hielt. Als der kanadische Forscher Frank Plummer 1985 die Verbreitung von Tripper und Chlamydien (einer Geschlechtskrankheit) unter den Sex-Arbeiterinnen von Pumwani untersuchte, entschied er sich eher zufällig, die Blutproben auch auf HIV zu testen. Bei zwei Dritteln der Frauen war das Ergebnis positiv. Daraufhin machte er HIV zu seinem Forschungsschwerpunkt.
Joyce gehörte zu den glücklichen Frauen, die nicht infiziert waren – genau genommen war ihr Glück eine Sensation. Seit ihrem ersten HIV-Test sind vierzehn Jahre vergangen. Ungefähr die Hälfte dieser Zeit hat sie damit zugebracht, bis zu zehn Freier am Tag zu bedienen. Trotzdem blieb sie HIV-negativ, während der Prozentsatz infizierter Prostituierter auf über 90 Prozent gestiegen war. Joyce zog sich andere Geschlechtskrankheiten zu, was zum einen belegt, dass ihre Partner keine Kondome benutzten, und zum anderen, dass sie höchst wahrscheinlich dem HI-Virus ausgesetzt war. Trotzdem bekam sie das Virus nicht.
Joyce ist sicherlich ein ungewöhnlicher Fall, aber kein einzigartiger. Plummer hat eine interessante Entdeckung gemacht: Wenn eine Sex-Arbeiterin sich das Virus nach fünf Jahren noch nicht zugezogen hatte, war die Wahrscheinlichkeit gering, dass sie es überhaupt jemals bekommen würde. Die einfachste Erklärung schien die zu sein, dass Frauen wie Joyce über eine starke Abwehr gegen das HIV verfügen – dass sie praktisch immun sind. Aus diesem Grund begann die Wissenschaft, sich intensiv für diese Sex-Arbeiterinnen zu interessieren, denn es handelte sich, wie es in der kühlen Sprache der medizinischen Forschung heißt, um Fälle, " die häufig dem Virus ausgesetzt, aber nicht infiziert" sind.
Frauen, die als Prostituierte arbeiten, sind in Afrika, wo die Seuche hauptsächlich durch heterosexuellen Geschlechtsverkehr übertragen wird, zu den Sündenböcken für Aids geworden. Männer werfen Prostituierten vor, die Immunschwäche über die Menschen gebracht zu haben. Insofern liegt ein besonderes Paradox in der Tatsache, dass Joyce und andere Prostituierte der medizinischen Forschung wertvolle Hinweise darauf geliefert haben, wie die komplexen Mechanismen des Immunsystems funktionieren und vor allem wie es in der Lage sein könnte, das Virus abzuwehren. Die Erkenntnisse, zu denen die Wissenschaft dank dieser Frauen gelangt ist, haben sich mittlerweile in der Entwicklung eines vielversprechenden Impfstoffes niedergeschlagen, der in naher Zukunft an Menschen getestet werden wird. Diejenigen, die bisher als Sündenböcke für die Epidemie in Afrika herhalten mussten, könnten daher schon bald die Retterinnen aus dieser Katastrophe sein.
Denn die einzige Chance, die Epidemie zu besiegen, ist ein Impfstoff. Die neuen Aids-Medikamente sind zwar sehr wirksam, aber sie können die Krankheit nicht heilen. Davon abgesehen sind sie für Entwicklungsländer viel zu teuer. In Amerika und Westeuropa machen zudem Resistenzen und Nebenwirkungen die Behandlungserfolge bei immer mehr Patienten zu einer unsicheren Angelegenheit. Die anfängliche Hoffnung, dass man das HIV ganz aus dem Körper des Menschen vertreiben könne, hat sich zerschlagen. Wenn sich das Virus erst einmal in der DNA des Patienten eingenistet hat, weiß es offenbar zu überleben.
Theoretisch ließe sich die Seuche aufhalten, wenn die Menschen ihr Verhalten änderten. Viele Afrikaner schauen deshalb voller Hoffnung nach Uganda. Der Präsident des Landes, Yoweri Museveni, hat energische Maßnahmen gegen die Epidemie ergriffen mit dem Erfolg, dass die Infektionsrate seit den frühen neunziger Jahren in einigen städtischen Gebieten drastisch zurückgegangen ist. In einem Fall ergaben die Erhebungen eines medizinischen Behandlungszentrums, dass die Verbreitung des Virus um die Hälfte abgenommen hat. Doch auch im Einzugsgebiet dieser Krankenstation sind immer noch 13 Prozent aller schwangeren Frauen infiziert – das heißt es gibt weiterhin ein riesiges Reservoir an HIV-positiven Menschen. Zweifellos lassen sich durch Aufklärung Millionen von Menschen retten. Es ist jedoch eine Tatsache, dass bisher noch nirgendwo in der Welt eine Epidemie durch Verhaltensänderungen wirklich aufgehalten werden konnte, nicht einmal in wohlhabenden Ländern.
Impfungen hingegen haben eine Krankheit, und zwar die Pocken, völlig ausgerottet und sind im Begriff, mit der Poliomyelitis (Kinderlähmung) eine weitere auszumerzen. Der ugandische Forscher Roy Mugerwa, der Afrikas ersten Test für einen Aids-Impfstoff leitet, sagt: "Wir haben aus der Geschichte gelernt, dass der einzige Weg, eine Epidemie zu stoppen, die Impfung ist."
Impfstoffe wehren nicht selber eine Infektion ab. Vielmehr bringen sie dem Immunsystem bei, wie es den schädlichen Mikroorganismus erkennen und bekämpfen kann. Die erste Impfung überhaupt – gegen Pocken – bestand aus Kuhpocken-Viren, die bei Menschen nur schwache Symptome auslösen, aber das Immunsystem gegen die richtige Krankheit wappnen. Das Polioserum von Salk bestand ganz einfach aus einem abgetöteten Polio-Virus. Die medizinische Forschung ist seitdem weit fortgeschritten, doch das Prinzip ist immer noch das, welches von altersher die Chinesen angewendet haben, indem sie Menschen mit Hilfe eines hohlen Knochens pulverisierten Schorf aus Pockenviren in die Nase bliesen: Das Immunsystem wird durch eine Virusattrappe dazu gebracht, sich zu verteidigen.
Aber kann man dem Körper auch beibringen, das HI-Virus abzuwehren? Es ist noch nicht lange her, dass die Wissenschaftler nahe daran waren zu verzweifeln, und viele sind nach wie vor sehr skeptisch. Denn die Besonderheit des HIV besteht darin, dass es das Immunsystem selbst attackiert. Außerdem tötet es nahezu jeden, der sich infiziert. Im Gegensatz dazu hat es immer Menschen gegeben, die sich von einer Pockeninfektion erholt haben. Viele andere entwickelten erst gar keine Symptome, weil ihr Immunsystem dem Virus sehr schnell entgegentrat. Je mehr die Wissenschaft über die Entstehungsgeschichte von Aids herausfand, desto sicherer schien festzustehen, dass jeder daran sterben müsse und niemand in der Lage sei, das Virus abzuwehren.
Dies erklärt, weshalb die Fälle der Prostituierten von Pumwani so wichtig sind. Darin liegt aber auch der Grund, "weshalb die Leute uns zuerst nicht glauben wollten", erinnert sich Omu Anzala, ein Forscher, der an den Studien über die Frauen von Pumwani beteiligt war. Hatten die Prostituierten wirklich Kontakt mit dem Virus? Ihre Testergebnisse enthielten jedenfalls keine Hinweise auf Antikörper. Die sind aber das klassische Indiz für eine Infektion. Vielleicht waren die Frauen trotz der vielen Partner nicht mit dem Erreger in Berührung gekommen.
Das Virus hinterlässt jedoch noch andere Spuren im Körper. Das Immunsystem verfügt über zwei Hauptwaffen: Antikörper, welche die frei im Blut treibenden Viren attackieren, sowie zytotoxische T-Lymphozyten – auch T-Killerzellen genannt -, die die infizierten körpereigenen Zellen vernichten. Wie die Antikörper sind die T-Killerzellen speziell auf einen bestimmten Mikroorganismus ausgerichtet. Deshalb stellen sie ebenfalls eine Art Fingerabdruck des Virus dar.
Bei der Infektion einer Zelle treten Fragmente des Virus, sogenannte Epitope, an der äußeren Membran dieser Zelle hervor. T-Killerzellen erkennen diese Epitope und zerstören die befallene Zelle. Mehr noch, das Immunsystem repliziert Millionen von T-Killerzellen, die genau auf diese Epitope geeicht sind, um so alle virusinfizierten Zellen zu vernichten. Eine hohe Zahl von HIV-spezifischen T-Zellen weist folglich darauf hin, dass das Virus im Körper vorhanden gewesen ist.
Andrew McMichael, ein Wissenschaftler an der Universität Oxford, gehört weltweit zu den führenden Experten für T-Killerzellen. Mit seiner Kollegin Sarah Rowland-Jones hat er Prostituierte in dem westafrikanischen Staat Gambia untersucht – allesamt Fälle, in denen vielfacher Kontakt mit dem Virus nicht zu einer Infektion geführt hatte. Viele dieser Frauen hatten eine erhöhte Anzahl der HIV-spezifischen T-Killerzellen. Allerdings konnten die gambischen Prostituierten ihren Kolleginnen in Pumwani in Sachen Viruskontakt nicht das Wasser reichen. Als entscheidende Testpersonen für die neuen Forschungsergebnisse kamen daher nur die Frauen von Pumwani infrage.
Plummers Team hatte zwar bereits Belege für HIV-spezifische T-Killerzellen gefunden, aber viele Wissenschaftler waren dennoch nicht überzeugt. In Zusammenarbeit mit Plummer unterzogen die Forscher der Universität Oxford die Ergebnisse einer nochmaligen Überprüfung und konnten so praktisch jeden wissenschaftlichen Zweifel beseitigen: Die Frauen waren tatsächlich dem Virus ausgesetzt gewesen, und ihr Körper hatte mit Hilfe von T-Killerzellen eine Abwehr auf die Beine gestellt. Waren diese Zellen möglicherweise der Schlüssel zu einem Impfschutz?
Im Zuge der neuen Erkenntnisse, welche die Wissenschaft über die Anfangsphase des HIV-Angriffs auf den Körper gewann, kristallisierte sich heraus, dass das Immunsystem grundsätzlich immer heftige Gegenwehr leistet. Genau genommen ist das, was sich in den ersten Wochen nach der Infektion im Körper abspielt, ganz außergewöhnlich – eine Erkenntnis, die den gegenwärtigen Konsens, dass T-Killerzellen bei der Abwehr des HIV eine entscheidende Rolle spielen, zusätzlich untermauert.
Der typische Vorgang stellt sich folgendermaßen dar: Die Oberflächen bestimmter Körperzellen sind mit zwei Molekülen besetzt, die CD4 und CCR5 heißen. Wenn das Virus einer solchen Zelle begegnet und diese Moleküle bindet, hat es sich – gleichsam wie ein Dieb, der ein Schloss knackt – Zutritt verschafft; es kann nun die DNA der betreffenden Zelle steuern und diese zwingen, bis zu 10.000 neue Viren zu produzieren. Diese werden aus der Zelle ausgestoßen, sodass sie über die Blutbahn durch den Körper treiben, nur darauf wartend, in neue Zellen einzudringen.
Binnen 48 Stunden arbeiten sich Schwärme von Viren vom Ort der ersten Infektion in die Lymphknoten vor, wo es jede Menge von den Zellen des Immunsystems gibt, auf die das HI-Virus es abgesehen hat. Im Laufe von nur wenigen Tagen – manchmal reichen drei bereits aus – infiltriert das Virus bestimmte langlebige Zellen, in denen es in der Lage ist, heftige medikamentöse Gegenangriffe jahrelang zu überdauern, sodass es immer wieder hervorbrechen und die Infektion neu entfachen kann. Am zehnten Tag hat das Virus sich normalerweise auf das Gehirn, die Milz und die Gedärme ausgebreitet. Hat die Infektion dieses Stadium erreicht, steigt die Anzahl der HI-Viren im Blut auf geradezu unvorstellbare Mengen an: Ein einziger Milliliter Blut – das ist nicht mehr als ein Tropfen – enthält bis zu 95 Millionen Viren.
Zu diesem Zeitpunkt organisiert das Immunsystem eine massive Gegenwehr. Der Körper produziert Millionen von HIV-spezifischen T-Killerzellen, die die infizierten Zellen angreifen und außerdem bestimmte Moleküle absondern, die HI-Viren paralysieren können. Erst zirka zwei Wochen später – manchmal dauert es sogar mehrere Monate – tauchen die ersten HIV-Antikörper im Blut auf. Sie scheinen jedoch wenig Wirkung zu haben. Offenbar sind es gerade die T-Killerzellen, die das Virus in Schach halten.
Sie eliminieren das Virus allerdings nicht. Stattdessen beißen sich Virus und Immunsystem in einem jahrelangen offenen Kampf fest. Aus Gründen, die immer noch nicht verstanden werden, besiegt das HIV schließlich das Immunsystem und macht den Patienten gegenüber jeder Krankheit schutzlos.
Die Vorgänge während der ersten Tage nach der Infektion, wenn sich die Viren bis zur Sättigung im Körper ausbreiten, enthalten nach Meinung von McMichael die Lösung zur Entwicklung eines Impfstoffes. T-Killerzellen "jagen unablässig das Virus", sagt er, "und das Virus ist immer einen Schritt voraus. Wenn aber die sich infizierende Person geimpft ist, verfügt stattdessen das Immunsystem über einen Vorsprung."
McMichael und sein Team haben daher einen Impfstoff aus der DNA der Epitope hergestellt, auf die die T-Killerzellen reagieren. Dabei wurde darauf geachtet, dass diese Virusfragmente aus Teilen des HI-Virus stammen, die nicht mutieren und sich daher nicht dem Angriff der T-Killerzellen entziehen können. Einige der Epitope in dem Impfstoff sind solche, die von T-Killerzellen der Prostituierten in Pumwani angegriffen wurden, jenen Fällen also, in denen Kontakt mit dem Virus bestand, aber keine Infektion folgte. "Der Impfstoff wurde teilweise", sagt Plummer, "auf diese Frauen zugeschnitten."
Der Impfstoff wird in Nairobi getestet. Möglicherweise kann nach einer Impfung das Immunsystem das Virus ausrotten, bevor es sich im Körper einnistet. Wenn das nicht funktionieren sollte, kann der Impfstoff vielleicht wenigstens dem Körper helfen, die Vermehrung des Virus so gering zu halten, dass es Sexualpartner nicht infiziert und die Krankheit nie auslöst. Vielleicht.
Selina – dies ist nicht ihr wirklicher Name – blendet die schwierigen Aspekte ihres Lebens aus. Sie behauptet zum Beispiel, sie könne sich nicht erinnern, wann sie das erste Mal für Sex Geld nahm. Dafür betont sie enthusiastisch die wenigen schönen Dinge, die ihr widerfahren sind, wie zum Beispiel die Tatsache, dass sie nie das HIV bekommen hat. Wie Joyce gehörte sie zu jener allerersten Gruppe von Prostituierten, die Plummer 1985 untersuchte, und ebenso wie Joyce war sie nicht infiziert. Sie prahlte damit, dass sie immun sei. Wenn man sie jedoch heute danach fragt, ob sie früher geglaubt habe, sie sei für das Virus unangreifbar, gibt sie die unlogische Antwort, dass sie vorsichtig sein müsse, weil manche Männer sich "auf trickreiche Weise" des Kondoms entledigten.
Das Leben der Prostituierten in Pumwani ist schwer. Wenn sie sich mit HIV infizieren, dauert es im Durchschnitt nur vier Jahre, bis sie Aids im Vollstadium haben – eine Zeitspanne, die sehr viel kürzer ist als bei kenianischen Frauen, die ihren Lebensunterhalt nicht mit Prostitution verdienen, ganz zu schweigen von Frauen in der ersten Welt. Plummer beschreibt das Leben der Prostituierten als "unglaublich brutal". 1996 ist Selina mehrfach vergewaltigt worden. Damals waren ihre Testergebnisse seit elf Jahren HIV-negativ. Aber kurz nach den Vergewaltigungen zeigte das Ergebnis ihres Tests zum ersten Mal HI-Viren in ihrem Körper an. Mittlerweile leidet sie bereits an einer ganzen Reihe von Krankheiten, die man typischerweise im Zusammenhang mit Aids bekommt. Sie hat in der letzten Zeit mehr als zehn Prozent ihres Körpergewichts verloren. An ihren Vorderarmen treten die Venen hervor und schlängeln sich unter der glatten Haut wie lange Gebirgszüge in einer Landschaft. Trotzdem weigert Selina sich standhaft, über ihr Testergebnis aufgeklärt zu werden. Kimani, der junge Arzt und Forscher aus Nairobi, erklärt das so: "Sie kann nicht mit der Tatsache umgehen, dass sie erst geglaubt hat, sie könne das HIV nicht bekommen, und es jetzt doch passiert ist."
Es gibt noch ein paar andere Fälle wie den von Selina – Frauen, die über einen langen Zeitraum Kontakt mit dem Virus hatten, stets HIV-negativ geblieben sind und dann plötzlich ein HIV-positives Testergebnis bekommen haben. Plummer und Kimani glauben, dass im Fall von Selina die psychische Belastung durch die Vergewaltigungen das Immunsystem geschwächt haben könnte. Bei anderen Frauen, die sich das Virus ebenfalls erst nach erheblicher Zeit zugezogen haben, scheint die Veränderung jedoch auf einen anderen Risikofaktor hinzudeuten: den Ausstieg aus der Prostitution.
Eine hohe Konzentration von T-Killerzellen lässt sich normalerweise nicht über einen längeren Zeitraum aufrechterhalten. Die T-Killerzellen entstehen in Reaktion auf einen eingedrungenen Mikroorganismus und nehmen danach zahlenmäßig wieder ab. Was die kenianischen Prostituierten immun machte, war daher möglicherweise die Tatsache, dass sie durch ihre Freier einem ständigen Kontakt mit dem Virus ausgesetzt waren. Wenn diese Frauen Urlaub machen, so die Vermutung, geht die Konzentration an T-Killerzellen zurück, und sie werden für das Virus angreifbar.
Was bedeutet dies für einen möglichen Impfstoff? "Keine guten Nachrichten", sagt Plummer. Schließlich hatte man gehofft, dass die Immunität für den Rest des Lebens bestehen bleiben würde, oder wenigstens für viele Jahre. Wenn jedoch häufige Auffrischungen nötig sind, würde eine Impfung dort unbezahlbar, wo sie am dringendsten benötigt wird, nämlich in den Entwicklungsländern.
McMichael sieht die Sache mit den erst spät infizierten Frauen jedoch anders. Wie Kimani herausgefunden hat, kommen Resistenzen gegen das Virus innerhalb ganzer Familien vor, was auf eine genetische Eigenart hindeutet. Auch bei anderen Gruppen hat man solche genetischen Besonderheiten gefunden. Manche Weiße zum Beispiel weisen eine Mutation auf, die ihre Zellen gegen die am stärksten verbreiteten HIV-Stämme schützt. Die Tatsache, dass die Frauen von Pumwani sich doch infizieren können, ist in Wirklichkeit "eine gute Nachricht", sagt McMichael. "Natürlich nicht für die betroffenen Frauen, aber es ist eine gute Nachricht im Hinblick auf einen Impfstoff. Denn es bedeutet, dass sie nicht irgendeine spezielle, bisher unentdeckte genetische Immunität besitzen, die ein Impfstoff nicht herbeiführen könnte."
Das mit Abstand größte Hindernis für einen Aids-Impfstoff ist das Virus selbst. Zum einen gibt es vom HIV viele verschiedene Stämme, Subtypen genannt. Zum anderen unterscheidet sich der in den USA und Europa hauptsächlich vertretene Stamm – der folglich auch am häufigsten für die verschiedenen Versuchsimpfstoffe herangezogen wird – von den in Afrika dominierenden Subtypen. Niemand weiß, ob ein Serum, das zur Impfung gegen einen bestimmten Subtyp entwickelt wurde, auch vor der Infektion mit einem anderen schützt.
Darüber hinaus sind auch die Immunsysteme der Menschen unterschiedlich. Sie setzen sich aus diversen sogenannten HLA-Typen zusammen. Selbst wenn mehrere Personen vom gleichen Virusstamm infiziert sind, lassen sich bei den einzelnen Patienten unterschiedliche virale Epitope auf den Zellenoberflächen feststellen. Diese Unterschiede korrespondieren in der Regel mit ethnischen Merkmalen, sodass ein Impfstoff, der Weiße schützt, nicht notwendigerweise bei Asiaten oder bei Afrikanern genauso wirksam sein muss.
McMichael ist dieses Problem angegangen, indem er seinen Impfstoff aus Fragmenten des in Kenia am stärksten verbreiteten HIV-Stamms, dem Subtyp A, hergestellt hat. Darüber hinaus hat er so viele Epitope mit einbezogen, dass er damit wahrscheinlich sämtliche HLA-Typen Ostafrikas abdeckt. Trotzdem enthält McMichaels Impfstoff lediglich 44 Epitope plus einem vollständigen viralen Gen. Wird das ausreichen? Und sind die T-Killerzellen wirklich die Lösung für die Entwicklung eines Impfstoffes?
Die meisten der nicht infizierten Prostituierten scheinen einen speziellen Antikörper dort zu produzieren, wo das HIV zuerst bei ihnen eindringt, und zwar im Schleimhautgewebe der Vagina. Könnte ein Impfstoff also die Produktion von Antikörpern in bestimmten Zonen des Körpers herbeiführen? Es gibt experimentelle Impfstoffe, die es genau darauf anlegen.
Niemand kann diese Fragen beantworten. Die afrikanischen Wissenschaftler warten jedoch nicht darauf, dass der Westen die Probleme löst. "Ich habe meinen eigenen Bruder vor zwei Jahren durch Aids verloren", sagt Omu Anzala, der viele Jahre damit zugebracht hat, die Immunsysteme der Prostituierten von Pumwani zu studieren. "Das war ein fürchterlicher Schlag für mich, besonders weil ich dieses ganze Wissen hatte..." Ihm versagt die Stimme; dann fängt er sich wieder und fährt fort: "Wir können nicht warten, bis aus den USA etwas kommt. Nein. Wir müssen selbst mit dabei sein."
Tatsächlich sind afrikanische Wissenschaftler aktiv an der Aids-Forschung beteiligt. Sie steuern Ideen und Laborergebnisse bei, drängen Wissenschaftler, Versuchsimpfstoffe auf ihrem Kontinent zu testen, und bestehen darauf, dass Impfungen entwickelt werden, die auch gegen die in ihren Ländern dominierenden Subtypen des HIV wirksam sind. Uganda stellt sich für die erste klinische Studie eines Aids-Impfstoffes auf dem afrikanischen Kontinent zur Verfügung. Ugandische Wissenschaftler werden die komplizierten Laboranalysen durchführen, die zur Auswertung des Versuches notwendig sind. Südafrika – das Land, in dem die erste erfolgreiche Herztransplantation der Welt gelang – verfügt über die besten biomedizinischen Forschungseinrichtungen Afrikas. Präsident Thabo Mbeki hat die Entwicklung einer Aids-Impfung zur absoluten Priorität erklärt und Regierungsgelder für Forschungen auf allen Ebenen bereitgestellt. "Wir sind nicht nur der Ort, wo Versuche durchgeführt werden", sagt Quarraisha Abdool-Karim, ein Veteran unter den Aids-Forschern Südafrikas. "Wir können auch einen intellektuellen Beitrag leisten."
Während die Afrikaner so viel Druck wie nur möglich machen, stehen Impfstoffe mittlerweile bei Aids-Forschern in aller Welt ganz oben auf der Tagesordnung. Die nationalen Gesundheitsbehörden der USA (National Institutes of Health, NIH), deren Budget das jeder anderen medizinischen Forschungseinrichtung auf der Welt in den Schatten stellt, geben mehr als eine Milliarde Dollar allein für die Aids-Forschung aus. In der Vergangenheit wurden nur etwa zehn Prozent davon für die Suche nach einem Impfstoff verwendet, weniger als für jeden anderen Bereich der Aids-Forschung. In den letzten drei Jahren haben die NIH diesen Anteil jedoch beträchtlich erhöht. Zudem wurde der Nobelpreisträger David Baltimore mit der Leitung dieser Abteilung beauftragt. Während die Stimmung früher pessimistisch war, glauben die Wissenschaftler mittlerweile, dass eine Impfung im Bereich des Möglichen liegt.
Doch selbst wenn sich die wissenschaftlichen Hindernisse überwinden lassen, bleibt eine Hürde weiterhin bestehen. Es gibt wohl keine Gegend auf dieser Welt, wo es schwieriger wäre, eine Impfkampagne durchzuführen als in der Demokratischen Republik Kongo, einem riesigen, völlig verarmten und von einem Bürgerkrieg zerrissenen Land. Dennoch strömen Tausende von Gesundheitsberatern dreimal im Jahr in alle ländlichen Gegenden, um Millionen von kongolesischen Babys die lebensrettende rosafarbene Flüssigkeit in den Mund zu träufeln. In einem Dorf in der Nähe der Stadt Mbuji-Mayi halten stolze Mütter ihre geimpften Babys hoch, während das ganze Dorf feiert. Obwohl ihre Arbeit von Kriegen behindert wird, geht die Weltgesundheitsorganisation davon aus, dass die Kinderlähmung im Kongo und auf der ganzen Welt innerhalb eines Jahres ausgerottet sein wird. Das auch bei Aids zu erreichen, ist der Traum aller, die am Impfstoff gegen das HIV arbeiten.
Zugleich ist dies auch ein Albtraum, denn trotz eines billigen und wirksamen Impfstoffes ist die Kinderlähmung erst jetzt besiegt, vier Jahrzehnte nach ihrer Ausrottung in den USA. Wenn es demnächst eine Aids-Impfung geben sollte, wird Afrika dann 40 Jahre darauf warten müssen?
Falls dasjenige Serum funktionieren sollte, das auf der Basis der Forschungen über die Frauen von Pumwani hergestellt worden ist, wird Afrika es bald bekommen. Und zwar deshalb, weil die Entwicklung dieser Impfung von der International AIDS Vaccine Initiative (IAVI) gesponsert wurde. Diese Organisation arbeitet an einem Projekt, das es so noch nie gegeben hat: die gleichzeitige Auslieferung eines Impfstoffes an entwickelte und unterentwickelte Länder.
Seth Berkley, der Präsident der IAVI, der während der frühen Phase der Epidemie in Uganda tätig war, gehört zu den Leuten, die unaufhörlich auf Achse sind. Er ist bei der Weltbank, den EU, den G7-Ländern und jeder anderen finanzstarken Institution vorstellig geworden, die bereit ist, sich an der Einrichtung eines Fonds zu beteiligen, mit dessen Hilfe der Vertrieb einer Aids-Impfung in den Entwicklungsländern bezahlt werden soll. Außerdem wird die IAVI dafür sorgen, dass die Impfstoffe, deren Entwicklung sie mitfinanziert, in armen Ländern zur Verfügung stehen.
Berkley konnte Bill Gates dafür gewinnen, seiner Organisation 26,5 Millionen US-Dollar zu geben, von der britischen Regierung bekam er weitere 23 Millionen Dollar. Die IAVI investiert dieses Geld in vielversprechende Impfstoff-Forschung, die sie mit Hilfe ihres heißen Drahts zu den entsprechenden Forschungsinstitutionen und Firmen ausfindig macht. "Wir arbeiten wie eine Bank, die Risikokapital zur Verfügung stellt", sagt Berkley. mit dem Unterschied, dass wir nicht 50 Prozent der Gewinne fordern, sondern das Versprechen, den Impfstoff auch den Armen auf der Welt zugänglich zu machen."
Im Prinzip handelt die IAVI Verträge aus, die dem Hersteller die Option geben, den Impfstoff so preiswert zu halten, dass auch Entwicklungsländer ihn bezahlen können. Wenn der Vertragspartner das nicht tut, sagt Berkley, "dann haben wir genug Rechte an dem Impfstoff, um ihn in diese Länder zu bringen."
Kimani, der junge Arzt aus der Klinik in Pumwani, sagt: "Wir haben den Frauen versprochen, dass, wenn irgendetwas bei der Forschung herauskommt, sie davon profitieren werden. Und sie fragen bereits nach dem Impfstoff." Allerdings wird es noch Jahre dauern, bis es eine Impfung gibt, die für eine groß angelegte Erprobung ihrer Wirksamkeit weit genug entwickelt ist. Noch viel mehr Zeit wird vergehen, bis die Forschung weiß, ob das betreffende Serum die Menschen wirklich schützt. Selbst wenn man ihr Dampf macht, bewegt sich die Wissenschaft im Schneckentempo.
Unterdessen erzählt Kimani, was passiert, wenn die Frauen nicht mehr lange zu leben haben. "Wenn sich ihr Zustand offensichtlich stark verschlechtert, bitten wir sie her. Sie fragen: 'Sieht es schlecht aus?' Und wir antworten: 'Vielleicht ist es an der Zeit, zurück ins Heimatdorf zu gehen.'" Kimani macht eine Pause. "Wir haben das Geld, um ihnen die Fahrt nach Hause zu bezahlen." Nach diesem Satz hält er wieder inne, und dann sagt Kimani – er schreit es fast: "Wir brauchen unbedingt einen Impfstoff!"
aus: der überblick 03/2000, Seite 37
AUTOR(EN):
Mark Schoofs:
Der amerikanische Journalist Mark Schoofs hat für seine achtteilige Serie über Aids in Afrika im Jahr 2000 den Pulitzer-Preis erhalten, einen der bedeutendsten Journalistenpreise. Die Reportagen sind das Ergebnis Hunderter von Interviews, die über einen Zeitraum von sechs Monaten in neun Ländern geführt wurden. Die Reportagen wurden von Michael Wachholz für den überblick übersetzt. Sie sind erstmals auf Englisch in der in der New Yorker Zeitung Village Voice erschienen.