HIV/AIDS verstärkt den Trend zur Abwanderung von Ärzten und Schwestern
Allmählich steht auch den armen Entwicklungsländern antiretrovirale Therapie (ART) zur Verfügung. Die Therapie kann die Vermehrung von Aidsviren auf Jahre hinaus unterdrücken. Die ART kann aber nur erfolgreich eingesetzt werden, wenn es genügend Gesundheitspersonal mit der entsprechenden Ausbildung gibt.
von Sonja Weinreich
Die HIV/AIDS-Epidemie löst Krankheiten aus und führt zum Tod. Auch Ärztinnen, Ärzte, Pfleger und Krankenschwestern infizieren sich und können nach einiger Zeit ihren Beruf nicht mehr ausführen. Infolge der Krankheit kommt es in vielen Entwicklungsländern zu schwerwiegenden Ausfällen beim Gesundheitspersonal, gerade in den Ländern, die am meisten unter HIV/AIDS leiden. Der Mangel an qualifiziertem Personal im Gesundheitswesen hat andererseits zur Folge, dass HIV/AIDS nicht adäquat bekämpft werden kann. Zwar kann eine HIV-Infektion nach wie vor nicht geheilt werden, jedoch hat in den Industrieländern die seit 1996 zur Verfügung stehende antiretrovirale Therapie (ART) die Zahl der Todesfälle infolge von AIDS bis zu 80 Prozent gesenkt.
Bis vor kurzem waren Millionen HIV-Infizierter in den meisten Entwicklungsländern von dieser Therapie ausgeschlossen. Im Dezember 2003 hatte in Afrika nur ein Prozent der auf mehr als vier Millionen geschätzten Menschen, die diese Therapie benötigten, auch tatsächlich Zugang dazu. Durch eine Aufstockung der Etats für die ART und weil international dem Problem mehr Aufmerksamkeit geschenkt wird, zeichnete sich in den letzten beiden Jahren ein Wandel ab. Unter anderem hat der »Globale Fonds zur Bekämpfung von Aids, Tuberkulose und Malaria« mehr Geld bereit gestellt. Der Fonds ist ein weltweiter Zusammenschluss von Regierungen, nichtstaatlichen Organisationen (NGOs) und privaten Unternehmen. Im Jahr 2003 starteten die Weltgesundheitsorganisation (WHO) und UNAIDS die »3-bis-5-Initiative« mit dem Ziel, dass bis Ende 2005 drei Millionen Menschen ART erhalten von den weltweit sechs Millionen, die sie benötigen. Die Initiative will letztendlich den »universellen Zugang« zu der Therapie sichern; wer ART benötigt, soll die Therapie auch bekommen.
Ein wesentliches Hindernis auf dem Weg zu diesem Ziel ist der gravierende Mangel an Ärzten und Krankenschwestern in vielen Entwicklungsländern. Neben dem Ausfall des Gesundheitspersonals infolge von AIDS liegt das daran, dass über Jahre hinweg zu wenige Fachkräfte für das Gesundheitswesen ausgebildet wurden und Personal aus dem öffentlichen Gesundheitssektor in die Privatwirtschaft und die Industrieländer abgewandert ist. In den ländlichen Regionen ist die Situation meist noch schlimmer als in den städtischen.
Die Verbreitung der antiretroviralen Therapie wird in Entwicklungsländern auch dadurch gehemmt, dass dort im Gegensatz zu den industrialisierten Ländern Ärzte und Krankenschwestern kaum in der Anwendung von ART ausgebildet worden sind, weil die Medikamente stets als unbezahlbar erschienen.
Der immer größere Mangel an Gesundheitspersonal bei einer zunehmenden Zahl von Patienten mit HIV/AIDS-bezogenen Erkrankungen führt zu einer völligen Überlastung der Gesundheitsinstitutionen. Solch ein Dauerzustand und der psychologische Stress durch die bislang hoffnungslose Situation der HIV-Infizierten, denen in den armen Ländern mangels Therapie meist nicht wirklich geholfen werden konnte, erhöht die Bereitschaft zur Abwanderung der ausgebildeten Arbeitskräfte im medizinischen Bereich, weg vom unterversorgten und zu schlecht ausgestatteten öffentlichen Gesundheitswesen der Entwicklungsländer.
Die WHO hat geschätzt, dass für den Ausbau der ART über die schon bestehenden Projekte hinaus zusätzliche 100.000 Mitarbeitende im Gesundheitswesen benötigt werden. Sie empfiehlt jedoch, dass die betroffenen Länder von einem auf die »Ärzte zentrierten Modell« abrücken und ein großer Teil der Programme von Krankenschwestern, Clinical Officers (Gesundheitspersonal, das in der Ausbildung zwischen Ärzten und Krankenschwestern steht), Gemeinde-Gesundheitsarbeitern und von Betroffenen selbst durchgeführt wird. Voraussetzung dafür war die Vereinfachung der Therapierichtlinien. Außerdem ist für diese Empfehlung die Einsicht ausschlaggebend, dass die ART nicht nur klinisches Management, wie zum Beispiel die Überwachung der Nebenwirkungen erfordert, sondern auch eine psycho-soziale Unterstützung.
Nicht zuletzt werden auch Apotheker benötigt: Botsuana, das als erstes afrikanisches Land im Jahr 2000 mit einem ART-Programm begann, hat in den ersten beiden Jahren nur langsame Fortschritte bei der Zahl der versorgten Patienten gemacht, weil es nicht genug Apotheker gab.
UNAIDS schätzt in einem Bericht vom Juni 2005 (Resource Needs for an Expanded Response to AIDS in Low and Middle Income Countries), dass in den Jahren 2006 bis 2008 gut 50 Milliarden US-Dollar für die AIDS-Bekämpfung benötigt werden. Um die Krankheit und ihre Auswirkung einzudämmen, sollten laut UNAIDS zusätzliche Medizinstudierende und Krankenschwestern ausgebildet und die Bezahlung für das vorhandene Gesundheitspersonal erhöht werden, damit ihre Auswanderung gestoppt wird. Berater, Laborangestellte und Personal für HIV-Präventionsprogramme, etwa für Serientests von Blutkonserven für Transfusionen, werden zusätzlich benötigt. Die existierenden ART-Programme müssen stark erweitert werden, sonst sind weiterhin Tausende von Ärzten und Krankenschwestern bedroht, an AIDS zu sterben.
Die Geberländer sind in vieler Hinsicht gefordert: Sie sollten weiterhin finanzielle Mittel zur AIDS-Bekämpfung bereitstellen, eine Änderung ihrer Politik der Abwerbung von Fachkräften vornehmen und nicht zuletzt auch in Ausbildung und Kapazitätsbildung investieren.
Bis Juni 2005 war es gelungen, eine Million Menschen in Entwicklungsländern mit ART zu versorgen, das entspricht ungefähr Sechstel derjenigen, die diese Therapie benötigen. Das ist ein erster Schritt, aber immer noch viel zu wenig. Neben den ART-Programmen müssen auch die Präventionsprogramme weiter ausgebaut werden. Nur so können die katastrophalen Folgen von HIV/AIDS eingedämmt werden.
aus: der überblick 03/2005, Seite 27
AUTOR(EN):
Sonja Weinreich
Dr. Sonja Weinreich hat als Ärztin von 1995 bis 2000 mit HIV/AIDS-Patienten in Sambia gearbeitet. Seit 2001 ist sie HIV/AIDS-Beraterin für Entwicklungsprojekte kirchlicher Werke mit Sitz im Deutschen Institut für Ärztliche Mission (DIFÄM) in Tübingen.