Alles nur Ansichtssache?
Was macht eine Frau attraktiv? Ein heller Teint, eine üppige Figur oder ein langer Hals? Schönheit ist etwas Sonderbares. Schönheit ist Ansichtssache. Wie aber kommt die eine oder die andere Ansicht zustande? Ist dies ausschließlich eine Frage individueller ästhetischer Vorlieben, oder gibt es tiefer liegende psychologische Einflüsse?
von Sue Wheat
Die Padaung-Frauen in der Grenzregion zwischen Thailand und Burma verlängern ihren Hals, indem sie zwischen Schlüsselbein und Kinn Metallringe übereinander anlegen. Für Außenstehende sieht dies absonderlich und schmerzhaft aus. Für die Padaung gilt: je länger der Hals, desto schöner die Frau. In Brasilien wird ein dicker Po als Inbegriff sexueller Attraktivität angesehen. In Europa und den Vereinigten Staaten von Amerika trainieren Frauen lange schweißtreibende und qualvolle Stunden, um ein dickes Hinterteil loszuwerden. Im westlichen Kulturkreis leiden Tausende unter Essstörungen, weil sie schlank und schön sein wollen. In Afrika, in der Karibik, in weiten Teilen des pazifischen Raums und in anderen Regionen der Welt gilt ein schlanker Körper als hässlich, üppige Fülle dagegen als schön. Und das ist nicht nur eine Parole, die dem Selbstbewusstsein Auftrieb verleihen soll, sondern eine fest verwurzelte Geisteshaltung.
“Wahre Schönheit ist die Schönheit einer Frau, die ganz sie selbst ist”, schreibt die ägyptische Feministin und Schriftstellerin Nawal El Saadawi, Autorin von The Hidden Face of Eve - “Evas verborgenes Gesicht”. “Schönheit ist vor allem eine Frage der geistigen Einstellung, der körperlichen Gesundheit und der inneren Harmonie.” Nawal El Saadawi hat zweifelsohne Recht. Menschen, die mit sich selbst im Reinen sind, die ein glückliches Leben führen, strahlen eine gewisse Schönheit aus, unabhängig davon, ob ihre Züge konventionellen Schönheitsvorstellungen entsprechen oder nicht. Das ist jedoch nur ein Teil der Wahrheit. Manche Menschen sind in den Augen der Mehrheit schöner als andere, unabhängig davon, ob sie gesund oder glücklich sind. Das Streben nach gesellschaftlich anerkannter Schönheit kann ein äußerst zerstörerischer Prozess mit erheblichen physischen und psychischen Auswirkungen sein. In vielen Gesellschaften stehen Frauen unter starkem Druck. Sie müssen attraktiv sein, damit sie einen Mann finden und ihr wirtschaftliches und gesellschaftliches Überleben sichern. Deshalb ist es zwingend notwendig, dass sie die richtigen physischen Signale aussenden. Allerdings sind die Ansichten darüber, was Schönheit ausmacht, von Gesellschaft zu Gesellschaft verschieden.
“Ein Mädchen hat das Gefühl, dass sein Leben und seine Zukunft von der Länge seiner Nase und vom Schwung seiner Wimpern abhängt”, erklärt El Saadawi. Hier haben wir es zweifellos mit einem psychologischen Phänomen zu tun, das Frauen auf der ganzen Welt betrifft. Aber besonders ausgeprägt ist es aus der Sicht der Schriftstellerin in arabischen Gesellschaften, weil dort die Frauen oft kaum die Möglichkeit haben, sich mit Worten auszudrücken. Die Frau sei ihrer Verantwortung als Mensch enthoben, des Kerns menschlicher Persönlichkeit beraubt. Ohne diesen inneren Kern bleibe ihr nur die äußere Hülle, die Fassade.
Es ist jedoch nicht nur die Form dieser äußeren Hülle, sondern ebenso die Farbe, die in vielen Kulturen als entscheidendes Element der Schönheit angesehen wird. Als mir eine ägyptische Freundin anvertraute, sie schätze ihre Heiratschancen als gering ein, weil sie so hässlich sei, war ich äußerst überrascht. Diese Frau wird in England, wo sie jetzt lebt, wegen ihrer Schönheit allseits bewundert. Ihre Äußerung habe ich als Ausdruck geringen Selbstwertgefühls interpretiert. Als ich jedoch eine ihrer ägyptischen Freundinnen traf, musste ich zur Kenntnis nehmen, dass sie in Ägypten tatsächlich als wenig attraktiv galt, weil ihre Hautfarbe, ein recht helles Braun, als zu dunkel eingestuft wird.
Wie in vielen Ländern ist auch in Ägypten ein heller Hautton gleichbedeutend mit Schönheit. Er signalisiert Wohlstand und hohen Sozialstatus. Er zeigt, dass man es nicht nötig hat, im Freien zu arbeiten, und er schafft eine Verbindung zu den Mächtigen - zu den Mächtigen der Vergangenheit, den Kolonisatoren, wie auch zu denen der Gegenwart, den Weißen des westlichen Kulturkreises, die oft durch Touristen verkörpert werden. Der Rassismus, der koloniale und postkoloniale Gesellschaften prägt, hat hellhäutige Menschen bevorzugt. Und dieses Erbe lebt im kollektiven Unbewussten und Bewusstsein vieler dunkelhäutiger Bevölkerungsgruppen fort. Die US-amerikanische Schriftstellerin Toni Morrison hat sich in ihrem Roman “Sehr blaue Augen” mit dem psychologischen Trauma, das hinter diesem Rassismus steckt, auseinander gesetzt. Die Handlung beruht auf einer persönlichen Erfahrung der Autorin: Eine schwarze Schulfreundin hatte erklärt, sie wolle blaue Augen haben. Der Roman stellt den Versuch dar - so Morrison - ihre Erkenntnis zu vermitteln, dass man Schönheit nicht nur anschauen, sondern dass man sie aktiv leben kann. Der Wunsch nach blauen Augen beinhalte eine innere Abwertung der eigenen “Rasse”. “Und zwanzig Jahre später fragte ich mich noch immer, wie man zu solchen Ansichten kommt. Wer hatte ihr das beigebracht? Wer hatte ihr das Gefühl vermittelt, dass eine körperliche Absonderlichkeit besser sei als ihre natürliche Erscheinung? Wer hatte sie angesehen und sie dann für unzulänglich befunden, sie derart weit unten auf der Schönheitsskala eingestuft? Der Roman attackiert den Blick, der sie verurteilte.”
Frantz Fanon, Psychiater und Schriftsteller aus der französischsprachigen Karibik, hat diesen Wunsch nach heller Hautfarbe in seinem Werk “Schwarze Haut, weiße Masken” in einen historischen Zusammenhang gestellt. Der Kolonialismus wertete alles Schwarze ab, und dieses psychologische Erbe lebt in Millionen von Menschen weiter. Fanon macht deutlich, dass die schwarze Bevölkerung diese Selbstentfremdung erst dann wirkungsvoll überwinden kann, wenn sie die sozialen und wirtschaftlichen Wirklichkeiten durchschaut. Wenn es einen Minderwertigkeitskomplex gebe, sei dieser das Ergebnis eines zweischichtigen Prozesses: An erster Stelle stehe die ökonomische Unterlegenheit, danach folge die Verinnerlichung - oder besser die “Verhautung”, das “unter die Haut gehen” - dieser Unterlegenheit. So kommt es, dass man in weiten Teilen Afrikas, Lateinamerikas und der Karibik, wenn man das Fernsehgerät einschaltet, mit hoher Wahrscheinlichkeit hellhäutige, oft sogar blonde Menschen sehen wird, die Sendungen moderieren und Nachrichten präsentieren, obwohl die meisten Menschen in diesen Regionen schwarze Haare und dunkle Haut haben.
Rebecca Teclemariam-Mesbah von der Universität Amsterdam ist halb äthiopischer und halb französischer Herkunft, und sie weiß, wie vielschichtig die Beziehung zwischen Schönheit und Hautfarbe in verschiedenen Kulturen ist. “Ich bin in Äthiopien aufgewachsen, wo wir lernten, stolz auf unsere dunkle Haut zu sein und Weiße - auch meine Mutter - zu bemitleiden”, erzählt sie. “Erst als ich nach Frankreich umgezogen war und dort mit Westafrikanern zusammen traf, wurde mir klar, dass sie Weiße schöner fanden. Aber damit nicht genug. Auch die Äthiopier unterscheiden zwischen netch, Weißen, was Menschen mit hellbrauner Haut bedeutet, key (Roten), Menschen mit rötlich-brauner Haut, und tekour (Schwarzen), die eine sehr dunkle Hautfarbe haben. Eine dunkle Haut deutet auf Zugehörigkeit zu den Bantu hin, die Sklaven mit niedrigem sozialen Status waren. Deshalb meiden Männer und Frauen die Sonne.”
In den Augen vieler Europäer sind die Äthiopier die attraktivsten Menschen Afrikas, und das macht Teclemariam-Mesbah richtig zornig. “Ich weiß, dass dieses Urteil nur deswegen zustande kommt, weil sie in unseren Gesichtern die gleichen 'feinen Züge' sehen wie bei Weißen, nur in einer dunkleren Schattierung”, stellt sie fest. “Ihr Maßstab sind immer noch die Weißen.”
Die Tatsache, dass helle Haut übermäßig hohe Wertschätzung genießt, hat für viele Schwarze tragische Folgen. Das gilt vor allem für die Länder Westafrikas und südlich der Sahara, in denen die Nachfrage nach Hautbleichmitteln besonders groß ist. Unerwünschte Nebenwirkungen dieser Mittel sind Entstellungen, Hautkrankheiten und Krebs. Viele der handelsüblichen Hautbleichmittel sind unterdessen verboten, aber der Wunsch nach heller Haut ist unvermindert stark. Ein Indiz dafür ist, dass viele afrikanische Frauen heute noch Hautbleichmittel nach eigenem Hausrezept zubereiten, wobei sie auch vor Bleichmitteln aus Toilettenreinigern nicht zurückschrecken. “Das ist ein koloniales Erbe, das durch das Eindringen westlicher Kultur über Fernsehprogramme, Zeitschriften und Plakatwerbung nochmals verstärkt wurde”, sagt Sarah Mukasa. Sie ist die britische Programmleiterin der afrikanischen Frauenrechtsorganisation Akina Mama Wa Africa. Andere Beobachter sind der Meinung, Medienkampagnen, die über die Gefahren der Anwendung von Hautbleichmitteln aufklären, hätten viele Frauen erreicht und das Problem sei in Afrika abgeklungen. “In manchen Kreisen - meistens handelt es sich um Angehörige der älteren Generation - wird dunkle Haut immer noch mit ‘unattraktiv’ gleichgesetzt. Aber im Allgemeinen ist das kein Thema mehr, solange die Haut glatt ist und gesund aussieht”, berichtet Ilse Mwanza, die sich in Frauenrechtsorganisationen und in der Aids-Bekämpfung in Sambia engagiert.
“In Afrika wurde und wird Schönheit mit Reichtum assoziiert”, fügt Ilse Mwanza hinzu. “Nur reiche Männer konnten ihren Frauen ein angenehmes Leben bieten - das heißt, die Frauen hatten genug zu essen, mussten keine allzu anstrengende Feldarbeit leisten, konnten sich auf Haushalt und Kinder konzentrieren. Schlanksein gilt in Afrika oft als ungesund, besonders in Zeiten von Aids. Die Krankheit ist auch unter dem Namen Slim Disease, also ‘Magerkrankheit’ bekannt, weil Menschen, die an Aids erkranken, schnell Gewicht verlieren. Schlankheit ist demnach manchmal ein Anzeichen für einen schlechten Gesundheitszustand.”
Mwanza vertritt die Ansicht, dass auch im Westen wirtschaftliche Werte ästhetische Vorlieben bestimmen. “Im Westen gilt schlank deswegen als schön, weil Schlanksein ebenfalls viel kostet. Man muss gut betucht sein, um sich fettarme Nahrungsmittel leisten zu können, und man muss Zeit haben, um den Körper in Form zu halten.”
Kunst, Literatur und - in zunehmendem Maße - Fernsehen und Werbung haben starken Einfluss auf Schönheitskonzepte. Im arabischen Kulturkreis kann das zu widersprüchlichen Botschaften führen. Von den Reklametafeln lächeln knapp bekleidete Frauen, aber die Mädchen sollen sich im Alltagsleben bedecken. “Bei vielen jungen Frauen führen die widersprüchlichen Einflüsse, denen sie ausgesetzt sind, zu psychischen Störungen”, hat die ägyptische Schriftstellerin Nawal El Saadawi beobachtet. Und selbstverständlich sind Frauen in der westlichen Welt mit ähnlich verwirrenden Botschaften konfrontiert, denn viele der Bilder, die sie in Filmen, in der Werbung und in Zeitschriften sehen, stimmen nicht mit der Schönheit überein, die ihnen der Spiegel zeigt.
aus: der überblick 04/2004, Seite 6
AUTOR(EN):
Sue Wheat:
Sue Wheat ist freie Journalistin und arbeitet für die Kinderschutzorganisation "Save The
Children" in London. Ein ausführlicher Artikel von ihr zum Thema der kulturellen Perspektiven
auf Schönheit ist im Oktober 2000 in der in Brüssel erscheinenden Zeitschrift "the Courier"
erschienen, die über die Entwicklungspartnerschaft der Europäischen Union mit den AKP-
Staaten berichtet.