Schritte zu den Armen
Es begab sich aber, als er in die Nähe von Jericho kam, dass ein Blinder am Wege saß und bettelte. Als er aber die Menge hörte, die vorbeiging, forschte er, was das wäre. Da berichteten sie ihm, Jesus von Nazareth gehe vorbei. Und er rief: Jesus, du Sohn Davids, erbarme dich meiner! à Jesus aber blieb stehen und ließ ihn zu sich führen. Als er aber näher kam, fragte er ihn: Was willst du, dass ich für dich tun soll? Er sprach: Herr, dass ich sehen kann. Und Jesus sprach zu ihm: Sei sehend! Dein Glaube hat dir geholfen. Und sogleich wurde er sehend und folgte ihm nach und pries Gott. Und alles Volk, das es sah, lobte Gott. (Lukas 18, 35-43)
von Cornelia Füllkrug-Weitzel
Alle reden von "Armutsbekämpfung" - aber vor der Tür des Diakonischen Werkes der EKD weht eine "Brot für die Welt-Fahne" mit der Aufschrift "Schritte zu den Armen". Ist das nicht viel zu passiv?
Niemals zuvor in der Geschichte ist die Armutsbekämpfung so sehr ein Thema der Weltpolitik gewesen wie in den letzten Jahrzehnten. Dessen unbeschadet steigt die Zahl der Armen, und die für die Armutsbekämpfung von Regierungen und Privatpersonen zur Verfügung gestellten Ressourcen halten mit den Zielen nicht Schritt. Deshalb ist es notwendig, die Schwerpunkte in diesem Kampf zu definieren und entsprechende Prioritäten zu setzen. Aber nach welchen Kriterien, welcher Logik? Eine Frage, die auch die kirchliche Entwicklungszusammenarbeit betrifft.
Die Kirchlichen Entwicklungswerke fühlen sich zu Recht nicht nur zu besonders sparsamer Bewirtschaftung der Mittel verpflichtet, sondern auch zu einem punktgenauen Einsatz entsprechend den selbstgesetzten Prioritäten. Sie überlegen mit Wissenschaftlern und Partnerorganisationen weltweit, was die effektivsten Strategien zur Armutsbekämpfung sind und welche Zielgruppen dafür zu allererst zu berücksichtigen sind. Sie entwickeln Leitlinien und Methoden für die Planung, Durchführung, Begleitung und Auswertung der Projektarbeit: Sie bemühen sich um Qualitätsmanagement. Alles, um sicherzustellen, dass die festgelegten Ziele durch die unterstützten Maßnahmen und Prozesse auch erreicht werden.
Die politische, wirtschaftliche und soziale Not in Galiläa war seinerzeit keineswegs geringer oder sehr viel anders als noch heute an vielen Orten der Welt. Aber was macht Jesus, um mit seinen begrenzten Möglichkeiten so gut wie es eben geht zu helfen? Er verhält sich - verglichen mit uns - (scheinbar) total chaotisch, seine "diakonische Strategie" scheint keinem Plan zu folgen: keine Zielgruppendefinition, keine Identifikation derer, die potenziell die notwendigen politischen und gesellschaftlichen Veränderungen oder die dringend erforderliche wirtschaftliche Entwicklung tragen. Wer auch immer kommt mit nichts als der nackten Not - sei sie materiell, körperlich oder seelisch: Jesus wendet sich ihm oder ihr zu. Sein Handeln folgt weder effektivem Zeit- noch effektivem Ressourcenmanagement. Das einzige Kriterium ist der unmittelbare und unabweisbare Bedarf.
Und wie wird der erhoben? Nicht am fernen Schreibtisch, nicht mit wissenschaftlichen Methoden, sondern indem Jesus die Menschen an sich heranlässt, die ihm zu- oder nachlaufen, oder zugetragen, vor die Füße gelegt werden, die sich zu ihm durchdrängen, sich ihm aufdrängen und indem er sie anhört: "Was willst Du, dass ich für dich tun soll?", fragt Jesus den Blinden von Jericho, der hinter ihm her schreit: "Jesus, Du Sohn Davids, erbarme dich meiner!" Und dann bekommt er - wie alle anderen - genau das Maß und die Art von Unterstützung, die er braucht. Jesus heilt nicht drauflos, sondern redet mit den Menschen. Er setzt sich mit ihnen auseinander und er überlässt die Initiative ihnen selbst. Jesus nötigt niemanden etwas auf, aber lässt auch keinen leer ausgehen.
Jesus setzt auf die direkte Begegnung mit den Armen und Not leidenden. Das verlangt Nähe zu ihnen: da sein, wo die Armen sind, unter ihnen weilen und wandeln. Jesus ist offen, er hat ein Gespür für das Leiden. Er sieht die Not. Er hört zu, er spürt selbst die Pein - und "die Augen gehen ihm über" (Joh.11,35). Er lässt sich anrühren. Nicht nur vom Schicksal der Menschen, sondern von den Menschen selbst - wie elend, wie verwerflich oder ansteckend diese auch immer sein mögen.
Wenn ein Mensch mit seinen Nöten zu ihm kommt, ist ihm sonst nichts mehr "heilig", hält er sich an keine Regeln (Heilungen am Sabbat, Umgang mit "Unreinen"), kennt er keine Rücksichtnahme - auch nicht auf sich selbst. Wenn es dem Menschen dient, geht er über die Grenzen. Der Mensch in seiner Not ist Ausgangs- und Mittelpunkt seines Handelns - nicht eigene Planungen, Überlegungen, Konzepte, Prioritäten, so wichtig diese als Grundorientierung auch sind.
Jesus hilft sogar, wenn es seinen eigenen Prinzipien und Absichten widerspricht, die auch er hat. Oder die zumindest seine Jünger haben und ihm beizubringen versuchen. Denn wenigstens sie sind um schonenden Umgang mit den Ressourcen bemüht: mit Jesu kostbarer Zeit, seiner überstrapazierten Kraft, den dürftigen materiellen Gütern, die ihnen täglich zur Verfügung stehen. Die Jünger sind Realisten, sie kalkulieren, sie wägen die Folgen ihres Tuns ab und stellen entsprechend die Weichen: "Schick die Leute zum Abend weg", drängen sie, "denn für fünftausend haben wir nicht genug zu essen!" Gute Leute eigentlich, man könnte sie glatt für die Projektarbeit einstellen. Aber Jesus pfeift sie immer wieder zurück, unterläuft ihre Bemühungen zur Mittelschonung wie in der Speisung der Fünftausend, statt sich von ihnen ökonomisieren zu lassen.
Er wirft seine Prioritäten in der lebendigen Begegnung mit den Armen über den Haufen - wie in der Geschichte von der Syrophönizierin. Es gelingt ihr, ihn zu überreden, er lernt durch sie eine neue Perspektive kennen. Er nimmt Abstand von seinen Prinzipien im Dialog mit einem Menschen, der als Frau, Witwe und Ausländerin dreifach minderwertig war. "Wer bittet, der empfängt" - bedingungs- und ausnahmslos. Planungen und Prinzipien sind nicht höherwertiger als Menschen - ein alter Standardsatz evangelischer Ethik, aber doch oft erinnerungsbedürftig.
Die Aktionen zur Heilung gehen nach biblischem Zeugnis in der Regel von den Betroffenen selbst aus. Jesus trägt nicht viel mehr zu ihrer Heilung bei, als ihnen dazu seine Kraft zu schenken. Er nimmt ihnen die Furcht, dass Armut, Krankheit, Gewalt ein unvermeidbares Schicksal seien. Er schenkt ihnen Hoffnung auf Befreiung Rettung und Auferstehung. Er stärkt ihr Zutrauen zu sich selbst. Er hilft, das eigene Schicksal in die Hand zu nehmen. Er spricht ihnen zu, dass sie fähig sind, mit ihren eigenen Initiativen und Fähigkeiten wieder auf die Beine zu kommen. Er holt sie wieder hinein in die Gemeinschaft. Er schenkt ihnen den Geist der festen Zuversicht, dass Ungerechtigkeit, Unterdrückung, Ausgrenzung und Gewalt, keine Zukunft haben, sondern überwindbar sind. Das gibt ihnen die Kraft zur Auferstehung, oder - anders übersetzt - zum Aufstand.
Diese Ermutigung zu vermitteln, ist keine Frage der Ressourcen, sondern liegt an unserer geistigen und geistlichen Kraft und der unserer Partner. Und es setzt voraus, dass Diakonie und Entwicklungshilfe bereit sind, den Armen nicht als Objekte karitativer Zuwendung, sondern als Akteure des Wandels zu begegnen. Es genügt nicht, die Bedürfnisse und Probleme der Armen festzustellen. Es muss auch ihr Potential zur eigenen Heilung und Erneuerung und zur Erneuerung der Gesellschaft inklusive der Kirchen wahrgenommen werden.
"Wer bittet, der empfängt". Wenn der wichtigste Schritt zur Unterstützung die Stärkung des Selbstvertrauens und des Eigenpotentials ist, so erfordert diese Aussage doch nicht ganz so unrealistische Ressourcen, wie es zunächst schien. Dafür spricht auch noch ein anderer Aspekt der Wundertaten Jesu: Die Speisungswunder. Die Speisungswunder weisen auch daraufhin, dass die eigenen, für zu bescheiden gehaltenen Ressourcen der Armen ausreichen, ein Angeld der globalen Erlösung von der Sünde der Ungerechtigkeit zu sein, wenn es darum geht, Zeichen des Reiches Gottes zu setzen. Und auch so kann man die Aufgabe der Diakonie beschreiben.
Es ist wichtig und gut, unsere Aufmerksamkeit von der Armut auf die Armen zu lenken, weg von der Armutsbekämpfung hin zur Erfüllung des Bedarfs, den die Armen definieren. Weg vom Hunger hin zu den Hungrigen, weg von der Krankheit hin zu den Kranken.
Das vorherrschende Entwicklungsverständnis lief in den vergangenen Jahrzehnten darauf hinaus, beides zu trennen und die wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Fragen in den Vordergrund zu stellen. Das war eine deutliche Verdrehung der Problematik der Armut (und der Krankheit). Die Lösung dieser sachlichen Probleme scheint nur noch eine Frage der Konzipierung, Planung und konsequenter Durchführung von Maßnahmen - auch gegen Widerstände. Und seien die Widerstände die Menschen selbst oder gingen Proteste von ihnen aus. "Schritte zu den Armen" statt Armutsbekämpfung.
aus: der überblick 01/2003, Seite 94
AUTOR(EN):
Cornelia Füllkrug-Weitzel:
Cornelia Füllkrug-Weitzel ist seit dem 1. Januar 2000 Direktorin der Hauptabteilung Ökumenische Diakonie im Diakonischen Werk der EKD und damit auch für "Brot für die Welt" zuständig.