Äthiopien verzeichnet das größte Nahrungsdefizit seit acht Jahren
Bis zu acht Millionen Menschen in Äthiopien sind laut der Regierung dort dieses Jahr von Hunger bedroht. Nur eine große Hilfsoperation hat im vergangenen Jahr ein Hungersterben verhindert. Doch Nothilfe kann den langfristigen Nahrungsmangel des Landes nicht beheben. Zudem fragen sich viele Hilfswerke, ob man dem Land Tausende Tonnen Nahrung schenken soll, solange es sich einen Krieg mit seinem Nachbarn Eritrea leistet.
von Bernd Ludermann
Wir befinden uns mitten in einer schweren Notlage", betonte Simeon Machale Ende Januar, als er den jüngsten Appell der äthiopischen Regierung für mehr Hungerhilfe vortrug. Seine Behörde, die Kommission zur Verhütung und Vorbeugung von Katastrophen (Disaster Prevention and Preparedness Commission, DPPC), hält dieses Jahr fast 900.000 Tonnen Hungerhilfe für nötig und erbittet den größten Teil davon vom Ausland. Zusammen mit UN-Organisationen hat sie ermittelt, dass bis zu acht Millionen Äthiopier dieses Jahr zu wenig zu essen haben. Nach der Rekordernte von 1996 hatte die Regierung in Addis Abeba noch verkündet, das Land sei auf dem Wege, sich selbst zu ernähren. Kann es sein, dass nun jeder achte der schätzungsweise 63 Millionen Äthiopier von Hunger bedroht ist?
Im Gebiet Washera in Süd-Wollo ist die Not mit Händen zu greifen. "Das ist alles, wovon wir einen Tag lang leben müssen", klagt eine Bauernfamilie vor der Mühle in der Gemeinde Chiro und zeigt das eben gemahlene Gerstenmehl. Es sind vielleicht zwei Kilo für neun Personen - Männer, Frauen und Kinder. Die Standardration, die das Welternährungsprogramm (WEP) in Äthiopien und die DPPC als ausreichend ansehen, beträgt ein halbes Kilo pro Kopf und Tag. Die Familie hat kaum die Hälfte davon, und um das kaufen zu können, muss-te sie das letzte Stück Vieh veräußern, das die Dürre überlebt hatte. Die Reserven aus eigenen Ernten sind längst verbraucht. "Manche von uns essen zweimal am Tag, manche einmal und an manchen Tagen auch gar nicht", sagt der Vater.
In derselben Gemeinde erklärt ein älterer Bauer, dessen Kleider nur aus Flicken bestehen: "Damit wir essen können, musste ich meine Arbeitsgeräte verkaufen." Und eine Frau zeigt, wo in ihrer strohgedeckten Rundhütte ihr Vieh gestanden hat. "Wir hatten einen Esel, ein Maultier und drei Rinder", sagt sie. "Alle sind gestorben." Nur ein paar dürre Hühner sind der achtköpfigen Familie geblieben. Neben der offenen Feuerstelle, die die Hütte mit beißendem Rauch erfüllt, scharren sie im Staub.
Ein klares Zeichen der Not ist, dass viele Familienväter jetzt, wo sie in Washera pflügen sollten, auf der Suche nach Arbeit abgewandert sind. In Gimba-Jarso fehlen deshalb in rund 300 der 800 Haushalte zur Zeit Männer, erklären Bauern und Bäuerinnen aus dieser Gemeinde. Sie suchen Felsbrocken von einem steinigen, stark geneigten Landstück und schichten sie längs des Hanges zu Mauern auf. Die wenige Meter breiten Ackerstreifen dazwischen müssen sie mit Hacken auflockern, weil vier Fünftel ihres Arbeitsviehs wegen der Trockenheit gestorben sind - zuerst die Pferde, dann die Esel und schließlich die Rinder. Über den Grund der Not sind die Betroffenen sich mit der DPPC einig: Sie leiden unter einer Dürre.
thiopien liegt in den geografischen Breiten des trockenen Sahel-Gürtels; den Regen verdankt es seinen Gebirgen. Das Land ist mehr als dreimal so groß wie Deutschland; knapp zwei Drittel liegen höher als 1400 Meter, und dort leben schätzungsweise neun Zehntel der Bevölkerung. Steigungsregen sorgen in normalen Jahren für zwei Regenzeiten: eine kleine (belg) von Februar bis Mai und eine große (kirempt) von Juni bis September.
Im vergangenen Jahr sind die belg-Regen sehr gering ausgefallen und im Nordwesten des Hochlands sowie in Teilen des Südens ganz ausgeblieben. Vielerorts war das die zweite oder dritte schlechte belg-Saison hintereinander. Die Hauptregenzeit dagegen hat zwar spät begonnen, aber den meisten Gebieten reichlich Niederschläge gebracht. Die Folge waren laut der landesweiten Ernteschätzung, die das Welternährungsprogramm und die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der UN (FAO) Ende Januar veröffentlicht haben, Ernteeinbußen von 6 Prozent gegenüber 1998 und 9 Prozent gegenüber der Rekordernte von 1996. Allerdings war 1997 noch weit weniger geerntet worden als im vergangenen Jahr.
Diese Einbußen erscheinen nicht dramatisch. Doch sie sind regional sehr ungleich verteilt: Überschussgebiete Äthiopiens hatten ein überdurchschnittlich gutes Jahr, viele Mangelregionen wie Wollo, Tigre und Teile des Südens dagegen ein besonders schlechtes. Auch verschiedene Klimazonen derselben Region sind unterschiedlich betroffen - besonders hart solche wie Washera.
Eine Fahrt von Addis Abeba nach Norden vermittelt davon einen Eindruck. Zunächst führt die Straße in Höhenlagen bis 2500 Meter an kleinen Gehöften vorbei; auf manchen ist jetzt, Anfang Februar, das Dreschen und Worfeln im Gang. Offenbar haben die Bauern hier nach dem kirempt etwas geerntet - wenn auch nicht unbedingt genug für das Jahr. Rund tausend Meter tiefer, am Rand des ostafrikanischen Grabenbruchs, zeigen Pyramiden aus Sorghum- oder Maisstroh auf den ckern, dass auch hier die Kornspeicher nicht leer sein können. Fährt man dann jedoch von der Stadt Dessie keine hundert Kilometer nach Westen in Gebiete wie Washera, die über 3000 Meter hoch liegen, dann findet man kaum noch Spuren einer Ernte. Nur auf wenigen Flecken stehen ein paar Halme Gerste oder übriggebliebenes Stroh.
Der Grund dafür ist die Höhe. In den unteren und mittleren Gebirgszonen, etwa bis 2600 Meter Höhe, wird die Haupternte, die meher, nach der großen Regenzeit eingefahren. Sie macht rund neun Zehntel der gesamten Ernte Äthiopiens aus und hängt nur insofern von der kleinen belg-Regenzeit ab, als diese es ermöglicht, Mais- und Sorghumsorten zu säen, die von Februar bis Oktober reifen. Bleibt die belg aus, dann müssen die Bauern später säen und schneller reifende, aber ertragsärmere Sorten wählen. Viele haben dadurch im vergangenen Jahr Einbußen erlitten.
Doch in großen Höhen kann man nur noch Gerste anbauen. Während der großen Regenzeit ist es selbst dafür zu kalt, weil die Temperatur unter minus zehn Grad sinken kann. Die Bauern hier - vielleicht zehn Prozent der Bevölkerung - sind deshalb auf eine Ernte angewiesen, die nach der belg bis Mitte des Jahres reift. Diese macht in normalen Jahren weniger als ein Zehntel der Gesamternte Äthiopiens aus, in Gebieten wie Washera und manchen Gegenden im Süden des Hochlandes jedoch einen viel größeren Teil. Mehrere schlechte belg-Regenzeiten hintereinander haben den Menschen dort ihre Reserven genommen. In der Hoffnung auf eine ungewöhnlich milde kirempt-Saison haben sie in Washera noch versucht, Mitte 1999 zu säen. "Aber die meher-Ernte ist erfroren", sagen die Bauern.
Schwer betroffen sind auch die trockenen Tiefländer entlang der südlichen und südöstlichen Grenze Äthiopiens. Sie machen ein Fünftel des Landes aus, sind aber nur dünn besiedelt und werden vorwiegend für nomadische Viehzucht genutzt. Viele haben ein vom Hochland abweichendes Niederschlagsmuster und leiden unter einer Dürre, der ein großer Teil des Viehs zum Opfer gefallen ist. In Borena an der Grenze zu Kenia und im Süden an der Grenze zu Somalia herrscht laut der Äthiopischen Evangelischen Kirche Mekane Yesus, die dort Hilfsprogramme unterhält, große Not.
Wegen des Erntezyklus schwankt der landesweite Hilfsbedarf über das Jahr. In 2000 steigt er nach den Schätzungen der DPPC von Januar bis Juni, wenn mehr und mehr Bauern ihre meher verbrauchen. Dann sinkt er leicht wegen der belg-Ernte. Ab November, wenn die neue meher erwartet wird, geht er dann stark zurück.
Dass die gegenwärtige Not von einer Dürre ausgelöst worden ist, wird von Hilfswerken in Addis Abeba nicht bezweifelt. Hinter vorgehaltener Hand weisen viele aber auf tiefer liegende Gründe hin: auf die Armut des Landes und den Zustand der Landwirtschaft, aber auch die Agrarpolitik und den Krieg mit Eritrea.
Denn Dürren treffen selten alle Teile des Landes gleichzeitig. Oft bedeuten sie auch nicht, dass es Jahre lang gar nicht regnet. "Das Problem ist, von Nomadengebieten abgesehen, nicht so sehr ein Mangel an Regen, sondern Regen zur falschen Zeit", erklärt Rebecca Hansen vom WEP in Addis Abeba. Dass dies zu Ernteausfällen führt, liegt am Entwicklungsstand des Landes.
thiopien hängt fast völlig von der Landwirtschaft ab. Von ihr leben rund 85 Prozent der Bevölkerung; 90 Prozent davon sind Kleinbauern, und die Mehrheit produziert überwiegend für den Eigenbedarf. Anlagen für künstliche Bewässerung sind die Ausnahme. Der Agrarsektor erzeugt etwa die Hälfte des Sozialprodukts und über vier Fünftel der Exporterlöse; 60 Prozent davon erbringt allein Kaffee, der vor allem im Süden und Osten des Hochlands angebaut wird - überwiegend von Kleinbauern. Ernteeinbußen können unter diesen Umständen kaum aus anderen Wirtschaftssektoren ausgeglichen werden, sondern ziehen im Gegenteil diese in Mitleidenschaft: Das Land ist den Wechselfällen des Wetters und der Weltkaffeepreise ausgeliefert.
Diese Misere ist zum großen Teil ein Erbe früherer Regierungen. Die feudale Ordnung im Kaiserreich behinderte jede Initiative, die Landwirtschaft zu modernisieren. In der Revolution von 1974 wurden dann zwar der Großgrundbesitz und die Feudalabgaben abgeschafft und der Boden an die Bebauer verteilt. Wenig später aber presste die Militärregierung den Bauern mit Hilfe des staatlichen Aufkaufmonopols Geld ab, um Kriege gegen Somalia und verschiedene Oppositionsbewegungen zu finanzieren. In deren Hochburgen setzte sie den Hunger als Waffe ein und zerstörte zum Beispiel Ernten. Versuche, die Produktivität zu erhöhen, blieben auf exportorientierte Staatsfarmen beschränkt.
Hinzu kommt, dass das Bevölkerungswachstum - die Einwohnerzahl verdoppelt sich alle 20 bis 25 Jahre - seit dem letzten Jahrhundert zur Verkleinerung der Parzellen und zur Entwaldung geführt hat. Ackerland wurde unter den Söhnen einer Familie aufgeteilt, soweit die nicht fortzogen. Die Revolution von 1974 hat das nicht grundlegend geändert, denn sie hat den Boden nicht zum Privat-, sondern zum Staatsbesitz gemacht, der widerruflich zur Nutzung überlassen wird. Noch heute wird Ackerland von Ortsgemeinden, den kebele, unter ihren Mitgliedern zuweilen neu verteilt. Die Haushalte besitzen im Durchschnitt rund einen Hektar Felder.
So waren die Bauern seit dem letzten Jahrhundert gezwungen, Neuland zu erschließen, indem sie immer höhere Lagen abholzten und dort auch steile Hänge beackerten. Dadurch konnte der Regen fruchtbaren Boden wegwaschen; große Teile des Hochlandes, etwa in Wollo und Tigre, weisen schwere Erosionsschäden auf. Verschlimmert wird das, weil die Bauern sehr viel Vieh auf kommunalen Weiden halten. Esel, Pferde, Rinder und in niedrigen Lagen Kamele dienen als Last- und Arbeitstiere und sind Sparkasse und Ausdruck des sozialen Prestiges.
An der Fortdauer der Misere in der Landwirtschaft ist aber die heutige Regierung nicht ganz unschuldig. Sie zeigt zwar unstrittig wesentlich mehr Interesse an der Entwicklung des Landes als die vorigen; sie hat etwa das staatliche Ankaufmonopol aufgehoben und durch nur geringe Steuern für die Bauern ersetzt. Doch die FAO und das WEP kritisieren zum Beispiel, es müsste dringend Privatbesitz oder Erbpacht an Boden erlaubt werden. Denn wer will in einen Acker investieren, den er bei einer Umverteillung durch seine kebele wieder verlieren kann? Das Landwirtschaftsministerium scheint einen Gesetzentwurf dazu in der Schublade zu haben, fürchtet aber, dass die Erlaubnis, Land zu verkaufen, zur Konzentration des Landbesitzes, zu Landlosigkeit und zur Abwanderung in die Städte führt.
Außerdem hat die Regierung die Vergabe von Kleinkrediten für NGOs sehr erschwert. Und quasi-staatliche Institute der Regionen drängen Bauern für das Düngerpaket Global 2000 Kleinkredite auf, die sie aus dem höheren Ertrag der cker tilgen sollen. Das ist aber nur in Gebieten mit ausreichend Boden, gutem Regen und leichtem Marktzugang sinnvoll. In Tigre und Nord-Wollo zum Beispiel hat es viele Bauern in Schulden gestürzt, weil mangels Regen mit Dünger nicht mehr gewachsen ist als ohne.
Der 1998 ausgebrochene Krieg mit Eritrea hat die Landwirtschaft zusätzlich geschädigt - zumindest in Tigre. Dort sind aus dem Hinterland der Front zahlreiche Bauern ins Inland geflohen. Die cker dieser "intern Vertriebenen" (internally displaced) liegen brach, sie selbst sind zu Hilfsempfängern geworden. Außerdem hat die Rekrutierung von Soldaten - die Armee ist von rund 100.000 auf mindestens 300.000 Mann vergrößert worden - der Landwirtschaft Arbeitskräfte entzogen. Anders als im Fall der Vertreibungen sind hier die Folgen aber schwieriger zu beurteilen, denn die Rekruten erhalten einen Sold von 250 bis 400 Birr (60 bis 100 Mark) pro Monat; die Armee ist damit für viele auch eine attraktive Erwerbschance.
Aus all diesen Gründen führen schlechte Regenzeiten zu lokalen Ernteeinbußen. Und dies führt zu Hunger, weil die Betroffenen Ernteverluste nicht ausreichend aus anderen Einkommen ausgleichen können. Zwar verdienen viele Bauernfamilien auch in normalen Jahren einen Teil ihres Einkommens außerhalb der Landwirtschaft. Sie verkaufen etwa Brennholz, wo ein Wald und ein Markt in der Nähe sind. Auch saisonale Lohnarbeit in der Kaffeeernte oder auf früheren Staatsfarmen ist verbreitet. Aber wenn in einer Notlage viele zusätzlich Arbeit suchen, führt das zu einem berangebot an Arbeitskräften, und die Löhne sinken. In Tigre vermindert der Krieg zusätzlich die Erwerbsmöglichkeiten: Infolge der Schließung der Grenze haben die Bauern Nebeneinnahmen aus dem legalen und illegalen Grenzhandel verloren - mancherorts ein Dritttel der Familieneinkünfte.
Zudem leiden große Bevölkerungsgruppen schon in normalen Jahren Mangel. Laut dem jüngsten Weltentwicklungsbericht der Weltbank lagen das Sozialprodukt pro Kopf 1998 bei 100 US-Dollar und die durchschnittliche Lebenserwartung bei 42 Jahren für Männer und 44 für Frauen. 175 von 1000 Kindern sterben vor dem fünften Lebensjahr; fast die Hälfte der Kinder ist mangelhaft ernährt. Es ist deshalb kein Wunder, dass schon geringe Ernteausfälle viele Äthiopier von Hilfe abhängig machen.
"Die Hungerhilfe hat im vergangenen Jahr eine Katastrophe verhindert", erklärt denn auch Rebecca Hansen vom WEP. Die meisten Hilfswerke stimmen ihr zu. Jan Schutte, der die Programme des Lutherischen Weltbunds (LWB) in Äthiopien leitet, schränkt allerdings ein: "Die Menschen haben Hilfe erhalten, aber zu wenig. Sie sterben nicht, doch sie leiden Hunger."
Darüber klagen Bauernfamilien in den Hochlagen Nord- wie Süd-Wollos bitter. In Washera berichten sie aufgebracht, dass sie vor zwei Monaten zuletzt Hilfe erhalten haben. 12,5 Kilo gab es pro Kopf, aber für höchstens fünf Personen je Familie - egal wie viele Esser sie hat. Die Bauern wissen, dass dies eine verminderte Ration ist - die normale beträgt 15 Kilo pro Kopf und Monat. Die kebele Chiro hat seit Dezember nichts mehr verteilt; ihr Sekretär, Herr Kassa, erklärt, dass die Lieferung von der nächsthöheren Verwaltungsebene, dem woreda, sich verzögert habe. Im ganzen letzten Jahr sei weniger Hilfe eingetroffen als erbeten; aus den 1500 hier lebenden Familien seien deshalb 120 Menschen gestorben.
In Kebrumeda in Nord-Wollo, das ebenfalls über 3000 Meter hoch liegt, ist dagegen die monatliche Ration vor kurzem verteilt worden. Aber hier berichtet der Sekretär der kebele, Herr Anegagre, dass nur 600 der 5000 Einwohner etwas erhalten haben - 12,5 Kilo pro Kopf. Die Empfänger bezahlen mit Arbeitsleistung. Mehrere Dutzend Männer und Frauen bauen mit Schaufeln und alten Säcken, die als Trage dienen, einen Damm um einen flachen Tümpel. Sie machen eine Viehtränke regenfest, erklärt Anegagre. Die kebele hat die 600 Begünstigten danach ausgesucht, wer die größte Not leidet, sagt er; nach eineinhalb Monaten wechseln sie, dann sind andere an der Reihe.
Verminderte Rationen, verzögerte Zuteilungen oder Lieferungen nur an die am härtesten Betroffenen - wer ist dafür verantwortlich? Die Nahrungsmittelhilfe für Äthiopien stammt überwiegend von staatlichen Gebern. Die größten sind das WEP sowie die USA und die Europäische Union (EU). Von den rund 465.000 Tonnen der 1999 verteilten Nothilfe gaben die USA ein gutes Viertel, die EU ein Fünftel. Zwei Fünftel kamen vom WEP, das seine Mittel wiederum von Staaten erhält - 1999 rund die Hälfte von den USA, den Rest von der EU, Japan, Kanada und europäischen Staaten. Rund fünf Prozent - 25.000 Tonnen - kaufte thiopiens Regierung mit eigenen Mitteln.
Von der Nothilfe gehen meist rund fünf Prozent an Kirchen (vgl. Kasten "Ungleiche Partner"). Ein kleiner Teil wird im Rahmen von einzelnen laufenden Projekten verteilt, etwa von der Deutschen Welthungerhilfe und der Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit. Der Löwenanteil aber fließt direkt an die DPPC oder an große NGOs wie Oxfam, Christian Aid und den britischen Save the Children Fund (SCF-UK). Diese überwachen die Hilfsverteilung. Sie verteilen aber nicht selbst, sondern über örtliche Behörden oder über Organisationen, die sich als nichtstaatlich bezeichnen, jedoch eng mit einer Regionalregierung verbunden sind. Für Tigre ist das die Relief Society of Tigray (REST), der humanitäre Arm der Tigre-Befreiungsfront TPLF. Diese hat in den Achtzigern gegen das Militärregime gekämpft, regiert heute Tigre und prägt den Kurs der Regierung in Addis Abeba maßgeblich (vgl. Kasten "Ethnische Demokratie?"). Andere Regionen haben ähnliche "NGOs" geschaffen.
Kein Hilfswerk kommt also an den Behörden vorbei. In Washera zum Beispiel verteilen die kebeles Hilfsgüter, die von SCF-UK gestellt werden. In Kebrumeda stellt sie der LWB; er verteilt zusammen mit der Mekane Yesus-Kirche selbst - als einziger der internationalen Nothelfer, wie Schutte betont. In beiden Fällen aber entscheidet die DPPC, welche Gebiete einen wie hohen Anteil des insgesamt Verfügbaren erhalten. Dabei sollen ihr die Bedarfsschätzungen helfen, die in Zusammenarbeit mit dem WEP und der FAO erstellt werden. Dieses Vorgehen ist laut Jan Schutte auch sinnvoll - das Nebeneinander der Hilfswerke könnte sonst zur Bevorzugung einzelner Gebiete führen.
Für die Mängel der Hilfsoperation, die in Washera und Kebrumeda zutage treten, sind daher drei Ursachen vorstellbar. Erstens könnte thiopien weniger Hilfe erhalten haben als erbeten. Zweitens gelangt möglicherweise das Gelieferte nicht vollständig dahin, wo es gebraucht wird. Drittens ist denkbar, dass der offizielle Hilfsappell den tatsächlichen Bedarf noch unterschätzt hat. Für alle drei Vermutungen gibt es Anzeichen.
Die Zentrale der DPPC in Addis Abeba führt Mangel an Hilfsgütern an: Da dem Westen der Kosovo wichtiger gewesen sei, seien 1999 die Hilfsappelle thiopiens erst spät gehört worden. Daran ist soviel richtig, dass erst Mitte dieses Jahres große Mengen Hilfe zugesagt worden sind. Das lag aber nicht nur an der Konkurrenz aus dem Kosovo, sondern auch daran, dass die DPPC und die UN-Organisationen in Äthiopien die Not zunächst stark unterschätzt hatten.
Die Hilfsaufrufe beruhen auf Ernteschätzungen, die bis 1999 immer kurz vor der meher-Ernte erhoben wurden (der Appell für 2000 ist erstmals bis nach der Ernte verzögert worden, um Fehlschätzungen zu vermeiden). Und Ende 1998 erklärte das WEP, die meher werde 1999 fast so hoch ausfallen wie im Rekordjahr 1996. Die DPPC erwartete, dass "nur" rund 2 Millionen Äthiopier wetterbedingt Hilfe bräuchten. Nachdem die meher-Ernte schlecht ausgefallen war, musste diese Zahl im April auf 2,9 Millionen korrigiert werden. Im Mai stieg die Zahl der Dürreopfer auf 4,2 Millionen, weil die belg-Regen ausgeblieben waren. Eine weitere Korrektur auf 5 Millionen im Juli beruhte darauf, dass die Folgen der Dürre für Hirtennomaden stets etwas später vollständig berücksichtigt wurden. Im Oktober lautete die offizielle Zahl der Dürreopfer dann 6,6 Millionen. Die Kriegsvertriebenen in Tigre sind jeweils noch dazuzurechnen - ihre Zahl schwankte laut DPPC zwischen fast 400.000 Anfang 1999 und knapp 320.000 Ende des Jahres.
So gingen nach den ersten Hilferufen der DPPC bis April 1999 tatsächlich kaum Zusagen ein. Deshalb, erklärt die Behörde, mussten die Rationen gekürzt, zeitlich gestreckt und gezielter an die am meisten Bedürftigen vergeben werden. In der Praxis ist eine gezieltere Vergabe aber schwierig, wenn an einem Ort alle mehr oder weniger Hunger leiden. Mitarbeiter des LWB haben Mitte 1999 etwa in Kebrumeda oder in Konso im Süden festgestellt, dass die Hilfsrationen unter allen aufgeteilt wurden und die Menschen furchtbar ausgezehrt waren. Der Appell vom Mai, und der große Aufruf zusammen mit den Vereinten Nationen im Juli änderten die Lage jedoch grundlegend: Nun trafen zahlreiche Hilfszusagen ein. Ende November 1999 waren über 96 Prozent des Bedarfs für die zweite Jahreshälfte zugesagt.
Dadurch verbesserte sich die Hilfsleistung - nicht zuletzt dank der Nahrungsnotreserve, die die Geber und Äthiopien gemeinsam verwalten. Denn wenn ein Geber eine Nahrungslieferung zusagt, vergehen in der Regel drei bis vier Monate, bis sie tatsächlich eintrifft. Um diese Zeit zu überbrücken, darf aus der Reserve die zugesagte Menge (und nur die) entliehen werden; sie wird bei Lieferung zurückgegeben. So stand das versprochene Getreide in der zweiten Jahreshälfte auch tatsächlich zur Verfügung. Gebiete wie Kebrumeda oder Konso im Süden erhielten öfter Hilfe, sodass sich die Lage dort verbessert hat.
Allerdings ist dadurch die Reserve zusammengeschmolzen und jetzt fast leer. Die für 1999 zugesagten Güter treffen zu langsam ein, um sie wieder zu füllen, und die Hilfsaufrufe für 2000 - auch der zur berbrückung der Zeit bis März - sind noch nicht durch Zusagen gedeckt. Im Februar bestand daher ein Lieferengpass, der sich durch neue Zusagen und Lieferungen im März entspannt hat. Dass auch in der zweiten Hälfte letzten Jahres stets verminderte Rationen ausgegeben wurden, ist damit aber nicht ausreichend erklärt; die Zusagen und die Notreserve reichten damals aus. Wird die Hilfe zum Teil auch fehlgeleitet?
Systematischen Missbrauch - insbesondere um die stark angewachsene Armee zu ernähren - halten die meisten Geber und Hilfswerke für ein untergeordnetes Problem. Die grösste Gefahr bestehe bei der Hilfe für die Kriegsvertriebenen. Deren Zahl kann kaum überprüft werden, weil die meisten nicht in Lagern leben, sondern in Tigre auf Dörfer verteilt; sie werden nicht vom UN-Flüchtlingshilfswerk betreut, sondern von REST, dem Hilfswerk der Regierungspartei Tigres. UN-Organisationen in Addis Abeba erklären die Angaben von REST und der DPPC für glaubwürdig. Manche Geber sind da nicht so sicher: Sie bemerken hinter vorgehaltener Hand, dass nach den offiziellen Angaben mehr Menschen im Land vertrieben sind, als in den frontnahen Gebieten insgesamt wohnen - die ins Ausland Geflohenen gar nicht mitgerechnet.
Doch rund 350.000 Vertriebene fallen im Verhältnis zu acht Millionen Dürreopfern wenig ins Gewicht. Und die Hilfe für diese wird nach dem übereinstimmenden Urteil der Geber und der meisten Hilfswerke kaum vorsätzlich missbraucht. Das heißt aber nicht, dass alles an den richtigen Ort kommt. Ein Besuch beim DPPC-Büro der Zone Nord-Wollo in Woldiya vermittelt eine Ahnung von den Ursachen dafür. Die zentrale DPPC, heißt es dort, teilt den Regionen ihren Anteil an den Hilfsgütern zu; diese verteilen sie auf die Zonen und die auf die Empfänger. Und unterschiedliche Bewertungskriterien führten dazu, dass die unteren Ebenen der DPPC die Zahl der Bedürftigen meist höher schätzten als die oberen, so dass die Zone weniger erhält als erbeten. 1999 freilich hat sie den größten Teil des Erbetenen erhalten. Wieso hat sie dann Kebrumeda zu wenig zugeteilt? Diese Frage führt nach einiger Verwirrung zu der Auskunft, dass die DPPC Woldiya die Not selbst unterschätzt hatte.
Wie aus verschiedenen Schätzungen offizielle Zahlen entstehen, erklärt Rebecca Hansen vom WEP: Die Zentrale und das WEP schicken gemeinsame Missionen in die woredas. Falls eine Mission nach Gesprächen mit dem woreda den Bedarf niedriger schätzt als dieser selbst, entscheidet die Region - meist zugunsten der Mission, da die in der Regel bessere Belege vorweisen kann. Das WEP hält die offiziellen Zahlen daher für realistisch.
Hansen bestätigt, dass die Verwaltung eines woreda im eigenen Interesse und in dem der Einwohner zu hohen Schätzungen neigt. Die zentrale DPPC ist dagegen eher an niedrigen Zahlen interessiert, denn sie berücksichtigt gleichsam vorbeugend den erwarteten Mangel an Hilfsgütern und will nicht kritische Fragen der Geber nach der Landwirtschafts- und Entwicklungspolitik der Regierung provozieren. Zudem kennt sie natürlich die Neigung der unteren Ebenen zu Übertreibung. Man darf daher vermuten, dass sie pauschal kürzt, auch wo es unberechtigt ist, und damit den unteren Ebenen noch mehr Grund zu vorbeugender Ü bertreibung gibt.
Das sind typische Strategien in einer Bürokratie. Es gibt aber Anzeichen dafür, dass die Verteilung auch von politischen Gesichtspunkten beeinflusst wird. Zum Beispiel äußerten Helfer Mitte 1999 gegenüber dem Informationsdienst IRIN, der vom UN-Büro für Humanitäre Angelegenheiten (OCHA) herausgegeben wird, dass Tigre die Dürre relativ gut überstehen könne - aufgrund seiner guten Verbindungen zur Zentralregierung. Nomaden scheinen dagegen besonders wenig politischen Einfluss zu besitzen. Die Vernachlässigung ihrer Gebiete Anfang 1999 erklärt eine Hilfsorganisation auch damit, dass die Regierung die Kämpfe mit einer bewaffneten Oppositionsgruppe dort, die über Somalia Waffen von Eritrea bekam, unter Ausschluss der Öffentlichkeit beenden wollte.
Fazit: Die Hilfsoperation wird sowohl von einem zeitweisen Mangel an Hilfsgütern beeinträchtigt als auch von Fehlleitungen. Absichtlicher Missbrauch scheint aber eine geringe Rolle zu spielen. Jan Schutte resumiert aus der Sicht eines Hilfswerks: "Die Hilfe wird ins Land gebracht und nicht wieder hinaus. Folglich wird sie gegessen. Worüber sind wir dann beunruhigt?"
Trotzdem hat die Hilfe politische und ökonomische Nebenwirkungen. Selbst wenn kein Korn direkt an die Armee geht, erlaubt sie erstens, anderswo Nahrung für die Soldaten abzuzweigen. Zweitens stützt sie die Behörden. Zum Beispiel lässt die DPPC einen Teil ihrer Infrastruktur wie Fahrzeuge oder Computer von Gebern bezahlen. Drittens verdienen Transportunternehmen gut daran, dass sie das Getreide vom Hafen zu mehreren Hauptlagern in Äthiopien fahren. Der Transport ist infolge des Krieges teurer und schwieriger geworden, weil der Hafen Assab in Eritrea nicht mehr benutzt werden kann. Die Nahrung wird jetzt in Djibouti gelöscht, dessen Hafen damit überlastet ist; neuerdings soll ein Teil über Berbera in Somalia gehen. Für den Transport nach Äthiopien zahlen die Geber etwa so viel, wie das Getreide kostet - um die 140 US-Dollar pro Tonne. Und das größte dieser Transportunternehmen ist ein Ableger der TPLF.
Das Problem scheint weniger zu sein, dass sich daran jemand persönlich bereichert, sondern dass es die Regierungspartei EPRDF und ihre Satellitenparteien begünstigt. Denn ihnen nützt auf dem Land die Kontrolle über die Vergabe von Krediten, den Verkauf von Waren und eben auch die Verteilung von Hilfe. Damit kann Druck ausgeübt werden. In mindestens einem Fall ist das auch geschehen: Dem dänischen Journalisten Uffe Jensen haben Bewohner eines Dorfes bei Kebrumeda im November 1999 erklärt, dass ihre Hilfslieferungen zurückgehalten würden, weil das Dorf noch nicht die angeforderte Zahl von jungen Männern für die Armee gestellt hatte.
Man darf aber nicht übersehen, dass den meisten Hungernden zeitig geholfen wird - anders als während der Dürre von 1984-85, die ähnlich viele Menschen traf wie die jetzt. Damals spielte die Militärregierung das Ausmaß der Not bis nach den Revolutionsfeiern im Oktober 1984 herunter, behinderte die Hilfe für Rebellengebiete systematisch und missbrauchte Hilfsgüter für Zwangsumsiedlungen. Sie hat damit den Tod von Hunderttausenden Menschen verursacht. Die TPLF, einer ihrer Kriegsgegner, machte schon damals einen ganz anderen politischen Gebrauch von der Hilfe, die kirchliche Werke aus dem Sudan über die Grenze brachten: Sie benutzte sie, um ihren Rückhalt unter den Bauern zu stärken. Sie hat zwar mit Mitteln der Geber auch Kämpfer versorgt und Ressourcen wie einen Fuhrpark beschafft, die nach 1991 zum Grundstock von TPLF-eigenen Unternehmen wurden. Aber um Unterstützung für ihren Guerillakampf zu gewinnen, musste sie die Not der Hungernden auch tatsächlich lindern.
Diese Tradition hat sich anscheinend gehalten. REST, der humanitäre Arm der TPLF, gilt unter in Äthiopien tätigen NGOs als sehr effizient - auch wenn es heißt, dass sie jede Einflussnahme der Geber abwehrt. Die TPLF scheint Patronage nur soweit zu nutzen, wie sie dadurch nicht eigene Entwicklungsziele gefährdet. Zum Beispiel hat die Partei eine eigene Firma 1996 von der Düngerverteilung ausgeschlossen, nachdem diese im Jahr zuvor nicht rechtzeitig hatte liefern können. Auch anderswo in Äthiopien scheinen Behörden und Regierungsparteien zu wissen, dass sie ihre politische Basis im Regelfall am besten mit wirksamer Hilfe stärken können und nicht, indem sie sie unterschlagen oder behindern. Wie immer man die Streitfrage beurteilt, ob Äthiopien eine Demokratie ist oder nicht - dieser Unterschied gegenüber der Militärregierung hat bisher eine Wiederholung der Katastrophe von 1984-85 verhindern helfen.
Manchen Hilfswerken und Gebern, etwa der EU, bereitet deshalb weniger der mögliche Missbrauch von Hilfe Sorgen als der Zweifel am Nutzen für die Entwicklung des Landes. Denn Äthiopien erhält ständig Nahrungsmittelhilfe. "Und der Gesamtbedarf nimmt langfristig zu", fürchtet Rebecca Hansen.
1995 bis 1999 brauchten laut DPPC durchschnittlich 4,4 Millionen Äthiopier Hilfe und 1996 trotz der Rekordernte rund 2,7 Millionen - weniger waren es nie. Die Hoffnung, dass dieses bisher beste Jahr eine Wende angezeigt hat, scheint dahin: Das Defizit in 2000 ist das größte seit acht Jahren. Die FAO und das WEP veranschlagen die Lücke zwischen der Agrarproduktion und dem Bedarf auf rund 764.000 Tonnen oder knapp sieben Prozent. Sie gehen allerdings davon aus, wie viel Nahrung das Land in normalen Jahren verbraucht. Das entspricht aber eher 1800 Kilokalorien pro Tag und Einwohner als den von der FAO empfohlenen 2200. Wollte man dieses Niveau in zehn Jahren erreichen, dann müsste der Getreideverbrauch des Landes jedes Jahr um über 500.000 Tonnen wachsen, betont der Ökonom Alem Abraha in Christian Fellners Sammelband "Ethiopia". Demnach wäre die Lücke zwischen der Ernte und dem Bedarf des Landes noch erheblich größer als 764.000 Tonnen.
Kurz: Äthiopien erzeugt stets weniger Nahrung, als seine wachsende Bevölkerung benötigt. Auf Dauer, warnen Geberländer, kann das nicht mit Hilfslieferungen ausgeglichen werden. Äthiopien muss dringend die Produktion seiner Landwirtschaft wie der Wirtschaft insgesamt erhöhen. Und die Frage ist, ob die gegenwärtige Form der Nahrungsmittelhilfe eine solche Entwicklung fördert.
Dabei sind drei Arten der Hilfe zu unterscheiden. Nothilfe macht nur etwa drei Viertel der Nahrungsmittelhilfe an Äthiopien aus. Ein zweiter Teil - 1999 etwa 15 Prozent - wird regelmäßig verwendet, um Arbeitsleistungen in langfristigen Entwicklungsprojekten zu bezahlen; food for work heißt das im Projektdeutsch. Der Rest - ein Zehntel 1999 - wird "monetarisiert", das heißt im Auftrag der Geber in Äthiopien verkauft, um Transportkosten hereinzuholen.
Dies ist schwerlich entwicklungsfördernd. Zum Beispiel hat die Monetarisierung von Speiseöl laut Alem Abraha in den achtziger Jahren zu einem Überangebot geführt und einheimische Produzenten geschädigt. Das Verfahren ist allerdings nicht allgemein üblich; nur die USA und in geringerem Maße Frankreich und Italien lassen Nahrung "monetarisieren", statt den Hilfswerken die Transportkosten in Geld zu erstatten.
Dagegen sind food for work-Projekte ihrem Konzept nach Entwicklungsförderung. Und die Nothilfe soll theoretisch ähnlich vorgehen. Schon 1995 hat die äthiopische Regierung festgelegt, dass nur Kinder, Alte und Kranke sie ohne Gegenleistung erhalten sollen. Die übrigen sollen dafür in so genannten Employment Generating Schemes arbeiten - zum Beispiel Straßen ausbessern und Hänge terrassieren. Dies soll die Infrastruktur verbessern, Arbeit schaffen und vermeiden, dass die Empfänger sich an ständige Hilfe gewöhnen. Die Ortsbehörden sind gehalten, geeignete Projekte für den Fall einer Notlage auf Vorrat zu planen. Aber das, sagen Hilfswerke, ist eben vielerorts nur Theorie; die Verwaltung ist dazu umso weniger in der Lage, je weiter man in den Süden des Landes kommt. Auch manche Mitarbeiter der DPPC geben zu, dass in der Praxis viel mehr Nothilfe als vorgesehen frei verteilt wird.
Die EU-Vertretung in Äthiopien drängt auf eine produktivere Nutzung der Hilfe. Hans-Jörg Neun, der Leiter ihrer Local Food Security Unit in Addis Abeba, hat in einem dort zirkulierenden Papier vorgerechnet, dass zum Beispiel über 100.000 Kilometer Straßen oder 1900 Dämme jedes Jahr entstehen könnten, wenn Hilfe sämtlich gegen Arbeit vergeben würde. In diesem Fall sollte Äthiopien vorübergehend sogar noch mehr Nahrungsmittelhilfe erhalten als jetzt. Neun beklagt aber, dass die Regierung hier wenig tue - der Staatshaushalt sehe nur sehr geringe Beträge für Programme der Ernährungssicherung und für die DPPC vor. Ein Diplomat bestätigt, die Ernährungssicherung überlasse die Regierung weitgehend den Gebern.
Damit internationale NGOs die Nothilfe produktiver verwenden, hat die EU- Vertretung kürzlich ihre Vergabekriterien verschärft. Denn NGOs erhalten pro Tonne Nahrung neben der Transportkostenerstattung rund 20 Mark für Planung und Kontrolle, die bei Abwicklung über die DPPC nicht anfallen. Dafür fordert die EU einen Mehrwert: Die Nothilfe soll mit Entwicklungsprojekten verbunden sein - sonst könne man auch gleich die DPPC beliefern.
Für diese Forderung hat Jan Schutte ein gewisses Verständnis. Der LWB versucht seit 1985, die Nothilfe in Entwicklungsförderung überzuleiten; er konzentriert sich dabei auf Bewässerungsprojekte. Gut 90 kleine Dämme hat er in Äthiopien angelegt, vor allem in Gebieten wie Wollo, die ständig weniger Nahrung produzieren als verbrauchen. Damit werden Gärten bewässert, in denen einige hundert Familien Obst, Gemüse oder Kaffee anbauen können - zum Teil für den Verkauf.
Bei Mersa nördlich von Dessie ist ein Damm in Bau. Hunderte Männer und Frauen arbeiten daran ohne Maschinen. Sie zerhämmern Felsen, füllen Steinbrocken in Säcke und deichen damit den Fluss vorläufig ein, mauern am Rand Schleusen und graben Kanäle zu den Feldern. Im Juli soll der Damm fertig sein und später rund 200 Hektar Land bewässern. Die Plackerei wird mit Getreide bezahlt - mit "regulärer" Nahrungsmittelhilfe.
Die fertigen Dämme helfen den Bauern sehr. Aber auf der Baustelle werden auch die Pferdefüße von food for work-Projekten sichtbar. Erstens hat der LWB selbst festgestellt, dass sie die Erwartung nähren, alle Arbeit müsse bezahlt werden. Zweitens wird die verdiente Nahrung zum Teil weiterverkauft; die Leute hier, auf rund 1500 Meter Höhe, haben schließlich jüngst geerntet - wenn auch nicht alle genug für das Jahr. Die Hungernden zum Beispiel aus Washera, das keine hundert Kilometer entfernt ist, können hier aber nichts verdienen. Denn die Arbeitskräfte werden von der woreda-Verwaltung ausgesucht, und die nimmt nur ihre eigenen Bürger.
So etwas macht den in Äthiopien tätigen Landwirtschaftsexperten Helmut Spohn skeptisch gegenüber der gesamten Nahrungsmittelhilfe. Die Arbeit in Entwicklungsprojekten sollte man seiner Ansicht nach besser mit Geld bezahlen; dann würde die Nachfrage nach heimischen Agrarprodukten steigen und nicht sinken.
Aus demselben Grund ist es sinnvoll, Nothilfe in Äthiopien zu kaufen, wie es europäische Geber seit 1993 verstärkt tun. Laut WEP und FAO können in 2000 rund 200.000 Tonnen Hilfe im Land gekauft werden; höhere Schätzungen etwa der EU kommen auf bis zu 500.000 Tonnen. Solche Mengen zu kaufen, ist aber für die Geber logistisch schwierig, erfordert umständliche Ausschreibungen und muss sorgfältig geplant werden, um nicht die Preise am Ort hochzutreiben. Diesen Effekt können auch Geldlöhne in einem Projekt haben. Und das Nahrungsdefizit des Landes insgesamt kann mit lokalen Käufen natürlich nicht kurzfristig behoben werden.
Spohn hält aber für problematisch, dass jedes Jahr Nothilfe geleistet wird. Das verzögere Strukturanpassungen wie die Abwanderung aus Mangelregionen. Langfristig könne Äthiopien sich ernähren, wenn tiefer gelegene und wenig genutzte Gebiete etwa im Westen erschlossen und die Landwirtschaft in begünstigten Gebieten intensiviert würden. Gebiete wie Wollo oder Ost-Tigre und sehr hoch liegende Gegenden können allerdings auf absehbare Zeit nicht genug Nahrung für ihre Bewohner erzeugen. Es ist möglich, dass manche Bauern dennoch dort bleiben, weil sie jedes Jahr mit Hilfe rechnen. In Kebrumeda und Washera nennen die Menschen aber andere Gründe: Sie wissen, dass im Tiefland Malaria verbreitet ist, und erklären, in normalen Jahren mit ihren winzigen ckern über die Runden zu kommen. Zudem sind gerade aus Wollo viele 1985 zwangsumgesiedelt worden und haben daran sehr schlechte Erinnerungen - selbst wenn manche Umgesiedelte heute erfolgreich wirtschaften.
Ob noch mehr Nahrungsmittelhilfe die Entwicklung fördern kann, scheint also nicht klar. Unstrittig ist aber, dass durchdachte Entwicklungsprojekte nötig sind und ebenso Nothilfe in Krisenzeiten wie heute. Doch beides scheint infolge des Krieges mit Eritrea gefährdet, weil die Geber ihre Hilfe wegen des Krieges einschränken.
Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) etwa hat Mitte 1998 Regierungsverhandlungen mit Äthiopien abgesagt. Ende 1998 hat es die finanzielle Zusammenarbeit eingefroren (die technische - etwa die Projekte der GTZ - werden fortgesetzt) und die Wiederaufnahme von der Beilegung des Krieges abhängig gemacht, erklärt das BMZ. Die EU genehmigt seit 1998 keine neuen Entwicklungsprojekte; Italien tritt allerdings gegen Bestrebungen auf, über die Entwicklungshilfe Druck auf Äthiopien auszuüben.
Und die Nothilfe soll dazu bisher nicht verwendet werden. Das BMZ fürchtet allerdings, dass es auf Dauer schwierig ist, deutschen Steuerzahlern zu erklären, warum man der Bevölkerung eines Landes hilft, dessen Regierung sich einen Krieg leisten kann. Addis Abeba hat laut dem Internationalen Institut für Strategische Studien (IISS) in London seit 1998 etwa 300 Millionen US-Dollar allein für Waffenkäufe, vor allem in Osteuropa, und den Sold von ausländischen Piloten und Ausbildern ausgegeben (die entsprechenden Ausgaben Eritreas schätzt das IISS auf 240 Millionen Dollar). Die Kriegskosten werden zum Teil aus mehr oder weniger freiwilligen Spenden der Bürger, aus Preisaufschlägen auf Erdölprodukte und aus höheren Zöllen auf Importe gedeckt. Die Regierung verweist auch auf ihre eigenen Aufwendungen für Nothilfe; so hat sie im Februar umgerechnet gut 42 Millionen Dollar für den lokalen Ankauf und den Transport von 100.000 Tonnen Hilfsgütern bereitgestellt, um den Lieferengpass zu überbrücken. Das alles kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Krieg auf Kosten der Entwicklungsanstrengungen geht. Die Frage, ob man dennoch die Nothilfe fortsetzen soll, stellt die Geber vor ein Dilemma.
Eine Szene auf dem Marktplatz von Washera wirft darauf ein Schlaglicht. In einer Versammlung von Bewohnern steht ein Laster neben einigen Jeeps; Mitglieder der kebele-Miliz laufen mit ihren Gewehren umher, und junge Männer klettern auf die Ladefläche. Es handelt sich um eine Aushebung von Soldaten. Drei Stunden später ist der Marktplatz fast leer. Zurückgeblieben sind Dutzende Bettler, die meisten Frauen und Kinder. Sie sind völlig zerlumpt, ausgemergelt und zu entkräftet, um in größere Orte zu gehen, wo mehr Menschen Geld haben.
Falls Äthiopien eine neue Offensive startet - Ende Februar sind wieder kurz Kämpfe aufgeflammt -, kann das für die Rekruten wie für die Bettler den Tod bedeuten. Die Soldaten werden vielleicht in Schützengräben umkommen oder bei Sturmangriffen, die an den Ersten Weltkrieg erinnern; schon einmal, im März 1999, sind Tausende junger thiopier so verheizt worden. Die Bettler aber werden darunter leiden, dass die Not-hilfe aus Europa und Amerika nach einer Offensive sinken wird. Es wird dann nur die Hälfte geben, schätzen Hilfswerke in Addis Abeba nüchtern. Viele Männer, Frauen und Kinder, die nach der Dürre mittellos sind, werden dann noch ihre letzte Nahrungsquelle verlieren.
Literatur:
aus: der überblick 01/2000, Seite 95
AUTOR(EN):
Bernd Ludermann :
Bernd Ludermann war viele Jahre Redakteur beim "überblick". Er arbeitet jetzt als freier Journalist in Hamburg und betreut unter anderem als Redakteur die Forum-Seiten im "überblick".