Die Zivilgesellschaft am Leben halten
Togo ist ein Schwerpunktland für die Arbeit des EED wie von Brot für die Welt. Eine dauerhafte Entwicklung wird dort jedoch von den politischen Verhältnissen behindert. Projekte können kaum selbsttragend werden. Daher gehören Hilfen für Menschenrechtler und Gruppen, die politischen Wandel fördern wollen, zu den sinnvollsten Mitteln der Entwicklungsförderung.
von Bernd Ludermann
Stolz tragen der 13-jährige Machoudi und sein 12-jähriger Freund Ibrahim ein Spottlied vor, das Machoudi geschrieben hat: einen Rap. Sie schwingen dabei ihre mageren Körper in den staubfarbenen Schuluniformen im Rhythmus hin und her. Das Lied beklagt, dass die Erwachsenen in Togo bei Beerdingungen stets einen großen Schmaus für die Toten veranstalten, doch um die Lebenden kümmern sie sich nicht.
Wenn man weiß, wie die beiden aufgewachsen sind, versteht man den Spott. Beide haben auf der Straße gelebt und auf dem Kohlenmarkt in Ahanoukope, einem Viertel der Hauptstadt Lomé, Abfall und Holzkohle verkauft. Dort sammeln sich Straßenkinder und verdienen etwas Geld. Die jüngeren füllen Kohle in Plastiksäcke, die größer sind als sie selbst; die älteren stapeln die Säcke und liefern sie mit Handkarren in andere Stadtteile. Am Rande des Bolzplatzes, der neben dem Markt liegt und von Kohlenstaub grau ist, schlafen viele dieser Kinder.
Dass Machoudi und Ibrahim diesem Leben entkommen sind und zur Schule gehen können, verdanken sie der nichtstaatlichen Organisation CLORED. Sie unterhält nahe dem Kohlenmarkt ein Zentrum, in dem 65 Kinder tagsüber eine Zuflucht finden. Dort bekommen sie zu essen und können die ersten zwei Jahre der Grundschule durchlaufen. Denn wer länger auf der Straße gelebt hat, unterwirft sich nicht ohne weiteres wieder der Disziplin einer normalen Schule, erklärt Jean-Pierre Bruce, ein Straßensozialarbeiter der Organisation. CLORED versucht auch, die Kinder wieder in ihre Familien zu integrieren. Bei Ibrahim ist das gelungen, er schläft bei seinen Eltern. "Schwere Fälle" und Kinder, deren Eltern nicht zu finden sind, können bei CLORED in einem einfachen Raum übernachten. Nach zwei Jahren werden sie, wenn sie noch nicht zu alt sind, in normale Schulen geschickt.
Die Schule, die Machoudi und Ibrahim besuchen, liegt neben einem Müllplatz und an einem Gelände, auf dem sich ebenfalls Straßenkinder herumtreiben. Einige lässt die Schuldirektorin Frau Loudonou, die auch im Verwaltungsrat von CLORED mitarbeitet, manchmal in der Schule übernachten. Sie berichtet, dass die Zahl der Kinder, die auf der Straße leben oder das Geld für die Schule nicht aufbringen können, ständig wächst. "In den letzten neun Monaten sind 17 Kinder zu mir gekommen, weil sie zur Schule gehen wollten, aber ihre Eltern das nicht bezahlen können", erzählt sie. Über die neue Vorschrift, alle abzuweisen, deren Eltern das Schulgeld nicht zahlen, hat sich die engagierte Direktorin hinweggesetzt. Hefte, Stifte und in einigen Fällen auch Kleider hat CLORED beschafft.
CLORED ist in Togo einer der Partner von "Brot für die Welt". Mit Spenden aus Deutschland sollen Straßenkinder eine Chance bekommen. Doch das kann nur eine kleine Chance sein, solange die Wirtschaft des Landes weiter verfällt. Togo, das etwa so groß ist wie Niedersachsen und rund 4,7 Millionen Einwohner hat, gehört zu den ärmsten Ländern der Welt. Und das Sozialprodukt pro Kopf ist in den 1990er Jahren noch deutlich gesunken.
Der Verfall der Weltmarktpreise für Exportprodukte Togos wie Kaffee und Kakao hat dazu beigetragen. Doch der Kern des Problems sind die Herrschaftsmethoden von Staatspräsident Eyadema. Er nutzt einen erheblichen Teil der Staatseinnahmen, um persönliche Gefolgschaft zu kaufen, seine Gegner zu spalten und seine Parteigänger von seinem Wohlwollen abhängig zu halten. Unter anderem dadurch ist es ihm gelungen, den politischen Prozess auch nach der Abschaffung des Einparteisystems und der Ausweitung der Meinungsfreiheit zu Beginn der 1990er Jahre unter Kontrolle zu halten. Sein Klientelsystem fördert die Korruption und verhindert eine sachorientierte Politik.
Daneben stützt sich Eyadema auf eine begrenzte, aber unberechenbare Repression. In Krisen ließ er die Armee brutal vorgehen - so 1992-93 gegen die Demokratiebewegung und erneut im Rahmen der Wahlen von 1998. Diese Präsidentschaftswahlen ließ Eyadema ebenso fälschen wie schon die von 1993. Die damit verbundenen Konflikte haben zu einem Rückgang des Sozialprodukts geführt - 1993 um rund ein Fünftel. Und die meisten staatlichen Geber haben ihre Entwicklungshilfe an Togo, die 1990 noch einen erheblichen Teil zum Sozialprodukt und den Staatseinnahmen beitrug, aus politischen Gründen 1993 stark eingeschränkt.
Die Togolesen bekommen die Folgen im Verfall des Schul- und Gesundheitswesens zu spüren. Der Staat ist mit der Zahlung der Gehälter für viele seiner Bediensteten Monate in Verzug. Den Krankenhäusern fehlt wichtiges Heilmaterial, und während der Erntezeit fällt an manchen Schulen der Unterricht aus, weil Lehrer auf ein landwirtschaftliches Zubrot angewiesen sind. Auch Pensionen werden zeitweise nicht gezahlt. Der Hafen verliert infolge der Korruption Kunden an die Konkurrenz in Benin und Ghana. Der Mangel an Kaufkraft schädigt den Handel und das Handwerk und macht das Überleben im informellen Sektor härter. Dass diese Misere politisch verursacht ist, pfeifen in Lomé die Spatzen von den Dächern. So klagt ein Schneider, dass sein Umsatz zurückgehe, und antwortet auf die Frage nach den Gründen: "Die Politik."
Die Mitarbeitenden von CLORED haben die Erfahrung gemacht, dass unter diesen Bedingungen auch Jugendliche mit einer Schulbildung sich nur schwer über Wasser halten können. Um zu verhindern, dass sie wieder auf der Straße landen, hat die Initiative deshalb begonnen, ihnen eine Lehre zu verschaffen - etwa bei ausgewählten Schneidern, Frisörinnen oder Tischlern. Das kostet, denn Lehrlinge müssen in Togo Lehrgeld zahlen und erhalten kaum Lohn; wer Glück hat, hat nach Feierabend eigene Kunden. Damit die Schützlinge nach Abschluss einer Lehre ein Geschäft eröffnen können, will CLORED denjenigen, die sich zusammenschließen, noch eine Starthilfe geben - zum Beispiel für das Werkzeug.
Die Organisation macht sinnvolle Arbeit. Dennoch wirft ihr Ansatz Fragen auf. Zum einen führt "Brot für die Welt" eine Debatte mit den Verantwortlichen von CLORED darüber, ob genügend Gewicht darauf gelegt wird, dass die Kinder selbstständig werden, statt dass jedes Folgeproblem wieder zum Ruf nach Hilfe führt. Da besteht die Gefahr, dass am Ende Straßenkinder gegenüber anderen Kindern bevorzugt sind.
Solche Mängel lassen sich abstellen. Grundsätzlicher ist die Frage: Wie viel Aussicht haben selbst ausgebildete Jugendliche in Togo, von einem Gewerbe zu leben, wenn den Kunden das Geld fehlt? "Es gibt keine Garantie, dass sie es schaffen, aber eine Lehre verbessert auf jeden Fall ihre Chancen", sagt Eva Sodeik, die bei "Brot für die Welt" bis Ende 2002 für Togo zuständig war.
CLORED leistet im Grunde international finanzierte Sozialarbeit für einen Teil der Ärmsten. Damit könnte die Organisation sich auch unter besseren Bedingungen kaum selbst finanzieren. Aber eine selbsttragende Entwicklung des Landes würde Staat und Gesellschaft Togos in die Lage versetzen, die Kosten dafür nach und nach selbst zu übernehmen. Solange sich die Politik in Togo nicht ändert, fehlen dafür die Voraussetzungen. Daher werden auch Vorhaben, die das durchaus könnten, nicht selbsttragend. Zum Beispiel Projekte zur Förderung der landwirtschaftlichen Produktion, weil der Staat sich nicht um die Infrastruktur wie Straßen oder Staudämme kümmert.
Weshalb haben dann "Brot für die Welt" und der EED Togo zu einem Schwerpunktland erklärt? "Gerade wegen der schwierigen politischen Verhältnisse", sagt Michael Kronenberg vom EED. Nichtstaatliche Organisationen könnten und müssten gerade jetzt unabhängige Initiativen stützen. In einer Situation, in der staatliche Geber und viele andere Hilfswerke das Land verlassen haben oder - wie der DED - demnächst verlassen sollen, könne man die Togolesen nicht völlig im Stich lassen. Auch wenn viele Projekte sich langfristig nicht selbst tragen und die Lage des Landes nur wenig beeinflussen, gehe es doch darum, "die Zivilgesellschaft am Leben zu halten", sagt Eva Sodeik. Das kann irgendwann indirekt auch die Rahmenbedingungen für Entwicklung beeinflussen.
Manche Projekte des kirchlichen Entwicklungsdienstes versuchen das direkter. So will Pfarrer Franck Adubra mit Projekten seines Vereins "Hoffnung für Afrika" der, wie er selbst sagt, "Nehmermentalität" entgegenwirken. Etwa mit der Musterfarm Yokélé, die auf Dauer ihre Kosten selbst erwirtschaften soll (siehe Kasten). Da werden allerdings nicht die Ärmsten fortgebildet, sondern künftige Multiplikatoren; mit Straßenkindern wäre so etwas schwierig.
Einen Kern der Entwicklungsblockade geht der wohl mutigste Partner von "Brot für die Welt" an: Die Menschenrechtsorganisation ATDPDH (Togolesische Vereinigung für die Verteidigung und Förderung der Menschenrechte). Geleitet wird sie von Semiou Pio und Simon Mathe. In einem winzigen Hinterzimmer in Lomé sammeln sie Informationen und Beschwerden über Rechtsverstöße - wenn missliebige Studenten interniert, Regimegegner verprügelt oder die Ausrüstung von kritischen Radiosendern beschlagnahmt werden. Die Willkür der Sicherheitskräfte trifft aber nicht nur Oppositionelle, erklärt Mathe. So misshandelte im Herbst ein Soldat eine junge Frau, nur weil sie Hosen anstelle eines Rocks trug, als sie einen Angehörigen im Gefängnis besuchte.
Wenn Mathe und Pio überzeugt sind, dass solche Berichte zutreffen, schreiben sie Protestbriefe an die Behörden und informieren die Presse. Das nützt aber selten, weil die Justiz politisch beeinflusst und korrupt ist. Die beiden umtriebigen Rentner wollen daher auch Grundprobleme des Menschenrechtsschutzes in Togo angehen: Den meisten Togolesen fehlt nach Jahrzehnten der Diktatur unter Eyadema ein Begriff von der Bedeutung der Menschenrechte, sagt Mathe. Und Missstände anzuprangern, ist gefährlich; deshalb ist es schwierig, Berichte darüber hieb- und stichfest zu prüfen. Um das zu ändern, schult die ATDPDH im Südteil Togos Freiwillige, die Berichten über Rechtsverstöße lokal nachgehen und sie nach Lomé melden sollen. Damit wollen Mathe und Pio - beide frühere Lehrer - auch das Bewusstsein für Bürgerrechte wie -pflichten im Land verbreiten. Die meisten Aktivisten sollen unbekannt bleiben; Mathe und Pio treten als einzige nach außen für die ATDPDH auf.
Sie wissen, dass das riskant ist. Der erste Präsident von ATDPDH ist kurz nach deren Gründung 1998 verhaftet und im Gefängnis misshandelt worden; wenig später ist er gestorben. "Aber ich bin siebzig, meine Kinder stehen auf eigenen Beinen. Ich muss keine Angst mehr haben", sagt Mathe. Im Norden des Landes, wo die Menschenrechte am schlimmsten missachtet werden, können sie vorerst aber nicht arbeiten. Das wäre lebensgefährlich: In Eyademas Hochburg verbreitet sein Sohn Ernest, ein Militär, Angst und Schrecken.
Dass nichtstaatliche Werke besser als die staatliche Entwicklungszusammenarbeit jene Gruppen unterstützen können, die auf politische Rahmenbedingungen einwirken, ist ein Grund für das Engagement des EED und von "Brot für die Welt" gerade in Togo. Partner wie ATDPDH zu finden, ist aber schwierig. Einen Ansatzpunkt bietet die private Presse - deutsche politische Stiftungen fördern die Ausbildung für deren Journalisten. Auch die Kirchen Togos beginnen sich stärker zu sozialen und politischen Fragen zu äußern; die EEPT beginnt ein vom EED gefördertes Schulungsprogramm in den Gemeinden, das auch der Förderung der Menschenrechte dient.
Ein stabiles Regime werden solche Einwirkungen kurzfristig nicht erschüttern. Doch Togos Regime ist nicht mehr so fest gefügt wie früher. Im vergangenen Jahr haben sich Reformer von der herrschenden Partei abgespalten, darunter einer, der Rückhalt auch in der Armee sowie in Eyademas Heimatregion und Hochburg besitzt. Wenn Eyademas Amtszeit Mitte diesen Jahres ausläuft - das Verbot einer erneuten Wiederwahl ließ er Ende 2002 aus der Verfassung streichen -, könnte eine politische Krise bevorstehen. Dann könnte die Frage, wie organisationsfähig und für Menschenrechte sensibilisiert die Gruppen der Zivilgesellschaft sind, plötzlich bedeutsam werden.
Es kann aber sein, dass die Bedingungen für Entwicklung in Togo schlecht bleiben - mit oder ohne Eyadema. Sollen internationale Hilfswerke dann wenigstens eine Sozialarbeit unterstützen, mit der die Chancen von Kindern wie Machoudi und Ibrahim verbessert werden? Oder soll man sich um sie nicht kümmern, weil es scheint, dass anderswo mit dem knappen Geld mehr Entwicklungserfolge zu bewirken sind? Das, so Eva Sodeik, ist für "Brot für die Welt" keine Option: "Uns geht es um die Menschen."
Musterfarm in TogoDer Nehmermentalität entgegentretenPfarrer Franck Adubra von der Evangelischen Presbyterianischen Kirche Togos (EEPT) hält wenig davon, junge Leute an Hilfe zu gewöhnen. Er will ihr Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten und ihr Verantwortungsgefühl stärken. Und sein Verein "Projekt Hoffnung für Afrika", ein Partner von "Brot für die Welt", soll auf die Dauer das Geld für seine Arbeit selbst erwirtschaften. Mit der im vergangenen Jahr eröffneten Musterfarm Yokélé könnte das gelingen. Hier, anderthalb holprige Fahrstunden von der nächsten Stadt Kpalimé entfernt, lernen zwölf junge Männer neue Agrartechniken - zum Beispiel Ziegen und Hühner zu mästen, statt sie umherlaufen und ihr Futter selbst suchen zu lassen. Die Kombination von Viehzucht und Ackerbau ist gegenüber der traditionellen Landwirtschaft die wichtigste Innovation: Tierischer Dünger und Kompost helfen die Bodenfruchtbarkeit bewahren, und Mais und Maniok liefern Viehfutter. Zehn Monate leben die Jugendlichen in Yokélé. Die Ausbildung kostet sie umgerechnet 45 Euro (das durchschnittliche Jahreseinkommen liegt in Togo bei 270 Euro). Wer das Geld nicht hat, dem wird es bis nach der Ausbildung gestundet, aber nicht einfach erlassen. Die Nahrungsmittel für die Bewohner der Farm werden selbst produziert und der Überschuss verkauft - zum Nutzen von Frank Adubras Verein. Die zwölf Auszubildenden kommen von Bauernhöfen und gehören nicht zu den Ärmsten. Die meisten haben zu Hause Zugang zu Land. Alle haben eine Schulbildung - unterrichtet wird nicht in einer afrikanischen Sprache, sondern auf französisch -, und manche haben noch ein Handwerk gelernt und ihr Glück vergebens in der Stadt versucht, bevor sie beschlossen, auf dem Land neue Wege zu gehen. Dass hier eher besonders Aufgeweckten geholfen wird, ist im Sinne des Projekts, sagt Adubra: Die wenigen Plätze sollen wirklich Engagierten zugute kommen, die dann später als Multiplikatoren das Gelernte weiter verbreiten und so indirekt auch den Armen helfen sollen. Das, so scheint es, könnte funktionieren. Zumindest zeigt die zupackende Art der Jugendlichen, dass sie von diesem Weg überzeugt sind. bl |
aus: der überblick 01/2003, Seite 106
AUTOR(EN):
Bernd Ludermann :
Bernd Ludermann war viele Jahre Redakteur beim "überblick". Er arbeitet jetzt als freier Journalist in Hamburg und betreut unter anderem als Redakteur die Forum-Seiten im "überblick".