Die Vorboten des Wandels
Studentenbewegungen gab und gibt es in vielen Gesellschaften. In Entwicklungsländern mit schwach ausgebildeten Zivilgesellschaften spielen Studenten oft die besondere Rolle, Vorreiter für politische Veränderungen zu sein.
von Philip G. Altbach
Fast gelang es iranischen Universitätsstudenten im Jahr 1999, das islamische Regime zu stürzen. Sie scheiterten, als die Konservativen in der Regierung ihre eigenen Fürsprecher mobilisierten und Demonstrationen organisierten. Auch zwanzig Jahre zuvor, 1979, war der Sturz des Schahs von Studenten der Universität Teheran, die später die amerikanische Botschaft besetzten, beschleunigt worden.
Indonesische Studenten erzwangen 1998 den Rücktritt von Präsident Suharto. Sie gingen auf die Straße und mobilisierten große Teile der Bevölkerung. Nach lang anhaltenden Demonstrationen eskalierte im Mai 1998 die Gewalt. Nach einer studentischen Massendemonstration wurden nach Angaben der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) vier Studenten erschossen. Am folgenden Tag griffen die Unruhen auf andere Stadtteile über. Geschäfte chinesischstämmiger Ladenbesitzer wurden geplündert und in Brand gesetzt und die Besitzer gejagt. Mehr als 1000 Chinesen und Kunden der chinesischen Läden kamen dabei nach HRW-Angaben ums Leben. Aber die Unruhen ebneten auch den Weg zu Neuwahlen.
Dies sind nur zwei Beispiele für die Macht, die Studentenbewegungen entwickeln können. So können sie die Politik beeinflussen und soziale Unruhen verursachen. Studenten haben in der politischen und kulturellen Geschichte vieler Länder eine Schlüsselrolle gespielt. Häufig trieben sie die Unabhängigkeitsbewegungen voran, die vielen Entwicklungsländern die Freiheit brachten. Soziale und politische Bewegungen an den Universitäten waren in vielen Gesellschaften Vorboten des Wandels, von den Pro-Nazi-Verbindungen im Deutschland der Weimarer Republik bis hin zu den Bürgerrechts- und Antikriegsbewegungen in den USA der sechziger Jahre.
Die politischen Bewegungen der Studenten könnte man mit dem sprichwörtlichen Kanarienvogel im Kohlebergwerk, der Schlagwetter wittert und dann in seinem Käfig herumflattert, vergleichen: Sie können ein Anzeichen für eine bevorstehende soziale Explosion oder für eine sich anbahnende politische Krise sein. Doch nicht alle Studentenbewegungen kündigen solche unruhigen Zeiten an und sind als gesellschaftliche Veränderer keineswegs immer erfolgreich. Wenn ein Regime stabil ist und wenigstens einen Funken Legitimität besitzt, wird es in der Regel überleben.
Manche Regierungen reagieren auf Studentenrevolten repressiv. Der Schuss kann jedoch nach hinten losgehen: Auf den Straßen von Jakarta hatten die Sicherheitskräfte Studenten einer der renommiertesten Universitäten Indonesiens getötet, der Eliteuniversität Trisakti. Das brachte die öffentliche Meinung an den Universitäten zum Kochen und führte dazu, dass die Massenmedien sich gegen die Regierung wendeten. Nach mehreren Jahrzehnten der Machtausübung war die Korruption unter dem diktatorischen Suharto-Regime so weit verbreitet und es galt in den Augen der Öffentlichkeit als so ineffektiv, dass es unter seinem eigenen Gewicht zusammenbrach. Die Studenten bildeten die Kraft, welche die Schwäche des Regimes zu Tage brachten.
Die chinesischen Behörden dagegen waren in der Lage, die Demonstrationen von 1989 auf dem Tiananmen-Platz (Platz des Himmlischen Friedens) durch massiven Einsatz von Gewalt zu beenden. Sie behielten auch die Kontrolle über die Massenmedien. Denn das chinesische Regime hatte den Sicherheitsapparat besser im Griff und eine größere Legitimität als Präsident Suharto.
Studentenbewegungen können Regierungen also nur stürzen, wenn das politische System schon geschwächt ist und das Regime seine Legitimität weitgehend verloren hat. Studentenbewegungen haben noch nie die Regierung eines Industriestaates zu Fall gebracht. Dies liegt daran, dass die politischen Systeme relativ stabil sind. Zudem gibt es viele konkurrierende politische Interessen, Organisationen und Bewegungen, die von den Gewerkschaften über politische Parteien bis hin zu den Medien reichen. Nur während der instabilen sechziger Jahre verursachten die Studenten in den westlichen Ländern Unruhen größeren Ausmaßes.
In Frankreich sah sich Präsident de Gaulle gezwungen, in einen französischen Militärstützpunkt nach Deutschland zu flüchten, und das Fortbestehen der Regierung schien zweifelhaft. In Amerika zwang die von Studenten angeführte Bewegung gegen den Krieg in
Vietnam Präsident Lyndon Johnson zum Verzicht auf eine erneute Präsidentschaftskandidatur, auch wenn die Bewegung nicht das politische System selbst bedrohte. In Westdeutschland stellten die Studenten eine bedeutende politische Kraft, die außerparlamentarische Opposition (APO) dar.
Die Gründe für die Macht der Studenten zu jener Zeit waren in jedem Land ähnlich: Die Gesellschaft war polarisiert und die etablierten politischen Parteien nicht handlungsfähig. In den USA wurde Präsident Johnsons Versprechen, das militärische Engagement in Vietnam zurückzufahren, nicht honoriert und der Krieg eskalierte weiter. In Frankreich hatte De Gaulle das Parlament geschwächt. Und in Deutschland fehlte durch die Große Koalition der beiden größten Parteien CDU und SPD eine effektive Opposition. Die Studenten stießen mit der APO in diese Lücke und verliehen so dem wachsenden Unmut der deutschen Bevölkerung Ausdruck.
Viele Entwicklungsländer haben nur schwach ausgebildete politische Institutionen und wenig Möglichkeiten zu öffentlichen Meinungskundgebungen. Ihre Zivilgesellschaft - das Netzwerk von unabhängigen Organisationen, der Presse und Verlage, der Gewerkschaften und politischen Parteien - ist nur schwach ausgeprägt. Hierfür gibt es viele Gründe. In manchen Fällen hat das Erbe des Kolonialismus die Entwicklung der Institutionen behindert. Als beispielsweise der Kongo unabhängig wurde, gab es dort nur eine Handvoll von Universitätsabsolventen. Armut und Analphabetentum behinderten die Entstehung ziviler Institutionen und stabiler Regierungen.
Studenten gehören zu den wenigen gesellschaftlichen Gruppen, die sowohl die Kenntnisse als auch die (begrenzte) Freiheit besitzen, um politisch aktiv werden zu können. In vielen Entwicklungsländern geht die Tradition politischer Aktivitäten von Studenten auf den Kampf gegen den Kolonialismus zurück.
Im Gegensatz dazu werden in westlichen Ländern politische Aktivitäten der Studenten eher als ungerechtfertigt angesehen. Man erwartet von ihnen, dass sie zum Studieren an die Universität gehen und nicht, um sich politisch zu engagieren. Studenten im Westen stehen nicht nur in Konkurrenz zu einem breiten Spektrum an Organisationen und Bewegungen, ihr Engagement wird auch vom größten Teil der Öffentlichkeit nicht hoch angesehen. In den Entwicklungsländern dagegen werden die Studenten häufig als das "Gewissen der Nation" verstanden.
Die Beispiele aus dem Iran und Indonesien sind sehr aufschlussreich und typisch für Studentenbewegungen: Die sporadischen studentischen Aktionen verursachten einige politische Instabilität. Das klerikale Establishment des Iran überlebte aber den Ausbruch der von Studenten angeführten Demonstrationen, obwohl die Studenten die sichtbarste Kraft darstellen, die den gewählten, liberal gesonnenen Präsidenten Seyed Mohammad Khatami unterstützen. Dagegen brach das indonesische Regime des korrupten Präsidenten Suharto zusammen, und die ihm nachfolgenden gewählten Präsidenten versuchten, einen Reformprozess einzuleiten. Doch brachten sie dem Land keine dauerhafte Stabilität.
In beiden Ländern wurde die politische Opposition viele Jahre lang unterdrückt, mit streng kontrollierten Medien und weitverbreiteter Repression. Die akademische Freiheit in den Universitäten wurde eingeschränkt. Den Menschen boten sich nur wenige Möglichkeiten, ihrer Opposition gegen die Regierenden Ausdruck zu verleihen, und politische Meinungsäußerung wurde grundsätzlich mit Festnahme beantwortet. Doch gibt es sowohl im Iran als auch in Indonesien mit einer aktiven Mittelschicht und einer relativ hohen Alphabetisierungsrate die Grundlage für eine Zivilgesellschaft.
Die Studenten in diesen Ländern und in vielen anderen Ländern der Dritten Welt gehören zu den wenigen gesellschaftlichen Gruppen, die abweichende Meinungen äußern können. Die Studenten der Entwicklungsländer kommen überwiegend aus relativ wohlhabenden städtischen Familien. Sie sind vergleichsweise leicht zu organisieren, da sie auf dem Universitätsgelände regelmäßig aufeinander treffen. Die akademische Atmosphäre, selbst in solch repressiven Gesellschaften wie im Iran und in Indonesien, ist freier als in der sie umgebenden Gesellschaft. Was vielleicht am wichtigsten ist: Höhere Bildung fördert das Nachfragen und das Infragestellen etablierter Praktiken und Institutionen. Daher überrascht es nicht, wenn kritische Meinungen zuerst unter den Studenten geäußert werden.
In beiden Ländern verbreiteten sich die Unruhen rasch von den wichtigsten Universitäten in Wohn- und Geschäftsviertel der Hauptstadt und gewannen die Unterstützung bedeutender Teile der städtischen Bevölkerung. In Indonesien war das Regime schon so verkommen und die Unzufriedenheit, die durch die sich ausweitende wirtschaftliche Krise gefördert wurde, so stark, dass die Niederschlagung der Unruhen unmöglich wurde. Suharto war schließlich gezwungen, eine friedliche Lösung der Krise zu suchen und zurückzutreten. Die Studenten erreichten jedoch ihr eigentliches Ziel nicht - den Sturz des Regimes insgesamt. Denn Suhartos Nachfolger wurde der vorherige Vizepräsident Bacharuddin Jusuf Habibie, der Teil des alten Regimes war. Er führte die Übergangsregierung, bis - erst ein Jahr später - Neuwahlen stattfanden. Wieder waren es die Studenten, die durch ihre Demonstrationen, Habibie dazu bewegen konnten, sich nicht um das Präsidentenamt zu bewerben. Der dann 1999 zum Präsidenten gewählte Abdurrahman Wahid, musste allerdings wegen eines Finanzskandals unter Druck der demonstrierenden Bevölkerung 2001 seinen Hut nehmen. Zu seiner Nachfolgerin wählte das Parlament seine Vizepräsidentin Megawati Sukarnoputri. Aber auch die neue Präsidentin genießt unter den Studenten keine besondere Unterstützung.
Im Iran schaffte es die konservative Führung, ihre eigenen Unterstützer auf die Straße zu bringen und die Massenmedien zu beherrschen. Es zeigte sich, dass das Regime sich durch Unterdrückungsmaßnahmen und durch die Mobilisierung der eigenen Anhänger weiterhin an der Macht halten konnte. Die Studenten hatten zwar die Regierungskrise beschleunigt, sie waren jedoch nicht in der Lage, den Lauf der Ereignisse zu kontrollieren.
Auch dies ist ein allgemeines Merkmal von studentischem Aktivismus: Studenten verfügen weder über die Macht noch die Organisationsfähigkeit, um ihre Bewegung aufrechtzuerhalten und ihren Willen in der Gesellschaft durchzusetzen. Sobald die Krise ausbricht, erscheinen andere Kräfte. Oft übernimmt das Militär die Macht, oder politische Koalitionen zimmern ein neues Regime zusammen.
In Indonesien bewegen sich die politischen Parteien nach den Wahlen 2001 langsam auf einen Reformkurs zu. Aber im Iran sind die konservativen islamischen Kleriker bisher noch in der Lage, ihre Macht zu erhalten, auch wenn ihre Kontrolle über die iranische Gesellschaft inzwischen viel schwächer ist, als dies in der Vergangenheit der Fall war, was teilweise auf andauernde Proteste und den Aktivismus der Studenten zurückzuführen ist. Natürlich ist es bezeichnend, dass die iranischen Studenten die Krise hervorgerufen hatten, die 1979 zum Sturz des Schah führte. Und bezeichnenderweise ist es gut zwanzig Jahre später wieder eine neue Generation von Studenten, die ihre Unzufriedenheit mit einem Regime ausdrückt, dem einst ihre Vorgänger zur Macht verholfen hatten. Eben diese Studenten hatten auch die massenhaften Demonstrationen für Meinungs- und Pressefreiheit initiiert, an denen sich im Jahr 2002 große Teile der Bevölkerung beteiligten.
Universitätsstudenten sind eine einflussreiche Kraft in vielen Ländern. Sie formen die öffentliche Meinung und kulturelle Einstellungen und geben ihnen ebenso Ausdruck. Da sie oft an vorderster Front des politischen und sozialen Wandels stehen, verdienen sie es, verstanden und respektiert zu werden. Ihr Potenzial ist zweifellos in den Entwicklungsländern viel größer, als in den industrialisierten Ländern. Dort, wo Studenten zu den wenigen politischen Akteuren gehören, die sich artikulieren können, können sie die öffentliche Meinung beeinflussen und den Lauf der politischen Ereignisse mitgestalten. Manchmal schaffen sie es sogar, Regime zu stürzen. In den Industriestaaten dagegen können Studenten nur unter besonders dramatischen Bedingungen einen solchen Einfluss ausüben, wie dies während der Krisen der sechziger Jahre der Fall war. In den Entwicklungsländern ist die Rolle der Studenten in der Politik und in der Gesellschaft viel wichtiger - als eine beständige intellektuelle Kraft und als zwar sporadische, aber dann aktive Teilnehmer am politischen Geschehen.
aus: der überblick 01/2003, Seite 25
AUTOR(EN):
Philip G. Altbach :
Philip G. Altbach ist Professor für Höhere Bildung und Direktor des Zentrums Internationale Höhere Bildung am Boston College, USA. Er ist unter anderem Autor von "Student Politics in America" (Transaction 1997), und Herausgeber von "Student Political Activism: An International Reference Handbook" (Greenwood Press 1989).