Bis zum Hals im Schlamm
Mangroven wachsen im Salz- und Brackwasser der Küsten und zählen zu den produktivsten Ökosystemen der Erde. Doch als Folge der zunehmenden Besiedlung und Nutzung der Küstengebiete werden weltweit immer mehr Mangrovenwälder abgeholzt. Sind diese aber nicht mehr intakt, gehen die Fischbestände zurück, und die lokalen Fischergemeinschaften leiden. Mangroven werden zum Konfliktfeld unterschiedlicher Interessen.
von Susanne Eickhoff und Uwe Krumme
Ein starker, süßer Kaffee im Morgengrauen und eine Schüssel Maniokmehl mit Wasser, das ist die einzige Wegzehrung. Dann beginnt für Jono die Arbeit in der Mangrove. Eine Stunde braucht er mit dem Fahrrad von seiner Hütte am Stadtrand von Bragança (rund 200 Kilometer nordöstlich von Belém) bis zur Mündung des Rio Caeté. Hier säumt ein dichter, noch weitgehend unberührter Mangrovengürtel die nordbrasilianische Küste. Im Sumpf haben handtellergroße Krebse ihre Erdhöhlen gebaut. Sie gelten in den Küstengebieten als Delikatesse. Jono muss tief in den Schlamm greifen, um sie herauszuholen. Kein leichtes Unterfangen, die Krebse verbergen sich im Wirrwarr der Luft- und Stelzwurzeln, und ein Myriadenheer an Mücken durchschwirrt die stehende Luft. Am Ende des Tages ist Jono vollständig von einer grauen Schlammschicht bedeckt. Doch er hat bis zu 200 Krebse aus dem Boden gezogen und für den Markt in Bragança in Bündel gepackt.
Mangroven zählen neben tropischen Regenwäldern und Korallenriffen zu den produktivsten Ökosystemen unserer Erde. Sie haben sich in besonderer Weise an die Lebensbedingungen der salzigen Küstengewässer und brackigen Flussmündungen angepasst. Ihr dichtes Wurzelgeflecht bildet zahllose Lebensnischen für Meeresbewohner. In den Wasser führenden Prielen der Mangrovensümpfe tummeln sich eine Vielzahl von Fischen und Garnelen. Auf den Wurzeln der Bäume siedeln Algen, Seepocken und Muscheln, im Schlamm haben Winker- und Mangrovenkrabben ihre Höhlen gebaut. Die abfallenden Blätter und Früchte ergeben jährlich pro Quadratmeter bis zu 1,7 Kilogramm organisches Material, das auch benachbarte Korallenriffe und Seegraswiesen mit Nährstoffen versorgt.
An der Küste Amazoniens lebt über die Hälfte der Bevölkerung direkt von den Mangrovenwäldern. Jono verdient sein Geld hauptsächlich mit dem Fang der Krebse. Nach der Regenzeit, wenn es besonders viele Fische gibt, kommen auch Meeräschen und Welse hinzu. Das Holz der Bäume wird als Brenn- und Bauholz und zur Gewinnung von Gerbstoffen genutzt. Im Krankheitsfall greift man auf den natürlichen Heilmittelvorrat der Mangrove zurück. Von den Krebsen fängt Jono nur die Männchen mit ihren großen Scheren, die kleineren Weibchen verschont er zum Schutz des Bestandes. "Um aber die großen Krebse zu finden, muss man jedes Jahr weiter in den Wald vordringen", klagt er. "Immer mehr Leute bedienen sich aus den Mangroven."
Auch die Küstenfischerei zieht Fremde an. Noch sind die Fanggründe vor den Mangroven Nordbrasiliens nicht merklich überfischt. Mit Stellnetzen und Angeln fangen die Einheimischen die kleineren, küstennahen Fischarten. Vor wenigen Jahren jedoch begann mit Kuttern und schweren Schleppnetzen die Jagd auf die großen Raubfische im Flachmeer vor der Küste, auf Schnapper, Adlerfische oder Zackenbarsche, die über 300 Kilogramm schwer werden können. Viele Bootseigner sind Unternehmer aus den nordöstlichen Bundesstaaten Ceará oder Pernambuco. Die Verknappung der Fischbestände in ihren heimatlichen Gewässern hat sie vertrieben. Mit dem nötigen Kapital und einer ausgezeichneten Kenntnis der Absatzmärkte sind sie den lokalen Fischern weitaus überlegen.
Im Nordosten Brasiliens wird seit Jahrzehnten sehr intensiv gefischt - ein Grund für den Rückgang der Bestände an Fisch und Meeresfrüchten. Und noch ein weiterer Faktor spielt eine Rolle. Große Teile der Mangrovenwälder sind dort bereits zerstört. Sie mussten dem Städtebau weichen, wurden von Aquakulturanlagen und Kokosnussplantagen verdrängt. Mangroven sind jedoch die Kinderstube einer großen Zahl wirtschaftlich bedeutender Fisch- und Garnelenarten. Während ihrer empfindlichen Larvenphasen lassen diese sich von den Gezeitenströmungen in die Mangrove tragen. Hier finden sie im dichten Wurzelgewirr Schutz vor Feinden und reichlich Nahrung. Ohne diese Aufwuchsgebiete wird den Fischpopulationen die Lebensgrundlage entzogen.
In Bragança macht sich das boomende Fischgeschäft im Stadtbild bemerkbar. Teure Importwagen verdrängen die kleinen Fuscas, die brasilianischen VW-Käfer, und immer häufiger entstehen luxuriöse, farbenprächtige Privathäuser. Von dem Aufschwung profitiert die lokale Bevölkerung jedoch kaum. Die Straßen der Stadt sind seit Jahren nicht ausgebessert worden, in Krankenhäuser und Schulen wird kaum investiert. Auf dem Fischmarkt findet man nur selten die hochwertigen Fischarten. Der Großteil der wertvollen Ware wird schnell gewogen und in die wartenden Kühltransporter gepackt, die den Fang zu zahlungskräftigen Kunden in die Städte im Nordosten des Landes transportieren.
Die Großfischerei wird in Brasilien vom Staat kaum kontrolliert. Sie ist ein Beispiel dafür, wie von einer Minderheit aus den reichen Ressourcen Amazoniens Profit geschlagen wird. Arbeitsbedingungen, Anlandemengen, Mindestfanggrößen oder Beifang werden unzureichend überprüft, Steuern werden kaum bezahlt. Die Behörden sind zu schwerfällig und personell zu schlecht ausgestattet, um den Überblick über ein Land mit gigantischen Ausmaßen zu behalten. Außerdem mangelt es an zuverlässigem Datenmaterial über den Fischfang.
Der unkontrollierte Zugriff auf Meeresressourcen ist ein globales Problem, das sich insbesondere in den Küstenregionen bemerkbar macht. Sie beherbergen die produktivsten Regionen unseres Planeten. Daher sind sie bevorzugte Siedlungsgebiete des Menschen. Experten schätzen, dass in den nächsten 50 Jahren rund 80 Prozent der Weltbevölkerung in Küstengebieten leben werden. Die übermäßige Nutzung verändert jedoch die natürlichen Lebensgemeinschaften der Küstenmeere. Von den hochwertigen Arten werden immer kleinere Fische gefangen. Mittlere Größen etablieren sich am Markt, und nur noch die alten Fischer können von den kapitalen Exemplaren erzählen. Die Fischerei weicht auf andere Fanggründe, minderwertige oder seltenere Arten aus. Wo Schleppnetze im Einsatz sind, wird der Meeresboden regelmäßig umgepflügt. An die Stelle von Arten mit langen Reproduktionszeiten und besonderen Ansprüchen an ihren Lebensraum treten Arten mit kurzen Reproduktionszeiten und höherer Anpassungsfähigkeit. So verliert die Artengemeinschaft allmählich ihre Vielfalt.
Überall dort, wo Mangroven großflächig abgeholzt wurden, ist der Rückgang der Fischbestände besonders deutlich. In Ecuador zum Beispiel ergab eine Befragung der Fischer, dass mit der Mangrovenvernichtung in den letzten zehn Jahren die Fangerträge um bis zu 90 Prozent abnahmen. Häufigste Ursache für die Abholzungen ist die Zucht von Fischen und Garnelen. Die Küstenaquakultur nutzt die Nähe zum Meer und die hohe Produktivität der entsprechenden Lebensräume.
Mit Hilfe von Dämmen werden Becken angelegt und mit dem Wasser aus den umgebenden Mangrovenwäldern geflutet. Bei besonders intensiver Zucht sammeln sich Futterreste, Fäkalien und Antibiotika in den Becken an. Dadurch wird die natürliche Fähigkeit des Wassers, sich zu regenerieren, überstrapaziert. Deshalb sind die Anlagen, die als Devisenquelle und zur Schaffung von Arbeitsplätzen geplant waren, nach wenigen Jahren unbrauchbar. So gehen wieder Jobs verloren und Gewinne bleiben aus.
Auch kann dort kein Mangrovenwald mehr wachsen. Das Überschwemmungsmuster ist verändert und der feinkörnige Schlick entfernt, den die Bäume als Grundlage benötigen. Mit dem Wald fällt zudem der natürliche Schutzgürtel gegen Stürme, Flutwellen und Erosion für die angrenzende Küste. Im Jahr 1991 forderte eine Flutkatastrophe in Bangladesch rund 100.000 Menschenleben. Am schwersten traf es die Gebiete, in denen Schrimps-Farmen die Mangroven ersetzt hatten.
Obwohl die Bedeutung der Mangroven für das Küstenökosystem bekannt ist, ist bereits die Hälfte des weltweiten Bestandes zerstört. Neue Berechnungen zeigen, dass die Mangroven sogar dreimal so schnell an Fläche verlieren wie tropische Regenwälder. In einigen Regionen wird allerdings an der Wiederaufforstung gearbeitet. Einer der Vorreiter ist Vietnam.
Zusätzlich zum Raubbau zerstörte der Vietnamkrieg hier einen großen Teil der Mangrovenwälder. Rund 95 Millionen Liter Agent Orange, einem dioxinhaltigen Herbizid versprühten die US-amerikanische und die australische Armee zwischen 1961 und 1971 über Vietnam, so eine Studie der Columbia University aus dem Jahr 2003. Die Wälder sollten entlaubt werden, um gegnerische Stellungen der Vietkong zu enttarnen und Ernten zu zerstören. Die vietnamesische Regierung rief daraufhin ein Programm zur Wiederaufforstung ins Leben. Im Can Gio Reservat, in der Nähe des Mekong-Deltas, werden nun schon seit Jahrzehnten Mangroven angepflanzt, so dass sich unterschiedliche Sukzessionsstadien finden. Allerdings ist noch unklar, inwieweit die wieder aufgeforsteten Monokulturen in ihrer ökologischen Bedeutung tatsächlich vergleichbar sind mit den natürlichen Mangrovenwäldern.
Die Folgen der Umweltzerstörung treffen vor allem die Ärmsten der Armen, die zum Überleben auf ein weitgehend intaktes Ökosystem angewiesen sind. Beladen mit seinem Fang bahnt sich der Brasilianer Jono nach fünfstündiger Arbeit mühsam seinen Weg durch die Sümpfe zur Straße. Die Bündel wiegen schwer, bis zu 50 Kilogramm muss er durch den Schlamm tragen. Im Restaurant werden die Krebse für 2 Reais das Stück verkauft, das sind knapp 60 Cent. Caranguejo toc toc (Krebs-klopf-klopf) heißt das beliebte Gericht, da der Panzer mit einem Holzkolben aufgeschlagen wird. Doch der Zwischenhändler oder Patron, der Padrno, zahlt niedrige Preise: Pro Krebs bekommt Jono je nach Saison nur 3 bis 6 Cent. Zudem haben Mangrovenarbeiter nahezu keine staatliche Sozialversicherung. Für das exklusive Kaufrecht unterstützt der Padrno Jono in Krisenzeiten mit Naturalien, zum Beispiel bei Krankheit oder finanziellen Notlagen. Krebsfänger zahlen dafür mit ihrer Abhängigkeit von dem Zwischenhändler und sind dessen Willkür ausgeliefert.
Immer noch sind in Brasilien gut organisierte Gruppen der Zivilgesellschaft rar. Das ist auch eine Folge der Militärdiktatur, die bis 1985 jede Art von Bürgerinitiativen zu unterbinden versuchte. Mangels ausreichender Schulbildung fällt es den marginalisierten Bevölkerungsgruppen schwer, sich politisch Gehör zu verschaffen. Zwar besitzt Brasilien durchaus fortschrittliche Umweltgesetze. Diese sind der Bevölkerung jedoch selten bekannt und spiegeln die lokalen Realitäten oft nicht wider. So ist beispielsweise das Abholzen von Mangroven verboten. Die Anwohner stehen jedoch regelmäßig vor der Entscheidung, den Herd kalt zu lassen oder das Gesetz zu brechen.
Die Rettung der Mangroven kann durch Wiederaufforstung allein nicht bewältigt werden. Mehr Erfolg verspricht ein ganzheitliches Management der bestehenden Ressourcen unter Einbindung der lokalen Bevölkerung. Die deutsch-brasilianische Entwicklungszusammenarbeit versucht daher, Küstengemeinden an der Planung zu beteiligen. Diskussionen mit Sozioökonomen und Studenten der Universität in Bragança haben in Jonos Gemeinde bereits Tradition.
Nach dem Sonnenuntergang treffen sich die Dorfsenioren, Fischer, Hausfrauen und neugierige Jugendliche im Gemeindezentrum. Da der Dorfalltag wenig Abwechslung bietet, sind solche Veranstaltungen willkommen. Probleme werden vorgebracht und Lösungsvorschläge gesammelt. An diesem Abend regt man sich über die Externen auf, Fischer aus anderen Ortschaften, die auch die hiesigen Fanggebiete nutzen. Sie setzen oft zu feinmaschige Netze ein, was den Beifang erhöht. Die Dorfbewohner fordern Kontrollen, ein paar sogar Strafen.
Jonos Gemeinde weiß den Wert einer zukunftsfähigen Nutzung der Mangrovenressourcen zu schätzen. Sein Onkel Elias versucht, in eines der beratenden Gremien aufgenommen zu werden, die sich mit Fragen der zukunftssichernden Entwicklung befassen. Sie setzen sich aus Vertretern der Bevölkerung sowie aus Abgesandten von Behörden und nichtstaatlichen Organisationen (NGOs) zusammen. Ziel ist es, mit gemeinschaftsbasierten Konzepten die lokalen Konflikte zu lösen.
Die Politiker müssen jedoch noch einiges tun, damit die ausgedehnten von den Gezeiten überfluteten Wälder Nordbrasiliens auch weiterhin ihren Bewohnern das Überleben sichern und vielleicht sogar ein besseres Leben bieten können. Immer wieder kritisiert die Bevölkerung, dass die Politik und ihre Abgesandten zu sehr unter dem Einfluss von Großunternehmern handeln. Sie wünschen sich unabhängige, verantwortungsvolle Politiker, die nicht nur das Geld, sondern auch die Einsicht und den Mut aufbringen, Aufgaben und Verantwortung dezentralen Entscheidungsorganen zu überlassen.
aus: der überblick 02/2004, Seite 42
AUTOR(EN):
Susanne Eickhoff und Uwe Krumme:
Susanne Eickhoff und Uwe Krumme sind Mitarbeiter am Zentrum für Marine Tropenökologie (ZMT) in Bremen.