Viele Indonesier fordern eine Aufarbeitung aller Verbrechen unter Suhartos Regime
Die Menschen kommen aus allen Landesteilen, einzeln oder in Gruppen, aber
immer mit dem einen Anliegen: Die indonesische Menschenrechtskommission in der
Hauptstadt Jakarta soll ermitteln und aufklären.
Es geht um viele Arten
von Unrecht aus der Vergangenheit und in vielen Fällen auch um
Menschenrechtsverletzungen und Gewalttaten an der Zivilbevölkerung des
Inselarchipels, die heute begangen werden – knapp ein Jahr nach den ersten
demokratischen Parlamentswahlen seit 1955 und ein halbes Jahr nach dem Antritt
einer relativ demokratisch gewählten neuen Regierung unter
Staatspräsident Abdurrahman Wahid. Es geht um Einschüchterung und
Bedrohung, Entführung und Verschwindenlassen, um Enteignung und
Vertreibung, um Verfolgung aus religiösen oder ethnischen Gründen, um
Vergewaltigung, Folter und Mord.
von Brigitte Voykowitsch
"Die Erwartungen sind enorm hoch, sie überfordern bei weitem unsere Möglichkeiten", sagt der neue Generalsekretär der Kommission, Asmara Nababan. "Aceh, West-Papua, Kalimantan, die Molukken und und und...", zählt er die Namen einiger Regionen auf, in denen es wegen krasser Menschenrechtsverletzungen und akuter Konflikte gefährlich gärt. Mit ihren 20 Mitgliedern und einem Budget von weniger als 300.000 US-Dollar pro Jahr kann sich die Kommission gar nicht aller Fälle annehmen. "Wir fühlen uns häufig völlig hilflos", gibt Nababan zu und ergänzt sofort: "Aber es geht auch nicht an, dass wir den Menschen einfach sagen, sie mögen doch die Vergangenheit vergessen. Es muss Tribunale geben für Osttimor, für Aceh und für einige andere Fälle und darüber hinaus eine Wahrheitskommission mit einem ganz klaren Mandat zur Vergangenheitsbewältigung."
Während der 32-jährigen autokratischen Herrschaft von Suharto, der auf internationalen Druck und nach wochenlangen Studentenprotesten am 21. Mai 1998 zurückgetreten ist und damit einen Neuanfang ermöglicht hat, waren die Menschenrechte ständig verletzt worden. Es sei unmöglich, nun jeden einzelnen Fall zu untersuchen, meint Nababan. Darum solle es in einer Wahrheitskommission, falls diese zustande kommt, auch gar nicht gehen. Entscheidend sei vielmehr, Muster und Systematik dieser Menschenrechtsverletzungen aufzuzeigen und zu analysieren. Denn nur aufgrund dieses Wissens könne man dann "die entsprechenden institutionellen und politischen Veränderungen vollziehen, um in der Zukunft derartige Übergriffe zu verhindern."
Doch ist Indonesien, besser gesagt: Sind seine Machthaber, zu denen weiterhin auch das Militär zählt, bereit zu dieser Auseinandersetzung? Und wo müsste sie zeitlich ansetzen? Dort, wo alles seinen Anfang nahm, meinen manche Aktivisten. Also 1965/66, beim Ende der Regierung unter dem Staatsgründer Sukarno und beim Beginn des Regimes Suharto. Selbst in der Menschenrechtskommission aber, gesteht Nababan ein, haben einige Zweifel, ob man schon jetzt so weit zurückgehen könne, ob die damaligen Ereignisse nicht viel zu heikel seien und man vorerst besser die Hände davon lassen solle. Ganz abgesehen von der Frage, ob Dokumente dazu verfügbar sind und 35 Jahre danach noch Beweismaterial gesammelt werden kann.
Auch heute sind lediglich einige Tatsachen, nicht aber die wirklichen Hintergründe der Vorfälle des 30. September und 1. Oktober 1965 geklärt. Sicher ist: Für die Entführung von sechs Generälen und einem Leutnant am Abend des 30. September und ihre Ermordung in der darauffolgenden Nacht war eine Gruppe linker Offiziere verantwortlich. Sie wollten nach eigenen Angaben einem geplanten Coup von Seiten eines "Rats der Generäle" gegen Staatschef Sukarno zuvorkommen. Für die Existenz dieses Rates gibt es nach Ansicht internationaler Experten kaum Beweise. Auch der Vorwurf, die kommunistische Partei (PKI) habe hinter der Gewalttat gestanden, lässt sich vorerst nicht hinreichend untermauern.
Der "Putsch" war binnen 30 Stunden vorüber. Die Armee unter Suharto aber sollte ihn zum Anlass für die schrittweise Entmachtung Sukarnos im folgenden Jahr nehmen. Und im gesamten Land setzte eine brutale Verfolgung echter und vermeintlicher Angehöriger der PKI ein. Rund 500.000 Menschen – manche Schätzungen gehen bis zu einer Million – wurden in der damaligen Hetzjagd getötet. Hunderttausende wurden verhaftet und einige, wie der Schriftsteller Pramoedya Ananta Toer, mehr als ein Jahrzehnt ohne offizielle Anklage und ohne Prozess festgehalten oder in Straflager auf entlegene Inseln verbannt.
Als hauptverantwortlich für die Massaker gilt das indonesische Militär, auch wenn dessen genaue Rolle – Sanktionierung der Gewalt, Lieferung von Waffen oder direkte Beteiligung – noch nicht geklärt ist. Auch muslimische Gruppen machten sich in einer Art heiligen Kriegs ungezählter Gräueltaten schuldig. Die PKI wurde noch 1966 von Suharto verboten. "Kommunist" wurde unter seinem Regime zum Stigma, mit dem jeder Missliebige belegt und damit für Diskriminierung und Verfolgung freigegeben werden konnte.
Und heute, knapp zwei Jahre nach dem Ende der Ära Suharto? Staatspräsident Abdurrahman Wahid oder Gus Dur, wie er allgemein genannt wird, sieht die Zeit für einen Neuanfang gekommen. Schon im Interesse von Demokratie und Menschenrechten müsse mit den alten Tabus gebrochen werden, hat er in den vergangenen Monaten unermüdlich wiederholt. Doch er hat heftige Kritik geerntet, weil er sich für die Beteiligung der radikalen Jugendfraktion von Nahdtlatul Ulama an der Kommunistenjagd 1965-66 entschuldigt hat. Wahid hat die Nahdtlatul Ulama, die mit rund 40 Millionen Mitgliedern größte muslimische Organisation des Landes, von Mitte der achtziger Jahre bis 1999 geleitet.
Erst recht zeigen die heftigen Reaktionen auf seinen Vorschlag, das Kommunismusverbot aufzuheben, wie heikel dieses Thema weiterhin ist. Vertreter muslimischer Organisationen protestierten: Die kommunistische Ideologie sei unvereinbar mit der indonesischen Staatsideologie, zu der auch der Glaube an einen Gott zählt und laut der sich jeder Bürger zu einer von fünf zugelassenen Konfessionen bekennen muss. Kommunismus sei gleichzusetzen mit Atheismus und daher eine Gefahr für den Islam, zu dem sich mehr als 90 Prozent der 210 Millionen Indonesier bekennen, warfen andere ein. Der Vorsitzende der kleinen Partei für Einheit und Gerechtigkeit, der pensionierte General Edi Sudrajat, warnte davor, dass eine Aufhebung des Kommunismusverbots "von manchen Leuten dahingehend interpretiert werden könnte, dass die PKI-Rebellion 1965 rechtens, die darauffolgenden Schritte gegen die PKI hingegen unrechtmäßig gewesen seien". Auf einem Transparent bei einer der zahlreichen Kundgebungen gegen die Aufhebung des Kommunismusverbots hieß es knapp: "Eine Entschuldigung an die PKI kommt einer Billigung der Morde an den Generälen 1965 gleich."
Weitgehende Unterstützung erhielt Gus Dur lediglich für die Abschaffung jenes Dekrets aus der Suharto-Ära, das Verwandte und Nachkommen von vermeintlichen Kommunisten wichtiger politischer und bürgerlicher Rechte beraubte. Seine Verweise auf die Verfassung von 1945, die jedem Indonesier die freie Wahl einer Ideologie zugesteht, stießen dagegen auf taube Ohren oder schlichte Ablehnung. Ein Teil der Parlamentarier, darunter Abgeordnete der sogenannten Zentralachse – einer Gruppe muslimischer Parteien, die im vorigen Oktober die Wahl Wahids zum Staatspräsidenten gesichert hatten – ging sogar so weit, wegen Wahids vermeintlicher Verantwortungslosigkeit ein Amtsenthebungsverfahren in Erwägung zu ziehen. Dieser Plan wurde dann wieder fallen gelassen. Wahid seinerseits betonte, er habe lediglich eine Debatte anregen wollen, die Entscheidung obliege ohnedies einzig der Konsultativen Volksversammlung, dem höchsten Legislativorgan. Es soll im August zu seiner nächsten Sitzung zusammentreten und wird laut Parlamentssprecher Akbar Tandjung sicherlich nicht die Aufhebung des Kommunismusverbots beschließen.
Immer wieder fällt in der Diskussion der Begriff Trauma, wenn auch die Interpretationen auseinander gehen. So betonte der pensionierte General und ehemalige indonesische Botschafter in den USA, Hasnan Habib, dass die Indonesier durch den fehlgeschlagenen Putsch von 1965 noch heute traumatisiert seien; es sei zu früh für eine Aufarbeitung dieses Geschichtskapitels. Damit würden nur alte Wunden erneut zum Bluten gebracht. Aus Historikerkreisen hieß es dagegen, nicht der Putsch, der vermutlich in erster Linie eine rein innermilitärische Kontroverse gewesen sei, sondern vielmehr die Ereignisse, die diesem folgten, hätten die Menschen traumatisiert.
Kann Indonesien zunächst eine erfolgreiche Demokratisierung vollziehen und sich dann, als gefestigte Demokratie, vielleicht einmal an die Aufarbeitung der Ereignisse von 1965-66 wagen, wie General Habib es befürwortet? Oder ist diese Aufarbeitung vielmehr einer jener Grundsteine, ohne die das Land den Übergang zu einem voll demokratischen System nicht schaffen wird? In die Debatte darüber mischen sich auch jene Stimmen, die zunächst für die Lösung der ihrer Ansicht nach vordringlichen Probleme plädieren. Dies wären neben der Wirtschaftskrise mit ihren dramatischen sozialen Folgen und den ethnisch-religiösen Konflikten in mehreren Landesteilen drei Ansätze zur Vergangenheitsbewältigung: die Klärung der Korruptionsvorwürfe gegen den früheren Staatschef Suharto, dessen Familie sich während seiner Amtszeit um zweistellige Milliarden-Dollar-Beträge bereichert haben soll, sowie die Errichtung von Tribunalen für Osttimor und für Aceh.
Schon wird Staatsanwalt Marzuki Darusman, der frühere Vorsitzende der Menschenrechtskommission, scharf von Aktivisten kritisiert, die ihm zu zögerliches und unentschlossenes Vorgehen vorwerfen. Die Aufarbeitung – und Beendigung – der Menschenrechtsverletzungen zumal in Aceh und Irian Jaya, das nun wieder in Papua umbenannt worden ist, dränge schon wegen der dortigen Unabhängigkeitsbestrebungen. Ordentliche Gerichtsverfahren gegen Militärangehörige wegen Morden, Entführungen und Folter politischer Aktivisten seien die Voraussetzung, ohne die sinnvolle Verhandlungen über den Verbleib dieser Regionen bei Indonesien unmöglich wären, heißt es.
Tausende Tote hat das im Nordwesten der Insel Sumatra gelegene Aceh zu beklagen, seit eine kleine Gruppe von Rebellen dort vor 23 Jahren erstmals die Unabhängigkeit erklärt hat. Auf die zumal in den achtziger Jahren zunehmenden separatistischen Tendenzen reagierte die indonesische Regierung mit roher Gewalt. Auch heute, zwei Jahre nach Aufhebung des Ausnahmezustands in Aceh, vergehen sich die dort stationierten Armeeeinheiten ständig an der Zivilbevölkerung.
So wurden bei einem Massaker in West-Aceh vorigen Sommer in einer islamischen Schule der Lehrer Tengku Bantaqiah sowie mehr als 50 weitere Personen – Studenten und Familienangehörige – von Militärs getötet. Acht Monate danach begann im April ein Prozess, der schon wegen seines gemischten zivil-militärischen Richtergremiums äußerst umstritten ist. Während der Hauptverdächtige Leutnant Sudjono seit November unter ungeklärten Umständen als verschollen gilt, stehen 25 Soldaten niederen Ranges vor Gericht. Damit werde weder die Befehlskette geklärt noch könne man so dem Problem der systematischen Menschenrechtsverletzungen in Aceh beikommen, kritisieren indonesische Gruppen und die in New York ansässige Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch. Sie fordert nationale und nur von zivilen Richtern besetzte Gerichte, die ausdrücklich für alle vergangenen Menschenrechtsverletzungen zuständig sein müssten, ob sie nun in Aceh, Osttimor oder anderswo im Inselarchipel begangen worden seien. Ein entsprechendes Gesetz mit Rückwirkungsklausel war zum Zeitpunkt des Prozesses in Aceh erst in Ausarbeitung. "Auf dieses Gesetz", sagt Asmara Nababan, "hätte man warten müssen."
Langes Warten kann sich das Land freilich nicht mehr leisten – wegen des einheimischen wie auch des internationalen Druckes. UN-Generalsekretär Kofi Annan war bei seinem Besuch in Indonesien im Frühjahr bereit, vorerst nicht auf ein internationales Tribunal für Osttimor zu drängen – im Vertrauen darauf, dass Jakarta selbst in Kürze ein mit entsprechenden Kompetenzen ausgestattetes, ernst zu nehmendes Tribunal einrichten werde. Sowohl eine von den UN eingesetzte wie eine einheimische Kommission hatten zuvor übereinstimmend führende Militärs, darunter auch den damaligen Armeechef General Wiranto, für die Gräueltaten nach dem Unabhängigkeitsvotum der Osttimoresen im vorigen Herbst verantwortlich gemacht. Tausende Bewohner der 1975 von Jakarta überfallenen und später annektierten ehemaligen portugiesischen Kolonie waren nach der Abstimmung von Milizen getötet, Hunderttausende in die Berge oder in das benachbarte, zu Indonesien gehörige Westtimor vertrieben und dort neuer Gewalt ausgesetzt worden.
"Ob und wie wir die Tribunale abhalten, wird zeigen: Sind wir heute anders als früher?", sagt ein Mitarbeiter des Zentrums für Strategische und Internationale Studien in Jakarta. Doch noch hat das Militär den zugesagten Rückzug aus der Politik nicht vollzogen, noch hat es seine reservierten Sitze im Parlament inne und seine Truppen in allen Landesteilen stationiert. Und derjenige, der ihm lange diese staatstragende Rolle sicherte, Ex-Staatschef Suharto, will sich wegen seiner angeschlagenen Gesundheit einem Prozess entziehen. Generalstaatsanwalt Marzuki hat Vorladungen geschickt; weil Suharto ihnen aus Krankheitsgründen nicht gefolgt ist, hat Marzuki seine Ermittler zu Suharto nach Hause geschickt, dort Unterlagen beschlag-nahmen und einige seiner Kinder verhören lassen.
Suharto, Aceh, Osttimor – "nur wenn wir diese – und noch viele andere – Fälle aufarbeiten, ist ein Neuanfang möglich", sagt Marzuki. Schon vor ihm hatte der Dichter und Publizist Goenavan Mohamad prophezeit: "Wenn Suharto geht, wird in Indonesien alles neu erfunden werden müssen." Auch der Rechtsstaat, auch die Bewältigung der Vergangenheit.
aus: der überblick 02/2000, Seite 69
AUTOR(EN):
Brigitte Voykowitsch:
Brigitte Voykowitsch ist freie Journalistin mit dem Themenschwerpunkt Asien und lebt in Wien.