Helfershelfer im Hintergrund
Mit Versprechen, zum Beispiel eines Internat-Stipendiums, werden sie angelockt, junge Mädchen aus verarmten Familien Osteuropas. In die Fänge von Frauenhändler geraten, werden sie wie Frischfleisch gehandelt und an Zuhälter in ganz Westeuropa verkauft. Sie werden mit Gewalt und Drohungen am Fortlaufen gehindert. Der Umsatz der kriminellen Menschenhändler ist inzwischen so hoch, wie der im internationalen Drogenhandel. Doch das alles ist nur möglich, weil viele "Freier", Diplomaten, Verwaltungsbeamte und Polizisten wegschauen oder sogar von dem Geschäft profitieren.
von Johannes von Dohnanyi
Die Regeln, die die Polizei vor dem Besuch in dem privaten Frauenhaus in einer norditalienischen Kleinstadt festgelegt hat, sind ebenso simpel wie eindeutig. Das Mädchen, das dem Treffen zugestimmt hat, wird Sonja heißen. Der richtige Name ist uninteressant. Dem ersten Polizeifoto zufolge etwa achtzehn Jahre alt, obwohl - ein zweites Foto ohne Schminke und in Jeans und T-Shirt wird über den Tisch geschoben - "es rein hypothetisch wohl nicht falsch wäre, sie als kaum Fünfzehnjährige zu beschreiben". Für den Besucher soll Sonja aus der Ukraine nach Westeuropa gekommen sein, obwohl sie in Wahrheit aus einem anderen Land stammt. Nichts ist erlaubt, was zu ihrer Identifizierung führen könnte. Keine Fotos, keine Tonbandaufzeichnung. Noch nicht einmal die Stadt, wo sie bis zu dem Prozess untergebracht wurde, darf genannt werden. "Sonja riskiert mit ihrem Mut ihr eigenes und das Leben ihrer Familie zu Hause", sagt eine der Polizistinnen, die das Mädchen rund um die Uhr bewachen. "Wir werden alles tun, damit ihr nichts geschieht."
Ein blasses Kindergesicht unter dem kurzen Pagenschnitt. Kleine Himmelfahrtsnase, volle Lippen und eine kleine Lücke zwischen den Schneidezähnen. Jedermanns Tochter von nebenan. Nervöses Kichern und unruhige Hände mit langen Fingern, die sich bei jedem Satz verknoten. Ein um viele Nummern zu großer Pulli, ein Geschenk von ihrer Lieblingspolizistin.
Dritte und jüngste Tochter eines Fabrikarbeiters und einer Verkäuferin. Der Vater arbeitslos, seit der Betrieb nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Regimes dicht machte. Das magere Einkommen der Mutter kaum ausreichend, die Familie durchzubringen. Die Träume vom Abitur und später vielleicht sogar einem Medizinstudium geplatzt. Wenn da nicht eines Tages Mischa aufgetaucht wäre.
Ein so lustiger junger Mann, sagt Sonja bis heute immer wieder über jenen Mischaden sie zuerst an einem dieser wintertrüben Tage sah, an denen die Luft in ihrer Stadt nach dem Schwefel der Kohleheizungen stinkt und der graue Himmel ganz dicht über dem Kopf zu liegen scheint. Mischa lud sie zu einer Cola ein, brachte sie nach Hause, kam am nächsten Tag wieder. Und nach einer Woche kam er mit dem Prospekt eines Mädchen-Internats in der Schweiz, das Stipendienplätze für mittellose Töchter des ehemaligen Sowjetreiches anbiete. Das Formular auszufüllen dauerte wenige Minuten. Mischa sagte, er kenne da jemanden, der alles organisieren könne. Ganz wenig Geld verlange der nur. Und wenn die Familie jetzt nichts habe, könne die Schuld später immer noch abgestottert werden.
Das Stipendium wurde gewährt, der einzige alte Koffer der Familie sorgfältig gepackt. Mischa würde sie im Bus bis Istanbul begleiten. Von dort weiter mit dem Flugzeug nach Genf. Sonja kramte den Schulatlas raus und suchte, bis sie den fremden Ort gefunden hatte. Drei Jahre bis zum Abitur. Alles bezahlt. Die Zukunft gerettet.
Nur dass dann in Istanbul kein Flugticket bereit lag. Dass Mischa "zufällig" einen Freund traf, der Sonja im Bus bis nach Pristina im Kosovo begleiten würde, von wo aus sie dann in die Schweiz weiterfahren würde. Nur dass sie in Pristina dann in ein Auto gesetzt und in ein abgelegenes Haus vor der Stadt gebracht wurde, wo schon andere Mädchen waren. Und dass der Freund von Mischa ihr den Pass und das wenige Reisegeld wegnahm und dann vor allen erklärte, was wirklich Sache war: Sonja sei seit ihrem Treffen in Istanbul allein sein Eigentum, die Schule in der Schweiz gebe es nicht, und bevor sie wieder an zu Hause denken könne, müsse sie erst seine bisherigen "Auslagen" zurückzahlen. Und bei ihm gebe es für junge Frauen nur eine Arbeit: "Die im Kosovo stationierten Nato-Soldaten sind einsam. Ihr müsst sie trösten." Wer nicht spure, werde bestraft. Sonja sah, dass die anderen Mädchen sehr genau wussten, was das bedeutete.
Bisher hat Sonja lebhaft erzählt, bei der Erinnerung an die Anfänge einige Male sogar gelächelt. Jetzt wird ihre Stimme monoton, die Augen wenden sich vom Besucher ab und starren ins Leere. Wie ein Roboter, bar jeder Emotion, spult sie die Erinnerung an die folgenden Monate ab, in denen, das betont sie noch mit einem leichten gleichgültigen Schulterzucken, ihre Familie sie wohl behütet in einem schweizer Internat glaubte.
Mehr als drei Monate blieb Sonja in dem Haus bei Pristina. Tagsüber kamen die Kosovaren. Danach, bis in die späte Nacht, waren die Kunden meist junge Nato-Soldaten, die an dem Alter ihrer "Liebesdienerinnen" nichts auszusetzen hatten. Einmal, erinnert sich Sonja, habe eines der Mädchen "ihren" Soldaten um Hilfe gebeten. Der habe abgewinkt. Wenn er das Kinderbordell gemeldet hätte, wären er selbst und seine Freunde in Schwierigkeiten gekommen. Der Besitzer des Bordells erfuhr von der Bitte. Seine Männer, sagt Sonja, hätten ihre Freundin halb totgeschlagen. Das war auch für sie das Ende jedes Gedankens an Widerstand.
Dann, eines Morgens, wurden die Mädchen in den Salon gerufen. Vier Männer begutachteten die jungen Körper mit dem professionellen Interesse, mit dem ein Schlachter ein Kalb anschaut, und wählten sich die beiden besten "Stücke" aus. Für Sonja und Irma legten sie einen Packen Geldscheine auf den Tisch. Fünf Minuten hatten die beiden, um ihre Habseligkeiten zu holen. Dann ging es aus dem Kosovo über die von der internationalen Polizei kontrollierte Grenze nach Albanien und weiter in den Süden nach Vlora, wo die Mädchen im Abendlicht auf dem Strand erneut den Besitzer wechselten. Noch in der selben Nacht in einem der schnellen Schmuggelboote über die Adria. Für Tage in einer Zweizimmerwohnung in der Altstadt von Bari gefangen gehalten, bis die albanischen Mädchenhändler genug "frische Ware" für eine neue Auktion beisammen hatten. Von Frrok, einem immer mit seinem Messer spielenden Albaner gekauft. Gleich in der ersten Nacht von dem neuen Besitzer und seinen Freunden zuerst vergewaltigt und dann zusammengeschlagen: "Damit Du nicht vergisst, wer hier der Herr ist."
Im fensterlosen Frachtraum eines Lieferwagens für Frrok nach Mailand gebracht. Unterwegs vom Fahrer missbraucht - "mein Trinkgeld!" - und nebenbei die ersten italienischen Vokabeln des Metiers gelernt. "Fati scopare!" (Lass Dich ficken). Zusammen mit sieben anderen Mädchen in ein Vierbettzimmer in einer Hinterhof-Wohnung gesperrt: zwei aus Russland, eine Lettin, eine Rumänin und drei Albanerinnen. Alle minderjährig. Anschaffen im Schichtdienst: vier tagsüber, die anderen in der Nacht. Verlangter Mindestverdienst auf dem Baby-Straßenstrich der lombardischen Metropole: 750 Euro pro Tag. Sonst wahlweise Überstunden oder die Peitsche.
Und dann eines Tages eben doch ein Wunder. Ein pensionierter Polizist sieht die Kleine am Straßenrand, hält ohne nachzudenken an, zieht sie in den Wagen und fährt direkt zum Mailänder Polizeipräsidium. Er kennt den Leiter der Sonderkommission Prostitution, der Sonja überredet, nicht nur ihre Adresse, sondern auch den Namen ihres Zuhälters preiszugeben.
Noch am gleichen Abend der Polizeieinsatz. Frrok und seine Bande werden verhaftet. Alle acht Mädchen in Freiheit. Als Lohn für ihre Aussage winkt eine reguläre Aufenthaltsbewilligung in Italien. Sonja glaubt nicht, dass sie bleiben wird. Aber wohin dann? Nach Hause, nach all dem, was sie erlebt hat? Ihre Familie, so glaubt sie, würde sich zu Tode schämen. "Wir finden eine Lösung", sagt die Polizistin und streicht dem weinenden Mädchen übers Haar. Was Sonja in diesem Augenblick nicht sieht, ist der Blick der Beamtin: Der macht keine großen Hoffnungen. Für Mitte 2002 wird der Prozess angesetzt. Entführung, Vergewaltigung, Freiheitsberaubung, Menschenhandel und Anstiftung zur Prostitution lauten die Vorwürfe. Höchststrafe nach italienischem Recht: lebenslänglich. Die hat aber, sagt ein Polizist, der schon lange aufgehört hat, sich darüber zu wundern, warum er und seine Leute keinen Einsatzbefehl zur definitiven Ausräucherung des Mailänder Babystrichs und zur Verhaftung der Zuhälter und Menschenhändler bekommen, "die hat aber noch nie einer bekommen."
Sonjas Geschichte spielt nur zufällig zwischen Osteuropa und dem Norden Italiens. Sie hätte genauso gut in Hamburg, München, Paris oder Wien stattfinden können. Und sie ist nur die sichtbare Spitze eines alltäglichen Verbrechens, das sich längs der Ausfallstraßen der Städte, in Nachtbars und in zu Bordellen umfunktionierten Privatwohnungen relativ unbehelligt vor aller Augen abspielt. Eine Verbrechensmaschinerie, die nahezu perfekt funktioniert, weil sich die Gesellschaft mit dem ältesten Gewerbe der Welt abgefunden hat, es gar als soziales Ventil betrachtet und kaum einmal einen Gedanken an die Realität der Gewalt und der permanenten Erniedrigung verschwendet, die sich hinter der einladend jugendlichen Fassade von Schminke und Minirock verbirgt.
Wirtschaftliche Unterentwicklung, Elend und Krieg in weiten Teilen der Dritten Welt sorgen dafür, dass die Zahl derer, die in den industrialisierten Regionen Zuflucht suchen, stetig anschwillt. Je intensiver die reichen Staaten sich gegen diesen Menschenstrom abzuschirmen suchen, um so besser laufen die Geschäfte des Organisierten Verbrechens. Die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) in Genf etwa schätzt, dass die "Crime International Inc." an dem illegalen Transport von Menschen und der Ausbeutung ihrer Not heute mehr als am Drogengeschäft verdient. Und dessen Umsatz wird von der Anti-Drogenorganisation der Vereinten Nationen in Wien auf 400 bis 500 Milliarden US-Dollar pro Jahr geschätzt.
Die in den gutbürgerlichen Salons so gern und engagiert geführte Debatte über die Menschenrechte ist somit vor allem Heuchelei. Sie übergeht geflissentlich, dass die außerhalb der kleinen Wohlstandsinseln herrschenden Bedingungen zu Beginn des Dritten Jahrtausends die Zahl der Sklaven weltweit wieder wachsen lassen. Und wenn ein Wort verloren wird, dann eher über die Tatsache, dass es bis heute Staaten in Afrika gibt, in denen der juristische Besitz an einem anderen Menschen sogar von der Verfassung anerkannt ist, als darüber, dass die Zahl derer, die in haftartiger Abhängigkeit gehalten werden, vor allem in den reichen Industriestaaten ansteigt. Fast schon paradiesisch erscheint das Schicksal von Millionen von illegalen Einwanderern, die in ungesunden Hinterhoffabriken ein Vielfaches ihrer oft überteuerten Reisekosten abarbeiten müssen, wenn man es mit dem Los der Kinder vergleicht, die von Verbrecherbanden entführt, über die Grenze geschafft und dann in eigens eingerichteten Lagern zur Prostitution oder zum Betteln abgerichtet werden. Und dann sind da eben auch noch die Mädchen und Frauen, die vom Organisierten Verbrechen in den Sexmarkt gezwungen werden.
Das Geschäft mit dem Sex folgt nicht nur Moden, sondern vor allem dem Angebot des Marktes. Weitgehend verschwunden aus der europäischen Billigsex-Szene sind heute die Thailänderinnen und die Philippinas. Geblieben ist der zumeist von Nigeria aus organisierte Handel mit Frauen aus Westafrika. Im afrikanischen Marktsegment sind die Männer entweder Kunden oder die Handlanger fürs Grobe. Das Geschäft, also den Handel und die sexuelle Ausbeutung schwarzer Frauen kontrollieren schwarze Frauen. Immer wieder stoßen die Fahnder auf Voodoo-Praktiken und schwarze Magie, mit denen die in die Prostitution gezwungenen Frauen nicht nur in physischer, sondern vor allem in psychischer Abhängigkeit gehalten werden. Eine verbrannte Stirnlocke, die Scherbe eines Spiegels, eine ins Herz einer Stoffpuppe gebohrte Nadel und die Drohung mit ewiger Verfluchung auch für die Angehörigen zu Hause sind meist ausreichend. Wenn eine in Sklaverei gehaltene Frau dann noch nicht kuscht, wird der Familie in der Heimat ein Besuch abgestattet und die dort angewendete Gewalt mit Fotos dokumentiert. "Natürlich spreche ich mit Ihnen", sagte eine Prostituierte namens Grace von der Elfenbeinküste, nachdem sie von der Polizei in Nizza aufgegriffen worden war. "Ich habe nichts mehr zu verlieren, seit die Organisation meinen einzigen Sohn ermordet hat."
Eine neue und in diesen Ausmaßen nie dagewesene Zahl an Prostituierten erreichte Europa aber in den Jahren nach dem Zusammenbruch der Berliner Mauer. Aus der ehemaligen Sowjetunion und den kommunistischen Satellitenstaaten machte sich ein ganzes Heer zu allem bereiter junger Frauen auf. Auch in diesem Fall waren die Gründe nur allzu leicht zu identifizieren. Materielle Not erzeugt Illegalität. Mit Illegalität lässt sich gut Geld verdienen. Und wie immer, wenn viel Geld im Spiel ist, war auch in diesem Fall die Organisierte Kriminalität zur Stelle.
Der Menschenhandel funktioniert nach dem Muster multinationaler Unternehmen. Es geht, um in der kalten zynischen Sprache der Geschäftswelt zu bleiben, um die Suche nach billiger Ware, die den momentanen Bedürfnissen des Marktes zu entsprechen hat. "Die Dunkelhaarigen gehen nicht mehr richtig. Für die Badesaison brauchen wir Blondinen, etwa 1,75 Meter groß, schlank und vollbusig." Diese unauffällig zwischen Dokument eines legalen Handels mit Schlachtfleisch und Würsten gemischte Bestellung entdeckte die italienische Polizei im Frühling 2001 zufällig in der geschäftlichen E-mail eines Albaners an seine Lieferanten in Russland. Dort gingen lokale Späher auf die Suche nach geeigneten Opfern. Das Ergebnis der Recherche wurde dann an den lokalen Verbindungsmann der Organisation gemeldet. Der handelte mit dem Auftraggeber in Westeuropa nicht nur den Kaufpreis, sondern auch die Transportmodalitäten und die Spesen für den oder die Begleiter aus. Erst wenn der administrative Teil erledigt war, traten die Beschaffungs-Einheiten in Aktion. Etwa 800 junge Frauen, so die Schätzung der italienischen Ermittler, seien von dieser Organisation allein in knapp einem Jahr illegal über die Grenzen nach Westeuropa geschleust worden. Bei einem Tagesumsatz je Prostituierte von durchschnittlich 500 Euro und gleichzeitig sehr geringen Kosten machte die vierköpfige Bande allein mit der Prostitution einen Monatsgewinn von fast 350.000 Euro.
Die politische und vor allem militärische Krise der vergangenen zehn Jahre auf dem Balkan hat vor allem eines bewirkt: das Organisierte Verbrechen hat überall in der Region festen Fuß gefasst. Die eigentlichen Kriegsgewinnler aber sind die Kosovaren und die albanische Mafia, die eng mit ihren Schwesterorganisationen im Süden Italiens kooperiert. Zigaretten und Waffen werden vor allem über Kroatien, Serbien und Montenegro gehandelt. Die Albaner haben sich neben dem lukrativen Waffengeschäft auf Drogen- und Menschenhandel spezialisiert. Das Kosovo stehe trotz der Anwesenheit mehrerer zehntausend internationaler Soldaten unter dem Oberkommando der Nato kurz davor, "zu einem europäischen Kolumbien zu verkommen", warnte Italiens oberster Mafiajäger Pierluigi Vigna schon unmittelbar nach dem Krieg um die serbische Provinz. Ähnliches ist in der Vergangenheit immer wieder auch über Albanien gesagt worden. Prinzipiell gilt unter den Ermittlern, dass das albanische Verbrechen vor so gut wie keiner Brutalität zurückschreckt.
Der Krieg in Bosnien war nach dem Kriegseinsatz des Westens im Dezember 1995 mit den Friedensverträgen von Dayton zu Ende gegangen. Schon bald zündelte der serbische Diktator Slobodan Milosevic an einem neuen Konflikt. Diesmal war das Kosovo an der Reihe. Die ersten muslimischen Kosovaren machten sich auf die Flucht vor der serbischen Repression. Zu Tausenden kamen sie über die Grenze nach Albanien, wo sie von der Internationalen Gemeinschaft in eilig angelegten Flüchtlingslagern und später auch unter dem Dach von Privatfamilien versorgt wurden.
Wer keine Rücksicht auf das harte Los der kosovarischen Vertriebenen nahm, war das organisierte albanische Verbrechen. Für die skipetarische Mafia war das Unglück auf der anderen Seite der Grenze vor allem die Chance auf neue lukrative Geschäfte. Es dauerte nicht lange, und bei den mit westeuropäischem Personal besetzten Lagerleitungen gingen die ersten beunruhigenden Meldungen ein. Immer mehr junge Frauen verschwanden spurlos aus den Lagern. Die Gerüchte wollten von nächtlichen Transporten nach Norden über die Grenze nach Bosnien-Herzegowina wissen. Als sich das Oberkommando der internationalen Polizei in Sarajevo entschloss, diesen Gerüchten nachzugehen, übertraf die Realität einmal mehr jede Fantasie. Die muslimischen Albaner hatten muslimische Frauen der albanischen Kosovaren geraubt, "die Besten" zum Anschaffen über die Adria nach Westeuropa geschickt und den "Ausschuss" ausgerechnet an serbische Bordellbesitzer in der bosnischen Teilrepublik Srpska verkauft.
Ein von außen unscheinbares Haus war der internationalen Polizeitruppe als illegales Bordell gemeldet worden. Auffällig war allein die große Zahl von Autos, die vor dem unverputzten Gebäude an der nicht befestigten Straße beobachtet worden war. Als die Polizei nach tagelanger Observation das Gebäude stürmte, entdeckten sie in kaum zwei Quadratmeter großen und nur durch einen Vorhang voneinander getrennten Verschlägen vor allem weibliche Flüchtlinge aus dem Kosovo. Nicht eine von ihnen war freiwillig nach Bosnien gekommen. Einer der albanischen Mädchenhändler, der bei der Aktion mit einem Auto voll mit frischer "Ware" überrascht wurde, verstand die Welt nicht mehr. Er habe den Frauen nur einen Gefallen getan, rechtfertigte sich der Verbrecher in aller Seelenruhe: "Schauen Sie sich an, wie hässlich die alle sind, wo sonst als bei mir hätten die in ihrem Leben noch mal eine solche Chance bekommen." Und außerdem seien die serbischen Bordelle nur eine Zwischenstation: "Später verkaufen wir sie über Kroatien und Slowenien weiter nach Westeuropa. Da können sie dann das Geld verdienen, das ihre Familien dringend brauchen."
Ähnlich zynisch würden vermutlich auch all diejenigen argumentieren, ohne deren konkrete Hilfe die Sexhändler aus dem Osten und Südosten Europas nicht so ungestört auf dem Territorium der Union operieren können. Sie brauchen den korrupten Botschaftsangehörigen, der ihnen gegen Bargeld die Einreisegenehmigung ohne die vorgesehenen Kontrollen erteilt. Sie benötigen die Rechtsanwälte, die für das entsprechende Honorar die dreckigen Geschäfte der Zuhälterbanden hinter der Fassade sauberer Kulturvereine tarnen. Sie könnten ihre Organisation nicht ohne die Geldgier von Hausbesitzern betreiben, die genau wissen, an wen und zu welchem Zweck sie ihre Wohnungen zu überhöhten Preisen vermieten. Und vor allem setzen sie auf die fortwährende Unterstützung all der Männer, die im Freundeskreis die ständige Verletzung der Menschenrechte rund um die Welt beklagen und die auf dem Weg von der Arbeit an den heimischen Herd dann noch schnell einen entspannenden Zwischenstopp bei einem der Mädchen am Straßenrand einlegen.
Die einen, die ihr Geld mit der brutalen sexuellen Ausbeutung wehrloser Frauen machen, sind gut organisierte Verbrecher. Die anderen - ob es ihnen gefällt oder nicht - sind die Helfershelfer der modernen Sklavenhändler.
aus: der überblick 01/2002, Seite 58
AUTOR(EN):
Johannes von Dohnanyi:
Johannes von Dohnanyi ist Korrespondent der Züricher Wochenzeitung "Die Weltwoche" für Italien und den Balkan.