Wann Nachrichten Wert haben
Täglich bieten die Auslandskorrespondenten Themen für das Publikum zu Hause an. Welche Nachricht tatsächlich einen Platz in den Medien bekommt, entscheidet dabei die Heimatredaktion. Und die hat häufig eine ganz andere Sicht der Dinge.
von Toni Keppeler
Es ist schon über 25 Jahre her, dass ich Volontär in einer kleinen Tageszeitung war und lernte, wie Nachrichten-Seiten zusammengestellt werden. Ein erfahrener Kollege stand mir dabei zur Seite. Er war kurz vor der Rente und über das Jahrzehnte lange Verwalten der Ereignisse zynisch geworden. Spät an einem Abend, kurz bevor im Druckhaus die Rotationsmaschine anlief, gab er mir einen Tipp für Notfälle: "Wenn dir einmal Stoff fehlt, um das letzte Loch auf einer Seite zu füllen, dann lass einfach in Guatemala einen Bus in eine Schlucht stürzen." Er konnte solche Meldungen aus dem Stehgreif formulieren, inklusive aller nötigen Daten. Wenn das Loch etwas größer war, konnte er auch noch das Zitat eines Polizeisprechers erfinden.
Gut zehn Jahre später war ich Korrespondent in Mittelamerika, und tatsächlich stürzen dort häufig Busse in Schluchten. Doch wann immer so etwas passierte und (nicht fiktive, sondern reale) Menschen starben, wollte keine der Redaktionen, für die ich arbeitete, auch nur die kleinste Meldung haben. Busunglücke interessieren in Europa nur, wenn sie in Europa stattfinden oder Europäer dabei sterben. In der Dritten Welt müssen die Katastrophen größer sein: ein Hurrikan, ein Erdbeben oder wenigstens ein Vulkanausbruch. Ich habe solche Katastrophen miterlebt und über sie geschrieben, selbst solche Texte waren nicht immer leicht unterzubringen.
Ich erinnere mich noch gut an den Wirbelsturm Mitch, der Ende Oktober 1998 Zentralamerika mit gewaltigen Regenmassen heimsuchte. Erste Meldungen, die in meinem Büro in San Salvador einliefen, waren noch vage. In Nicaragua, hieß es, habe eine Schlammlawine mehrere Dörfer begraben. Die Zahl der Toten gehe in die Hunderte. Ich versuchte, mehr darüber zu erfahren, rief nicaraguanische Kollegen und die dortige Polizei an und schrieb eine längere Meldung. Sie wurde nicht gedruckt. Am nächsten Tag erklärte mir ein Redakteur, warum: In Göteborg habe es in einer Diskothek gebrannt, mehrere Jugendliche seien ums Leben gekommen. Und weil man nicht zwei schreckliche Meldungen auf der Bunten Seite haben wollte, habe man sich für Göteborg und die Diskothek entschieden. "Das ist näher dran an den Lesern."
Erst in den nächsten Tagen stellte sich das wahre Ausmaß der Hurrikan-Katastrophe heraus: Dass es nicht Hunderte von Toten waren sondern mehr als zehntausend und dass die gesamte Region betroffen war. Die Flughäfen waren in den ersten Tagen wegen des Sturms und der Wassermassen geschlossen. Kein Korrespondent kam ins Katastrophengebiet – außer den wenigen, die wie ich mitten drin wohnten. Fast eine Woche lang war ich der einzige deutschsprachige Journalist vor Ort. Selten habe ich so viel Geld in so wenig Zeit verdient. In meinem Büro riefen Redakteure von Zeitungen, Radiostationen und Fernsehsendern an, die sich noch nie für meine Arbeit interessiert hatten. Und alle wollten sie etwas haben von "ganz nah dran". Am liebsten ein spektakuläres Einzelschicksal, das auf den Punkt bringt, was sich Redakteure in Deutschland unter Zentralamerika vorstellen: Eine Region, die von Bürgerkriegen und Naturkatastrophen geplagt wird. Also zum Beispiel die Geschichte einer Mutter, die die eine Hälfte ihrer Kinderschar im Krieg und die andere beim Wirbelsturm verloren hat. Ich habe so eine Frau gefunden und ihre Geschichte gut verkauft. Als ich ein Jahr später nachfragte, wie es ihr inzwischen gehe, hat sich keine Redaktion mehr für die Geschichte interessiert.
Die Dritte Welt ist in deutschen Medien noch immer für den Mitleidfaktor zuständig. Und dies nicht nur in leichten und bunten Blättern. Auch Redakteure seriöser Zeitschriften bestellen gerne solche Geschichten. Im Fernsehen sieht man immer wieder Reportagen über Menschen, die auf Müllhalden leben. Nie sah ich einen Dokumentarfilm über die Menschen, die diesen Müll produzieren. Wer nur die eine, die Mitleid heischende Seite zeigt, erklärt nichts, sondern reproduziert ein Klischee. Nur wer beide Seiten sieht, kann das Elend dieser Länder begreifen.
Es soll damit nicht behauptet werden, dass das, was in deutschen Medien über Afrika, Asien und Lateinamerika erscheint, nicht über rührselige Geschichten hinausgehe. Prinzipiell aber ist die Dritte-Welt-Berichterstattung eine sehr selbstbezogene Angelegenheit: So, wie Elendsreportagen hauptsächlich die in der Ersten Welt existierenden Klischees reproduzieren, haben auch politische Nachrichten je nach der aktuellen Befindlichkeit in Europa mehr oder weniger Gewicht. So war das kleine und wirtschaftlich völlig unbedeutende Land Nicaragua in den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts in deutschen Medien sehr gut vertreten. Für die einen war es wichtig geworden, weil dort eine politische Entwicklung stattfand die als Projektionsfläche für revolutionäre Träumereien taugte, die im reichen Teil der Welt gescheitert waren. Andere leiteten den Nachrichtenwert daraus ab, dass die damalige US-Regierung in diesen Revolutionären eine kommunistische Gefahr für die gesamte Region sah. Vor Ort freilich war das Nicaragua von damals weder ein Traum noch eine rote Gefahr. Die Wirklichkeit ist meist komplexer als die Schneisen, die Nachrichtenredakteure durch die Ereignisse schlagen.
Vor einem Jahr hatte Nicaragua, nachdem es für bald 20 Jahre aus den Nachrichten verschwunden war, noch einmal eine kurze Konjunktur. Daniel Ortega, der in den achtziger Jahren als Revolutionsführer und Präsident von Nicaragua der damaligen US-Regierung unter Ronald Reagan die Stirn geboten hatte, wurde wieder ins höchste Staatsamt gewählt. Während seiner ersten Präsidentschaft hatten die Vereinigten Staaten den Krieg einer rechten Guerilla-Truppe gegen seine Regierung finanziert. Würden sie jetzt ähnlich reagieren?
Es sind immer die reichen und mächtigen Länder, die den Nachrichtenwert eines armen Landes bestimmen. Im vorliegenden Fall hatte die USA ganz andere Sorgen und ignorierte Ortega ganz einfach – zumal der Ortega von heute ein anderer ist. Schnell war er wieder aus den Nachrichten verschwunden. Kuba dagegen ist immer eine Geschichte wert und Fidel Castro eine Figur der Weltgeschichte. Warum? Weil die USA seit langem und ausdauernd ein pathologisches Verhältnis zur Insel und ihrem Führer pflegen. Kubas Nachbarland Haiti, wo sehr viel schlimmere Zustände herrschen, schafft es immer nur dann in die Presse der Industrienationen, wenn wieder einmal Tausende von Bootsflüchtlingen die USA erreichen wollen und viele von ihnen unterwegs ertrinken. Außerhalb solcher Spezialkonjunkturen habe ich so gut wie nie eine Geschichte aus Haiti untergebracht, geschweige denn eine Reise dorthin finanziert bekommen. Haiti, ganz für sich alleine, ist nicht interessant.
Nicht einmal Präsident Hugo Chávez in Venezuela wäre ein Thema, würden die USA nicht sein Öl importieren. Chávez kann mit seiner Politik den Ölpreis beeinflussen, und nur deshalb reagiert die Regierung in Washington stark auf ihn. Und eben deshalb ist Hugo Chávez immer auch etwas für die deutsche Presse. Gäbe es nicht den Irak-Krieg, würden sich die Scharen von Korrespondenten in Caracas tummeln. Die Redaktionen mehrerer Zeitungen und Zeitschriften haben bei mir Interviews mit Chávez bestellt. Ich habe bei all diesen Redaktionen nachgefragt, was sie denn von dem Mann wissen wollten und ob sie glaubten, dass er ausgerechnet im Gespräch mit einem deutschen Journalisten etwas Neues und Überraschendes sagen werde. Der Inhalt des Interviews sei egal, meinten die Kollegen. Hauptsache, man bekomme ihn, und das exklusiv. Chávez ist inzwischen ein Superstar, den jede Zeitschrift gerne auf dem Cover zeigt.
In seinem Windschatten schaffen es zwei weitere Linkspopulisten aus Lateinamerika immer wieder in die Nachrichten: Rafael Correa aus Ecuador und Evo Morales aus Bolivien. Und plötzlich werden Themen interessant, die man vorher wie Sauerbier anbieten musste. So habe ich schon Mitte der neunziger Jahre über das Erstarken der Indígena-Bewegung in Lateinamerika recherchiert. Das Thema wurde damals von den meisten Redaktionen als zu folkloristisch abgelehnt. Selbst um das Jahr 2000 herum, als Indígena-Aufstände in Ecuador einen Präsidenten nach dem anderen verjagten, wollte kaum eine Redaktion eine Hintergrundgeschichte haben. Erst jetzt, da sich mit Evo Morales der erste Indígena-Präsident Boliviens an der Seite von Fidel Castro und Hugo Chávez in Frontstellung zu den USA gebracht hat, wird die Geschichte nachgefragt. Die selben Redakteure, die damals nur gähnten, finden heute das Thema hoch spannend und brandaktuell. Was will uns das sagen? Dass ein Thema aus armen Ländern nicht aktuell ist, wenn es sich dort zum ersten Mal manifestiert, sondern erst dann, wenn es direkt oder indirekt die Interessen der reichen Länder berührt.
Soll man als Korrespondent in einer armen Region also nur noch Klischees reproduzieren und auf die Nachrichtenlage der reichen Länder reagieren, die Entwicklungen vor Ort aber lieber vergessen? Man muss es tun, um überleben zu können. Aber nicht nur. Jede größere Regionalzeitung hat heute Wochenend-Beilagen, mit denen sie zeigen will, dass sie mehr Hintergrund bieten kann als die schnelleren Medien Rundfunk und Fernsehen. In so gut wie jeder dieser Beilagen gibt es einen Platz, auf dem man Geschichten erzählen kann. Wo diese herkommen, spielt oft keine Rolle; Hauptsache, sie sind gut. Gute Geschichten aber gibt es in jedem Land. Man muss sie nur suchen, und als Korrespondent in einer in Deutschland als nachrichtenarm geltenden Region hat man auch die Zeit dazu.
Dann darf man sich beim Recherchieren und Schreiben fühlen wie die englischen Afrika-Forscher im 19. Jahrhundert, deren Berichte von der Heimatpresse abgedruckt wurden und die Leser in Staunen versetzten. Sie erfuhren da etwas, das ihnen vorher völlig unbekannt war. Das ist heute nicht viel anders. Man glaubt zwar, die ganze Welt zu kennen. Aber von den armen Regionen kennen die meisten nur ein paar Klischees und kleine nachrichtliche Ausschnitte. Für die Wochenend-Beilagen kaufen Redaktionen besonders gerne Berichte, die Klischees aufbrechen und die Leser staunen lassen. Da könnte man sogar die Geschichte eines Busunglücks in Guatemala unterbringen, und die wäre wirklich spannend. Sie könnte nicht nur erklären, warum dort viel mehr Busse in Schluchten stürzen als in Europa. Sie könnte auch zeigen, dass Guatemala viel mehr ist als Maya-Folklore, Gewalt und Naturkatastrophen. Dass es ein Land ist, zerrissen von sozialen Gegensätzen, an denen wir Europäer nicht ganz unschuldig sind. Ich habe solche Geschichte eines Busunglücks noch nicht geschrieben. Irgendwann einmal werde ich es tun.
aus: der überblick 04/2007, Seite 24
AUTOR(EN):
Toni Keppeler
Toni Keppeler ist Mitglied der Reportageagentur Zeitenspiegel und war freier Lateinamerika-Korrespondent von 1994 bis 2002.