"Die Lage mit aushalten"
Der Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern scheint völlig festgefahren. Die schier ausweglose Lage hat auch die Arbeit der Beobachter belastet, die von kirchlichen Werken entsandt wurden, um palästinensische Organisationen zu begleiten. Zwei, die von dieser Aufgabe zurück sind, schildern ihre Erfahrungen.
von Bernd Ludermann
Barbara Thiel und Nicolai Müller drängt es zu erzählen. Die meisten ihrer Berichte sind traurig und erschreckend, denn sie waren im Einsatz als Beobachter in Israel und Palästina. Die zwei Deutschen haben dort palästinensische Organisationen der Zivilgesellschaft begleitet und miterlebt, wie hilflos einfache Palästinenser israelischen Soldaten und Besatzungsbehörden ausgeliefert sind und wie sehr Gewalt den Alltag durchdringt.
Barbara Thiel ist Ingenieurin und Informatikerin und hat bei der Palestinian Hydrology Group gearbeitet, einer NGO, die sich um die Wasserversorgung in den besetzten Gebieten kümmert. Den größten Teil ihres fünf Monate langen Aufenthalts hat sie die Bauernfamilien des Dorfes Jayyous in ihrem Kampf gegen den Separationswall begleitet. Israel will mit dem Bau dieses Walls das Land vor Anschlägen schützen. Die Regierung Sharon beschloss das nach einer Serie von Selbstmordattentaten, die im Juni 2002 zeigten, dass militärische Schläge in der Westbank solche Anschläge nur zeitweise verhindern können. Nun soll die Westbank mit dem Wall - teils Zaun, teils Mauer - ähnlich hermetisch von Israel getrennt werden, wie es der Gaza-Streifen schon ist; aus diesem kommen kaum Selbstmordattentäter.
Barbara Thiel war gerade in Jayyous, als dort die Bagger für den Bau anrollten. Das israelische Militär begann noch nicht abgeerntete Olivenbäume für den Mauerbau zu fällen, obwohl ein Einspruch beim Obersten Gericht lief. Spontan baten die Dorfbewohner die internationalen Beobachter zu bleiben, erzählt Thiel. Sie stellten ihnen ein Zimmer zur Verfügung und versorgten sie mit Essen. "Ich habe die Bauern zur Ernte auf ihre Felder begleitet, die jenseits des Walls lagen. Ohne diesen Schutz ist es vorgekommen, dass sie an den Sperren zusammengeschlagen wurden", sagt Thiel. Auch der Bürgermeister des Ortes wagte ohne internationale Begleitung nicht, mit den Soldaten zu verhandeln. "Wenn Ausländer dabei waren, haben die Soldaten die Palästinenser angehört, sonst nicht", so Thiel. Auch israelische Friedensaktivisten haben sich an den Protesten beteiligt. Thiel hat gesehen, wie einige verprügelt wurden, als sie Bäume schützen wollten. "Israelis und Ausländer werden aber schnell wieder freigelassen. Palästinenser, die protestieren, können 16 Monate ohne Urteil festgehalten werden", sagt sie.
Mit den Verhandlungen konnte erreicht werden, dass der Bau des Walls unterbrochen wurde bis nach der Ernte der Oliven - die sind die wichtigste Lebensgrundlage der Bauern von Jayyous. Später hat das Oberste Gericht Israels den Bau gestoppt, erzählt Thiel. Die Folgen des Walls für Jayyous sind nach ihrer Schätzung: "Dem Dorf werden drei Viertel seines Ackerlandes genommen. 300 Familien verlieren ihre Existenzgrundlage." Der Wall, betont sie, soll über seine gesamte Länge auf der palästinensischen Seite der Grünen Linie verlaufen, welche die besetzte Westbank von Israel trennt.
Auch israelische Wehrpflichtige gehören zu den Opfern, erzählt Barbara Thiel: "Ich habe zahlreiche junge Soldaten erlebt, die völlig traumatisiert waren." Viele andere, so sagt sie, sind entweder brutalisiert oder wollen nur noch auswandern, sobald ihr Dienst vorbei ist. Denen hat sie gesagt: "Wenn ihr nichts tun könnt, dann berichtet wenigstens euren Verwandten zu Hause, was hier passiert."
Wenn Barbara Thiel erzählt, spürt man, wie sehr das Vorgehen Israels sie empört. Nicolai Müller berichtet eher mit dem Blick des nüchternen Betrachters. Das entspricht der Arbeit, die er beim Christlichen Verein Junger Männer in Beit Sahour fünf Monate gemacht hat: Für die Advocacy-Arbeit hat er Interviews geführt und Berichte von Augenzeugen gesammelt, um Rechtsverstöße zu dokumentieren. Außerdem hat der Theologe an einer Studie über Christen in Palästina gearbeitet.
Er schildert eine palästinensische Gesellschaft, der jede Hoffnung genommen ist. "Die palästinensischen Behörden gibt es praktisch nicht mehr", sagt er. Arafats Ministerien haben keinen Einfluss auf das, was vor Ort in der Westbank geschieht; ihre Pläne etwa für die Entwicklung der Landwirtschaft sind irrelevant. "Über die Selbstregierung und Reformen daran wird daher kaum noch diskutiert", sagt Müller. Zumal die Besatzung die Kommunikation und den Verkehr zwischen den einzelnen Flecken selbstverwalteten Gebiets unterbricht und so alle Ansätze einer Organisation von unten über den eigenen Ort hinaus behindert.
Wie die Jugendlichen diese Lage erleben, wurde Müller bei einem Besuch in einem Dorf vor Augen geführt. Eine große Gruppe von 12- bis 16-Jährigen hat ihm ein Plakat der islamischen Hamas entgegengehalten, die für viele Selbstmordanschläge in Israel verantwortlich ist. Alle seien sie bereit, Selbstmordattentäter zu werden, erklärten die Jugendlichen dem Deutschen, der etwas Arabisch versteht. Müller erklärt sich das damit, dass die jetzt in der Westbank Heranwachsenden für sich keinerlei Zukunft sehen. Der Schulunterricht, so erklärt er, ist von der Besatzung schwer beeinträchtigt, so dass der Vorteil einer im Vergleich zu den arabischen Nachbarländern besseren Bildung verloren geht. "Der Tourismus ist tot. In Israel können sie nicht arbeiten, der Zugang ist ihnen versperrt. Der Olivenanbau ist zu gefährlich, und oft wird ein Teil der Ernte von Siedlern gestohlen. Nicht einmal nach Jordanien ausreisen lässt man die jungen Leute noch", sagt Müller. So kommt es, dass sie ihm auf die Frage, warum sie bereit sind, zu morden und zu sterben, voll Bitterkeit sagten: "Wir wollen wenigstens selbst entscheiden, auf welche Weise wir sterben."
Auch Israels System der Informanten produziert laut dem deutschen Theologen Attentäter. Denn wer in der Haft zu Spitzeldiensten gezwungen worden ist, der ist früher oder später in der eigenen Gesellschaft ein Ausgestoßener, ein "lebender Toter".
Müller und Thiel sind mit dem Ökumenischen Friedensdienst für Palästina und Israel (ÖFPI) im Nahen Osten gewesen. Den ÖFPI haben fünf kirchliche Organisationen, darunter der EED, "Brot für die Welt" und Pax Christi ins Leben gerufen. Sie beteiligen sich damit an einer Initiative des Weltkirchenrats; Kirchen in Palästina hatten um ein solches Signal der Solidarität gebeten.
Warum haben die beiden Deutschen diese Aufgabe übernommen? Für Barbara Thiel, die aus Thüringen stammt, war der Einsatz eine Fortsetzung ihres Friedensengagements, das auf die Bürgerbewegung am Ende der DDR zurückgeht. Diese Erfahrung hat sie veranlasst, nach der Wiedervereinigung eine Zusatzausbildung der Kirche zu Friedenserziehung und Konfliktbewältigung zu machen und sich auf diesem Feld zu engagieren. Nicolai Müller dagegen kam über sein Theologie-Studium zum Thema Palästina: Er promoviert über die palästinensischen Christen und steht vor seinem Vikariat.
Beide haben bei ihrer Arbeit als belastend erlebt, dass keinerlei Besserung der Lage in Sicht ist. Ändert der Einsatz unter diesen Umständen überhaupt etwas? Daran hat Müller oft gezweifelt. "Man muss sich damit behelfen sich zu sagen, man weiß nicht, ob es etwas nutzt", erklärt er. Sein "persönlicher Ausweg" aus der Atmosphäre der Hoffnungslosigkeit war, dass er jungen Palästinensern Trompetenunterricht gegeben hat.
Doch beide fanden ihren Einsatz nicht sinnlos. Denn die palästinensischen Partner haben ihnen immer wieder gesagt, dass sie sehr froh über ihre Anwesenheit sind. "Dadurch, dass wir die Situation mit aushalten, helfen wir ihnen zumindest ein bisschen", meint Thiel. Sie erzählt, dass eine Bäuerin in Jayyous sie eines Tages bat: "Barbara, kommst Du mit, heute werden meine Bäume ausgerissen." Das, sagt sie, "war sehr schwer." Trotzdem möchte sie zurück und die Arbeit fortsetzen. Wegen des drohenden Krieges im Irak ist das Programm jedoch bis August vorläufig unterbrochen.
Lobby-Arbeit in PalästinaSubventionieren wir die Siedlungen?Das Beobachterprogramm in Palästina verfolgt auch das Ziel, in Europa das Verständnis für die Lage in Israel und Palästina zu fördern. Außerdem will es Ansätze für die Lobby-Arbeit finden. Einen solchen Ansatz sieht APRODEV, die Vereinigung von 17 europäischen, mit dem Weltkirchenrat zusammen arbeitenden Entwicklungs-Organisationen, in den Exporten aus Siedlungen in den besetzten Gebieten. Der EED und "Brot für die Welt", beide Mitglieder von APRODEV, haben für dieses Thema eine halbe Advocacy-Stelle geschaffen. Christina Pfestroff, die Inhaberin der Stelle, erklärt das Problem: Israel ist der Europäischen Union (EU) assoziiert und kann zollbegünstigt Waren, etwa landwirtschaftliche, in die EU exportieren. Israel bezeichnet jedoch auch Produkte, die in Siedlungen auf der Westbank produziert werden, als israelische. Aus den Siedlungen, so Pfestroff, kommen unter anderem Bio-Prokte in deutsche Läden. Da sie von den Zollbegünstigungen profitieren, "subventioniert indirekt der europäische Steuerzahler die Siedlungen". Dies verstößt gegen das Assoziierungsabkommen, weil das für das "Gebiet des Staates Israel" gilt; hierzu gehört die Westbank nach dem Völkerrecht nicht. Die EU duldet jedoch diese Praxis, obwohl manche Praktiken der Besetzung auch gegen die Vierte Genfer Konvention verstoßen. Die Folge ist, dass Verbraucher in der EU nicht erkennen können, ob ein Produkt mit der Herkunftsbezeichnung "Israel" aus den besetzten Gebieten kommt oder nicht. Das, so Pfestroff, muss sich ändern. Eine Kampagne fordert, die EU solle Israel zwingen, die Ware korrekt auszuweisen. Dann könnte man entscheiden, ob man Produkte aus den Siedlungen kaufen will oder nicht. Jetzt hat man, wenn man das ausschließen will, nur die Wahl, keinerlei Waren aus Israel zu kaufen. Mit diesem Ansatz, das gibt Pfestroff zu, kann man auf Israel allenfalls sehr kleinen Druck ausüben. Das Thema ist aber wichtig, weil man die EU damit zwingt, sich offen zum rechtlichen Status der besetzten Gebiete zu äußern: Gehören sie zu Israel oder sind sie völkerrechtswidrig besetzt? Und das könne einen Präzedenzfall setzen. bl |
aus: der überblick 01/2003, Seite 116
AUTOR(EN):
Bernd Ludermann :
Bernd Ludermann war viele Jahre Redakteur beim "überblick". Er arbeitet jetzt als freier Journalist in Hamburg und betreut unter anderem als Redakteur die Forum-Seiten im "überblick".