Bhutans neuer Verfassungsalltag nimmt Gestalt an
von Manfred Kulessa
In den sechzig Jahren seit dem Abzug der britischen Kolonialmacht waren die Sterne den Staaten und Dynastien der Himalayaregion wahrlich nicht günstig gesonnen. Zwar gestand der große Nehru einigen von ihnen noch die bescheidene Souveränität von Pufferstaaten zwischen Indien und China, den Giganten Asiens, zu. Am Schicksal der Herrscher und ihrer Erben lässt sich inzwischen aber mancher Wandel bei ihren Ländern und Völkern darstellen: Tibets Dalai Lama lebt im Exil mit geringer Aussicht auf Rückkehr und anerkannte Wiedergeburt. Der letzte Chogyal von Sikkim starb im Exil, nachdem sein kleines Reich in die Indische Union eingegliedert worden war. Dem in diesen Tagen verstorbenen Ex-König von Afghanistan war es noch vergönnt, im hohen Alter in sein freilich noch immer unbefriedetes Land zurückzukehren. Karan Singh, der Sohn des Maharadschas von Kaschmir, fand seine Lebenserfüllung in einer glänzenden Karriere als indischer Politiker und führender Sprecher des Hinduismus, während in seiner Heimat der Dauerkonflikt des Subkontinents bis heute ungelöst blieb. Nach dem Massaker an der Königsfamilie und dem Maoistenaufstand wackelt der Thron Nepals und könnte demnächst einer Verfassungsreform zum Opfer fallen. Nur im Königreich Bhutan scheint die Welt der Monarchie noch in Ordnung zu sein, und die Mehrheit seiner Bürger reagierte zunächst eher mit Skepsis als mit Begeisterung auf die Absicht Seiner Majestät, dem Land eine demokratische Verfassung zu schenken.
König Jigme Singye Wangchuck ließ sich davon allerdings nicht entmutigen. Man darf annehmen, dass ihm die historische Entwicklung in der Region wie auch seine Sicht der politischen Weltgeschichte diesen Schritt zur konstitutionellen Monarchie als absolut notwendig für das Überleben des souveränen Staates erscheinen lassen. Dazu kann er darauf verweisen, dass seine Vorgänger und er selbst lange auf dieses Ziel hingearbeitet haben, seit die erste Honoratioren-Nationalversammlung im Jahre 1953 von seinem Großvater einberufen wurde und im Laufe der Zeit nach und nach weitere Schritte der Demokratisierung und Dezentralisierung folgten. Von einer Fachkommission ließ er eine Verfassung entwerfen, die im Jahre 2005 veröffentlicht und anschließend von ihm und dem Kronprinzen in Volksversammlungen aller zwanzig Distrikte vorgestellt und diskutiert wurde. Anschließend trat der König (51) im Dezember 2006 zugunsten seines Sohnes Jigme Khesar (27) zurück.
Was sich derzeit mit der Einführung und Umsetzung der neuen Verfassung abspielt, erscheint jedenfalls als ein ungewöhnliches und mutiges historisches Experiment, das zu Recht die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit erhält. Der Besucher vom Sommer 2007 kann verständlicherweise nur vom Zwischenstand dieser dramatischen Umwandlung und von der Gesprächssituation dieser Übergangsphase berichten. Das sei hier anhand einiger Stichworte versucht.
Stand der Verfassung
Die letzte Nationalversammlung nach dem alten System wurde mit einer feierlichen Zeremonie abgeschlossen. Man hat den Eindruck, dass das ursprünglich vorgesehene Verfassungsreferendum nicht abgehalten werden wird, sondern durch die Vorstellung und Beratung in den Distrikten als erledigt gilt. Die neue Verfassung wäre demnach geltendes Recht (mit den inzwischen vorgenommen geringfügigen Änderungen, insbesondere der Beschränkung auf 47 Wahlkreise). Die in der Verfassung vorgesehenen neuen Institutionen wie die Wahlkommission und die Antikorruptionskommission (ACC) sind berufen und bereits in vollem Einsatz. Besonders die Wahlkommission hat eine Vielzahl von Richtlinien und Regelungen zu Wahlverfahren und Parteienverhalten verabschiedet und bereitet sich nach den im Frühjahr durchgeführten Probewahlgängen aktiv auf die echten Wahlen vor. Die ACC wird die Wahlfinanzierung sorgfältig beobachten.
Die ersten Wahlen unter der Verfassung
Im Dezember wird der Nationalrat gewählt, das Oberhaus von Bhutan. Er setzt sich aus zwanzig gewählten Vertretern aus den Distrikten und fünf vom König ernannten Persönlichkeiten zusammen. Die Mitglieder des Nationalrats dürfen keiner politischen Partei angehören. Diese Wahl setzt also noch keine funktionsfähigen Parteien voraus. Anders ist es bei den Wahlen zur Nationalversammlung, für die zwei Wahlgänge im Februar und März 2008 vorgesehen sind. Hierfür müssen die registrierten Parteien ihre Kandidaten aufstellen. Die Zahl der Wahlberechtigten wird mit ungefähr 400.000 angegeben. Die Verwaltung unternimmt derzeit enorme Anstrengungen, rechtzeitig für diesen Personenkreis neue Kennkarten und Wahlausweise auszustellen. Die Wahlen werden mit indischen Wahlautomaten durchgeführt, die es ermöglichen, die Ergebnisse am gleichen Abend vorzulegen. Bis zur Konstituierung des Parlaments wird eine Übergangsregierung unter Leitung des Präsidenten des Obersten Gerichtshofs (Chief Justice) amtieren, der auch den Vorsitz in der Verfassungskommission geführt hat.
Die Parteien
Politische Parteien waren in Bhutan bisher verboten und existierten allenfalls im Exil. Nun sollen sie ohne Tradition, aber mit der Last hoher Erwartungen und strikter Anforderungen neu entstehen. Zunächst haben vier Parteien in Gründung von sich hören lassen: People's Democratic Party (PDP), Bhutan People's United Party (BPUP), Bhutan National Party (BNP) und All People's Party (APP). Keine dieser Parteien hat sich bislang zur Registrierung bei der Wahlkommission angemeldet. Wahrscheinlich wird das erst dann geschehen, wenn die von allen umworbenen politischen Führungspersönlichkeiten sich für die eine oder andere Partei entschieden haben. Das gilt vor allem für die zehn Minister der bisherigen Regierung, von denen sieben erklärt haben, dass sie in Kürze zurücktreten und sich parteipolitisch engagieren wollen. Fünf dieser politischen Schwergewichte wollen als Team gemeinsam in eine Partei eintreten. Diese Entwicklung wird die Tendenz zur Schaffung von zwei großen Parteien verstärken, weil nach der Verfassung nur zwei Parteien im Parlament vertreten sein können und niemand einer Partei angehören möchte, die völlig ins politische Abseits gerät. In Thimphu ist schon von Fusionsgesprächen die Rede. Wenn sich nur zwei Parteien registrieren lassen, würde sich das Verfahren auf einen Wahlgang reduzieren, in dem dann lediglich entschieden wird, wer als Mehrheit die Regierung und wer als Minderheit die Opposition bilden darf. (Tatsächlich haben sich BPUP und APP Ende Juli unter Führung der fünf Minister zu einer BUP vereinigt, und alles deutet auf ein zwei-Parteien-System hin.)
In einer Fernsehsendung bat der Moderator den Gast zunächst um eine Erklärung, wie sich politische Parteien in Deutschland unterscheiden. Noch geht es bei den Parteien in Bhutan primär um Personen und weniger um Programme und schon gar nicht um weltanschauliche Differenzen, und insofern dürfen ihre Namen wohl auch ziemlich nichtssagend bleiben, wenngleich es auch kritische Stimmen gibt, die das kulturell Bodenständige vermissen. Wichtiger könnten möglicherweise die Symbole sein, unter denen die Parteien zur Wahl antreten, zumal etwa die Hälfte der Wahlberechtigten Analphabeten sein werden.
Beamtenschaft und Politiker
Verfassung und Beamtenrecht sehen in Zukunft eine strenge Trennung zwischen Verwaltung und Politik vor. War bisher die Idealkarriere nach erfolgreichem Auslandsstudium und anschließender Eingangsprüfung durch Jahrzehnte der Beförderung bis zur Staatssekretärsebene und dem roten Zeremonienschal des Dasho, im besonders günstigen Fall zur Berufung bzw. Wahl zum Minister mit orangenem Schal und dem Titel Lyonpo strukturiert, muss sich von jetzt an jeder Amtsinhaber entscheiden, ob und wann er aus dem sicheren Beamtenstatus in die Politik wechseln will. Dazu muss er seinen Abschied aus dem öffentlichen Dienst einreichen und diesen Dienst ein für allemal verlassen. Er kann auch nach verlorener Wahl oder abgelaufenem Mandat nicht mehr in die Verwaltung zurückkehren.
Den bislang amtierenden Ministern fällt diese Entscheidung vermutlich nicht sehr schwer, obwohl sie sich nun auf eine andere Form des Taktierens einstellen müssen. Sie rechnen in der neuen Struktur mit einer Wiederkehr in alte Führungspositionen und sind sich einer breiten Zustimmung gewiss. Andere sehen sich bei dieser vielleicht einmaligen Chance einem erheblichen Risiko gegenüber. Umso erstaunlicher mag es erscheinen, wenn von einer nicht unerheblichen Zahl von Staatsdienern berichtet wird, die den Schritt zumindest ernsthaft erwägen. Von den zwanzig Distriktchefs haben sich zwei inzwischen dazu entschlossen, und auch unter Botschaftern und Institutsleitern gibt es prominente Beispiele. Erschrocken vernahmen die Einwohner der Hauptstadt Thimphu, dass fünf hochqualifizierte Fachärzte des staatlichen Gesundheitsdienstes in die Politik gehen wollen. Das soll ihnen nun die Regierung verbieten. Und der Leiter der Behörde für den öffentlichen Dienst (RCSC) zeigt sich entschlossen, jüngeren Beamten den Abschied zu verweigern, solange sie die mit dem Auslandsstipendium verbundenen Pflichtjahre noch nicht abgeleistet haben. Auf der anderen Seite erhofft er sich von dem Ausmarsch der neuen Politiker eine Chance, die notwendige Modernisierung und Professionalisierung der Beamtenschaft etwas rascher voranzutreiben.
Wählbarkeit
Für die Entscheidung zwischen Politik und Verwaltung spielt natürlich auch das Alter der Kandidaten eine Rolle. Die meisten Mitglieder der Führungselite sind Altersgenossen von König Jigme Singye. Nach der Verfassung müssen alle Staatsdiener, ob Richter, Beamter, Abgeordnete, Minister oder König, mit der Altersgrenze von 65 Jahren in den Ruhestand treten. Jeder kann sich also ausrechnen, welches Risiko im restlichen Zeitablauf mit der Entscheidung des Umstiegs verbunden ist.
Recht überraschend und keineswegs unumstritten kam dann aber eine Regelung zustande, wonach für die Nationalversammlung nur Kandidaten in Frage kommen, die über einen Hochschulabschluss verfügen. In Bhutan dürfte die Zahl der so qualifizierten auch bei großzügiger Auslegung etwa in der Größenordnung von zehntausend Personen liegen, bei entsprechender Häufung im urbanen Bereich. Begründet wurde diese Bestimmung mit der Verantwortung politischer Ämter, die Erfahrung, Bildung, Sprachkenntnisse und gewandtes Auftreten voraussetzt. Kritiker halten diese Elitevorstellung für undemokratisch. Schließlich dürfte die Entscheidung des jungen Königs, selber Oxford-Absolvent, den Ausschlag zugunsten der Begrenzung gegeben haben.
Als Hauptbetroffene erscheinen dabei die Chimis, die 150 Abgeordneten der alten Nationalversammlung, darunter viele mit langjähriger Parlamentserfahrung, von denen nur ganz wenige akademisch qualifiziert sind. Wollen die anderen im politischen Leben weiter aktiv bleiben, bleibt ihnen nur die Wahl zwischen der nicht parteipolitisch gebundenen Mitarbeit in den Gemeinde- und Distriktsräten und einer Tätigkeit als Parteifunktionär in den heimischen Gefilden, wo sie dann ihr Gewicht zur Geltung bringen können. Es wird berichtet, dass sich bereits Chimis als Parteisekretäre zu erkennen geben und in ihrer Umgebung auf dem Lande mit der Anwerbung von Parteimitgliedern beginnen, noch bevor die Parteien zentral identifiziert und registriert worden sind. Offenbar wollen sie sich von vornherein einer loyalen Mehrheit von Getreuen versichern. So könnte eine politische Basisbewegung entstehen, auf die sich die politischen Eliten einstellen müssen.
Medien
Die Verfassung garantiert die Pressefreiheit. Während bisher Zeitung, Hörfunk und Fernsehen im staatlichen Bereich angesiedelt waren, richtet man sich jetzt auf eine private Medienlandschaft ein. Schon werden den Bhutanern neben der regierungsnahen, aber auch erfreulich liberalen Zeitung Kuensel ein Bhutan Observer und eine Bhutan Times angeboten. Alle drei erscheinen an verschiedenen Tagen der Woche, was die Konkurrenz unter den Zeitungen offenbar in Grenzen hält. An Formen und Grenzen des politischen Journalismus muss man sich allerdings noch gewöhnen. So kann es vorkommen, dass über Parteizugehörigkeit und Wahlkreis prominenter Politiker ungeniert Gerüchte verbreitet werden, die allerdings von diesen auch dann nicht einer Gegendarstellung gewürdigt werden, wenn sie sich gesprächsweise eindeutig und ärgerlich davon distanzieren. Andererseits werden die Medien von der Regierung zunehmend ernstgenommen. So lud der Leiter der Wahlkommission am 2. Juli zu einer ersten internationalen Pressekonferenz ein, an der auch das Team von Rolf Seelmann-Eggebert teilnahm, das gerade an einem Dokumentarfilm über die neue Verfassung arbeitete.
Blick in die Zukunft: Sorgen und Feiern
Im weiteren Verlauf des politischen Wandels mag es noch manche Überraschung geben. Monarch und Führungsgruppe werden aber ihre Pflicht darin sehen, den Übergang harmonisch zu gestalten. Ihre besondere Sorge gilt dem Bemühen, den Teamgeist in dieser vom vierten König sorgfältig ausgesuchten und geförderten Gruppe zu erhalten und sie für jüngere Mitglieder zu öffnen, ohne die nun entstehende Rivalität und das gewünschte demokratische Gegenüber in ungesunde Feindschaft ausarten zu lassen, und zudem die gefürchtete und aus anderen Demokratien bekannte Korruption von Anfang an entschieden zu bekämpfen. Zu den unerledigten Altlasten gehört die Aufgabe, eine versöhnende Lösung der Minderheiten- und Flüchtlingsfragen zu finden.
Seinen Astrologen verdankt Bhutan den weisen Rat, dieses Jahr nicht mit allzu vielen großen Entscheidungen und nationalen Ereignissen zu überfrachten. Im nächsten, dem Jahr der Maus, werden sich die Anlässe häufen, und es gibt mehr als genug zu feiern: Das erste unter einer demokratischen Verfassung gewählte Parlament, die Jahrhundertfeier der Wangchuck-Monarchie und die Krönung des jungen Königs, um nur die wichtigsten Daten zu nennen. Dazu kann man dem Königreich nur wünschen, dass es mit dem Bruttosozialglück aller Bhutaner weiter voran geht: "Tashi Delek", wie man dort sagt.
aus: der überblick 03/2007, Seite 126
AUTOR(EN):
Manfred Kulessa
Dr. Manfred Kulessa ist Honorarkonsul von Bhutan sowie Gründer und einer der Herausgeber von "der
überblick".