Wo der Kuss nach Curry schmeckt
Hollywood hat als Traumfabrik ausgedient. Längst hat sich im indischen Bombay eine gigantische Filmindustrie entwickelt. Aus Bombay und Hollywood machten die Filmschaffenden den Namen Bollywood, eine Art Kosename für ihre eigene indische Filmproduktion. Mit jährlich bis zu 900 produzierten Filmen ist die indische Filmindustrie die größte der Welt. Langsam aber sicher schwappt der Bollywood-Boom auch zu uns herüber.
von Meenakshi Shedde
Bollywood, das selbstbewusste Mainstream-Kino aus Bombay, ist doch einigermaßen überrascht von der Aufmerksamkeit, mit der es in letzter Zeit aus aller Welt überschüttet wird. Man hat es auf den wichtigsten Festivals wie Cannes, Berlin und Venedig gefeiert. Lagaan von Ashutosh Gowariker ("Es war einmal in Indien") wurde 2001 für den Oscar nominiert.
Dieses Jahr war die Bollywood-Queen, die Königin des indischen Films und frühere Miss World, Aishwarya Rai, Mitglied der internationalen Jury beim Filmfestival von Cannes. Ein kitschiger Bollywoodfilm wie Devdas von Sanjay Leela Bhansali, der vollgestopft ist mit Liedern, Tanzeinlagen und Melodramatik und der letztes Jahr in Cannes gezeigt wurde, kam dieses Jahr ganz theatralisch in die Kinos.
Das geistig anspruchslose Bollywood zieht nun die Aufmerksamkeit anspruchsvoller Analysen auf sich als Thema von Doktorarbeiten und Lehrveranstaltungen an Universitäten. Die Bollywood-Industrie fühlt sich äußerst geschmeichelt, doch ist ihr auch etwas unwohl bei all der Anerkennung: Sie weiß nicht so recht, was sie getan hat, um sich diese Anerkennung zu verdienen, und auch, wie lange sie der Liebling der Saison sein wird.
Die Würdigung der einzigartigen Kraft und der Fülle des populären indischen Kinos markiert die Taufe von Bollywood im Karussell der Filmfestivals. Bei der wachsenden Konkurrenz unter den Filmfestivals sind die Festivalleiter stark daran interessiert, eine lebendige, ausgefallene Filmkultur wie Bollywood zu zeigen. Entsetzt stellen sie fest, dass Indien mit 855 Filmen im Jahr 2000 die größte Zahl an Filmen weltweit produziert (viel mehr als die USA mit im Schnitt etwa 650 Filme im Jahr). Noch wichtiger ist, dass das indische Kino eines der wenigen auf der Welt ist, das es sich leisten kann, Hollywood die kalte Schulter zu zeigen.
Während Hollywood die nationalen Filmmärkte bedroht und zwischen 60 und 90 Prozent der Filmmärkte weltweit beherrscht, hat es nur einen Anteil von 5 Prozent am indischen Filmmarkt. Und dies ohne jede Kontrolle oder Quote.
Ein interessanter Nebeneffekt der Globalisierung im Kino sind zwei wichtige Filme des Jahres 2001. Moulin Rouge von Baz Luhrmann und Monsoon Wedding von Mira Nair hoben sich ab vom Sing-und-Tanz-Muster Bollywoods und zogen weltweite Aufmerksamkeit auf sich. Während Luhrmanns Film Bollywood in das Paris des 19. Jahrhunderts versetzte, parodiert Monsoon Wedding das "Hochzeitsvideo-Muster" von Bollywood im Neu Delhi der neunziger Jahre. Neben der Tatsache, dass der Film den Goldenen Löwen in Venedig gewann, traf er einen weltweiten Trend, was bisher noch keinem indischen Mainstream-Regisseur gelungen war.
Paradoxerweise wird der indische Film zumindest in der weltweiten öffentlichen Meinung mit Regisseuren indischer Herkunft identifiziert, die in Übersee und weniger in Indien selbst leben und arbeiten: Hierzu gehören Mira Nair, Deepa Mehta, M. Night Shyamalan in Nordamerika, außerdem Gurinder Chadha, Shekhar Kapur und Asif Kapadia in Großbritannien und Pan Nalin in Paris.
Einer der Gründe für die Binnenorientierung der indischen Filmindustrie ist der riesige heimische Markt. Es gibt sicher nicht sehr viele kinoverrückte Nationen, wo ein Film wie Sholay fünf Jahre lang ununterbrochen läuft. Der Bollywood-Klassiker und Curry-Western wurde durch "Die Glorreichen Sieben" von John Sturges und den japanischen Film "Sieben Samurai" von Akira Kurosawa beeinflusst. Der Film Dilwale Dulhaniya Le Jayenge "Der Tapfere gewinnt die Braut" (1995) lief puuh! sieben Jahre lang. Welcher Hollywood-Film kann das schon von sich behaupten? Und niemand rümpft die Nase, wenn viele Zuschauer einen Film das fünfundzwanzigste oder vierzigste Mal sehen. Es versteht sich von selbst, dass sie alle Lieder und die meisten Dialoge auswendig kennen.
In Sholay spielte einer der ausdauerndsten indischen Stars, Amitabh Bachchan, dessen Fans ihm in Kalkutta einen Tempel bauten. Als er einmal im Krankenhaus lag, fasteten seine Fans wochenlang für ihn, und einer von ihnen ging Hunderte von Kilometern rückwärts eine sehr kreative Buße für seine baldige Genesung. Es wird einem kaum ein Hollywood-Filmstar einfallen, dem eine solche Hingabe zuteil wird. Ob er überhaupt eine solche Hingabe möchte, ist natürlich eine andere Frage.
Der Beginn der indischen Filmproduktion geht zurück auf das Jahr 1897, nur zwei Jahre nach der Erfindung des Films überhaupt. Das westliche Publikum befasst sich mit Indien auf der Leinwand seit dem Film "Der Elefantenjunge" aus dem Jahre 1937 von Robert Flaherty. Später folgten "Der Dieb von Bagdad" von Alexander Korda (1940) und der 1942 gedrehte Film "Das Dschungelbuch" von Zoltan Korda, in denen typische indische Schauspieler wie Sabu in orientalischen oder primitiven Fantasiewelten zu sehen sind.
Dann gab es die Raj Filme, üppig ausgestattete Stücke, die während der Zeit des britischen Raj, der britischen Kolonialherrschaft in Indien spielten (1858-1947), in denen Inder üblicherweise als "unzivilisierte Eingeborene" oder extravagante Radschas dargestellt wurden, so in Gunga Din (1939) von George Stevens, in A Passage to India ("überfahrt nach Indien" 1984) von David Lean und Heat and Dust ("Hitze und Staub" 1982) von James Ivory.
Auch wenn die westlichen Industrieländer Bollywood erst jüngst entdeckt haben, so hat seine unprätentiöse, heimatverbundene Anziehungskraft schon seit den sechziger Jahren zu einer weit verbreiteten Popularität über verschiedene Kulturen hinweg geführt. Schon lange, bevor die Globalisierung Eingang in den umgangssprachlichen Wortschatz fand, herrschte Bollywood in einem breiten Band von Russland, Zentralasien, Ägypten über den Nahen Osten, Südafrika, Ostafrika und der Karibik bis zu Pakistan, Singapur, Malaysia, Indonesien und Japan. Tatsächlich war im Filmfestival von Marrakesch in Marokko im Oktober 2003 ein eigenes Forum den Filmen und Stars von Bollywood gewidmet.
Der indische Film wird in 39 indischen Sprachen und Dialekten produziert, hauptsächlich in Hindi, Tamil, Telugu und Malayalam. Davon trägt der in Bombay in der Nationalsprache Hindi produzierte Bollywood-Film mit nur etwa einem Viertel zur Gesamtproduktion bei. Dieser auch als Masala (wie Curry eine Gewürzmischung) bezeichnete Film läuft nach einem völlig unbekümmert eskapistischen Muster ab, mit großen Stars, Romanzen, komödiantischen Einlagen, Action, Fantasy und Kitsch, garniert mit sechs Liedern und Tänzen und einem Happy End. In den letzten Jahren bestehen Mainstream-Filmproduzenten tatsächlich auf mindestens sechs Lieder pro Film, damit der Verkauf von Audio-Produkten die Einnahmen in die Höhe treibt, selbst wenn der Film am Kinoschalter floppen sollte.
Oft werden solche "Tutti-Frutti-Filme" aufgrund des Namens des Regisseurs, der Stars und des Musikregisseurs verkauft, die Geschichte und ihre Umsetzung sind zweitrangig. Manchmal stellen die Filme nur wenig mehr als ein Klebeband zwischen den einzelnen Liedern dar. Für die Schauspieler klänge es futuristisch, das Drehbuch vor dem eigentlichen Dreh zu sehen zu bekommen. Bollywood ist eine lustige, chaotische Welt, in der ein und derselbe Star in bis zu zehn Filmen gleichzeitig mitspielt und darin oft sogar am selben Tag völlig verschiedene Charaktere spielt. Die Ergebnisse sind oft ziemlich aufschlussreich. Doch Filmfanatikern ist das völlig schnuppe und voller Begeisterung feilschen sie mit Schwarzhändlern um die Karten für die nächste Aufführung. Das Mainstream-Kino verbindet die sonst so ungleichen Kulturen des Subkontinents und bietet Tag für Tag 12 Millionen Menschen Unterhaltung.
In Hollywood ist das Musical ein bestimmtes Filmgenre, doch in Bollywood umfasst der Begriff mehr. Anders als das stereotype Gejubel in den Hollywood-Musicals, die zum Teil ein Gegenmittel darstellten für das Amerika der dreißiger Jahre nach der Großen Depression, hat das indische Kino seine Wurzeln im Urdu-Farsi-Theater, das historische persische Romanzen, Hindu-Mythen und traditionelles Volkstheater und Volksmusik zum Kern hat. So sind Melodramatik, Lieder und Tänze seit mehr als einem Jahrhundert Bollywoods Leitmotiv geblieben.
Das westliche Kino nutzt schon seit langem die bezwingende Macht von Gesang und Tanz, von alten Hollywood-Musicals bis zu Titanic (1997), vom nationalistischen ostdeutschen Kino der vierziger und fünfziger Jahre bis hin zum jüngsten "Anti-Musical" des Dänen Lars von Trier Dancer in the Dark (2000), das den strahlenden Höhepunkt durch Tragik ersetzt.
Übrigens ist auch Ägypten, das auf eine lange Geschichte eigenständigen Filmschaffens zurückblicken kann, die bis auf das Jahr 1918 zurückgeht, berühmt für seine Musicals. Das Aufkommen des Tonfilms fiel zeitlich mit dem Musikboom in Ägypten zusammen. ägyptische Sänger wie Umm Kulthum und Abdel Wahab waren durch ihre Schallplatten schon in der ganzen arabischen Welt bekannt und dies gab dem musikalischen Element in ägyptischen Filmen Auftrieb und trug dazu bei, dass Ägypten im arabischen Kino eine führende Rolle einnahm. In den letzten Jahren durchlebte die ägyptische Filmindustrie allerdings eine wirtschaftliche Krise und ihre Produktion sank auf durchschnittlich zehn Filme pro Jahr ab, während die indische Industrie nach wie vor fast hundertmal so viele Filme produziert.
Die Visualisierung von Gesang ist eine einzigartige Kunst des indischen Kinos. Sie verbindet die Talente der Dichter, der Musiker, Sänger, Choreographen und Videokünstler. Die ausländische Wertschätzung für diese Kunst ist nicht immer schmeichelhaft. Beim Berliner Filmfestival 2000 war ich Mitglied der internationalen Jury der Filmkritiker FIPRESCI (International Federation of Film Critics) und erfuhr, dass Mani Ratnam eine "internationale Version" seines Films Dil Se "Von Herzen" eingereicht hatte, aus der er einige Lieder herausgestrichen hatte. Der Jurykollege Derek Malcolm rief in gespieltem Entsetzen aus: "Es wäre toll gewesen, wenn er nur die Lieder eingereicht hätte." Der Eröffnungssong Chaiyya Chaiyya, in dem eine wohlgestaltete Maid auf einem fahrenden Zug tanzt, ist allerdings kaum zu übertreffen. Schließlich wurde die lokale Filmversion mit den vollständigen Liedern von der Jury beurteilt.
In der goldenen Zeit des indischen Kinos in den fünfziger Jahren beeinflusste die gerade unabhängig gewordene sozialistische Nation tatsächlich das Kino und vereinte mühelos sozialistischen Realismus mit Unterhaltung. Regisseure wie Raj Kapoor, Guru Dutt, Mehboob Khan und Bimal Roy sprachen in bewegenden Worten von der Not der Armen, der Wanderarbeiter und sozial Geächteten, und schufen doch unvergessliche Lieder, die Millionen von Fans bis heute singen. Ihre Lieder trieben die Geschichte voran, während seit den siebziger Jahren die Lieder hauptsächlich Warennummern sind, die in die Filme gestopft werden, um den Verkauf von Audioprodukten in die Höhe zu treiben.
Der Einfluss der Regisseure der französischen Nouvelle Vague der sechziger Jahre, der russischen Meister und insbesondere der italienischen Neorealisten wie Vittorio De Sica und Roberto Rossellini regte die indischen Regisseure an, ein paralleles oder Autorenkino zu schaffen, das im Realismus wurzelte und ohne Stars, Lieder oder Tänze auskam. Zu diesem Kino, das in den siebziger Jahren seine größten Erfolge feierte, bevor es vom Fernsehen fast erstickt wurde, gehören die Werke von Satyajit Ray, Adoor Gopalakrishnan, Mrinal Sen, Ritwik Ghatak, Shyam Benegal, Shaji Karun, Gobindan Aravindan, Girish Kasaravalli, Buddhadeb Dasgupta, Goutam Ghose, Ketan Mehta und Jahnu Barua. Doch war das indische Autorenkino nie in der Lage, das Mainstream-Kino ernsthaft herauszufordern. Tatsächlich bewegt sich Bollywood, das das künstlerisch anspruchsvolle indische Kino zuhause schon fast erdrückt hat, auf Zehenspitzen auf sein traditionelles Terrain zurück, den internationalen Festivalzirkus.
Mit der wirtschaftlichen Liberalisierung und dem wachsenden Konsum der Mittelschicht in den neunziger Jahren, hat dieses Muster üppige romantische Fantasien hervorgebracht wie Hum Aapke Hain Koun "Wer bin ich für Dich" (1994), Kuch Kuch Hota Hai "Etwas geschieht" (1999) und Dilwale Dulhaniya Le Jayenge "Der Tapfere gewinnt die Braut" (1995). Ihr Kennzeichen sind eine Dreiecksbeziehung (vorzugsweise mit einem im Ausland lebenden Freund, was für die NRI, für die Auslandsinder gedacht ist), üppige Kostümstücke und nicht enden wollende Hochzeitslieder. Beunruhigender ist jedoch, dass diese glatt verpackten Unterhaltungsfilme üblicherweise regressive Werte verstärken, wie das Bestehen auf arrangierten Ehen mit der idealen indischen Ehefrau als konservativer Hausfrau.
Glücklicherweise schließt sich um die Jahrtausendwende die Kluft zwischen Mainstream-Kino und dem Parallelkino mit ausgefallenen Filmen wie Lagaan von Ashutosh Gowariker, Zubeidaa "Zubeidaa die Geschichte einer Prinzessin" von Shyam Benegal (2000) und Chandni Bar "Nachtclub Chandni" von Madhur Bhandarkar (2001), die in unterschiedlichem Grad zu Erfolgen an den heimischen Kinoschaltern wurden.
Die jüngeren indischen Regisseure, die wohlhabender, weiter gereist und dem Weltkino stärker ausgesetzt sind als die Generationen vor ihnen, zielen jetzt auf den internationalen Markt. Anders als die Regisseure aus Familien der traditionellen Filmbranche wie Aditya Chopra oder Sooraj Barjatya, die sich auf die früheren "Silber-Jubiläums-Hits" ihrer Familien beziehen, warten die jungen Regisseure aus der Mittelschicht mit frischen Ideen auf und schöpfen direkt aus der Realität.
Die Frage ist, ob das indische Kino auch einen Film wie Crouching Tiger, Hidden Dragon "Geduckter Tiger, versteckter Drachen " (Hong Kong 2000) hervorbringen kann. Ang Lees Film gewann nicht nur vier Oscars und spielte weltweit mehr als 100 Millionen US-Dollar ein, er war auch ein Triumph des glocal, für ein Kino, das im lokalen Milieu und in lokaler Sprache produziert wurde und sich trotzdem einen globalen Markt geschaffen hat. Sind die indischen Regisseure auf ähnliche Weise in der Lage, das verbreitete Interesse, das Bollywood derzeit genießt, in weltweite Einnahmen am Kinoschalter umzusetzen, indem sie dem Bollywood-Muster oder seiner Kunst der Visualisierung von Gesang einen zusätzlichen Drall verleihen? Zur Zeit erscheint das höchst unwahrscheinlich.
Wird die Welt, die Satyajit Ray uneingeschränkt bewundert und die derzeit Bollywood bezaubernd findet, ebenso bereit sein, einen digitalen indischen Film in englischer Sprache zu akzeptieren oder einen Hindi-Film über verwestlichte, wohlhabende, großstädtische indische Familien, ohne Lieder oder exotisches Lokalkolorit? Oder werden solche Filme als nicht indisch genug betrachtet und zusammen mit dem Treibgut internationaler Filme fortgespült, die nicht ethnisch verwurzelt sind?
Dies ist eine aufregende Zeit, in der indische Regisseure die tückischen Riffe des internationalen Films umschiffen und mit der Frage ringen, ob sie sich auf die Weltbühne begeben und gleichzeitig ihre authentische Identität erhalten können. Und, wenn sie dafür einen Preis zahlen müssen, ob sie willens sind, dieses zu tun.
aus: der überblick 04/2003, Seite 25
AUTOR(EN):
Meenakshi Shedde:
Meenakshi Shedde, stellvertretende Herausgeberin und Filmkritikerin der indischen Tageszeitung "The Times of India", gewann den Nationalpreis für die beste Filmkritik und war Mitglied der Jury internationaler Kritiker bei den Filmfestivals von Cannes, Berlin und Venedig. Sie ist selbst Filmemacherin, und ihr Kurzfilm "Looking for Amitabh" wurde 2003 auf dem "Kala Ghoda Festival" in Bombay gezeigt.