Wie es zu einem globalen Konsens kam
Gestern galt schlicht der Mensch als korrupt, heute wird auch über korrupte Institutionen gestritten. Nach Ende des Kalten Krieges wurde aus einer Frage der persönlichen Moral eine höchst politische Angelegenheit. Mit Transparency International schuf man eine Organisation, auf deren Ranglisten korrupte Staaten am Pranger stehen. Heute wetteifern alle darum, dieses Übel zu bekämpfen, von der Basis-Aktivistin in Kenia bis zum Präsidenten der Weltbank in Washington. Ökonomen quantifizieren den durch Korruption verursachten Schaden und drängen ethnologische, soziale und politologische Analysen in den Hintergrund.
von Ivan Krastev
"Über die gesicherten Erkenntnisse hinausgehend, wage ich eine Prognose: So wie die Sklaverei einst eine Lebensform war, die inzwischen überholt und unverständlich ist, so wird auch Bestechung eines Tages überholt sein." Diese Prophezeiung, die vor mehr als zwei Jahrzehnten der amerikanische Moralphilosoph und Korruptionsexperte John T. Noonan in seinem Buch Bribes machte, hat sich in gewisser Weise bewahrheitet. Zwar ist Bestechung keineswegs so überholt wie Sklaverei ganz im Gegenteil, sie ist heute so verbreitet wie McDonalds , aber die Antikorruptions- Rhetorik beginnt, der Antisklaverei-Rhetorik zu ähneln.
Führende Persönlichkeiten der Welt, Journalisten und einfache Bürger sind von dem Thema geradezu besessen. Auf die Frage, wie die vom Internationalen Währungsfonds (IWF) geförderten Strukturanpassungen zu begründen seien, antwortete Michel Camdessus, von 1987 bis 2000 geschäftsführender Direktor des IWF, mit einer fast religiösen Rechtfertigung der Politik seiner Institution: "Sie können nicht Strukturanpassungen verurteilen und gleichzeitig gegen die Struktur der Sünde sein. Wenn Sie gegen die Strukturen der Sünde sind, die unsere Welt heimsuchen Korruption, Vetternwirtschaft, Wettbewerbsabsprachen, Protektionismus , dann müssen Sie sich für Strukturanpassungen entscheiden, ob Ihnen das nun gefällt oder nicht."
In der letzten Dekade des zwanzigsten Jahrhunderts ist das Interesse an der Korruption weltweit geradezu explodiert. Von 1982 bis 1987 erschien das Wort "Korruption" durchschnittlich 229 Mal pro Jahr auf den Seiten von The Economist und Financial Times, von 1989 bis 1992 im Durchschnitt 502 Mal pro Jahr. 1993 wurde das Wort "Korruption" in den beiden renommiertesten europäischen Publikationen über Politik und der Finanzen 1076 Mal erwähnt. 1994 wurde es 1099 Mal, 1995 sogar 1246 Mal genannt. Und dieser Trend ist ungebrochen.
Der IWF und die Weltbank haben inzwischen ihre Kreditvergabe an Transparenzklauseln gebunden. 1996 überarbeitete die Weltbank ihre Richtlinien, die nunmehr explizit festlegen, dass Korruption und Betrug Gründe für eine Vertragsaufhebung sind, wenn der Kreditnehmer keine entsprechenden Maßnahmen ergreift. Im Dezember 1997 unterzeichnete der Rat der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) ein internationales Abkommen, das von den Unterzeichnerstaaten verlangt, die Bestechung ausländischer Amtsträger für ungesetzlich zu erklären. 1997 fror der IWF Kredite in Höhe von 227 Millionen Dollar an Kenia ein, weil dessen Regierungsführung Anlass zur Sorge gab. Bei der Jahresversammlung von Weltbank und IWF 1997 war Korruption ein zentrales Thema. Milliarden US-Dollar wurden seitdem für Projekte zur Korruptionsbekämpfung ausgegeben. In so unterschiedlichen Ländern wie Russland, China, den USA, Deutschland, Mexiko und Nigeria stand Korruption auf der politischen Agenda ganz oben.
Der neue Weltbankpräsident Paul Wolfowitz hat dafür gesorgt, dass ein Besorgnis erregendes Ausmaß an Korruption zu einem Ausschlusskriterium wird. Obwohl er erst ein Jahr im Amt ist, hat die Weltbank Kredite für mehrere Projekte eingefroren, in denen Korruptionsverdacht aufkam. In der Entwicklungszusammenarbeit wächst die Angst, der Eifer des neuen Präsidenten werde den Menschen in einigen der ärmsten Länder der Welt eher schaden. Aber Wolfowitz ist von der zentralen Bedeutung seines Anliegens überzeugt. In seinen Augen ist Korruption der Feind. Und der Feind muss besiegt werden.
Was ist passiert? Gibt es heute mehr Korruption als früher? Richtet Korruption heute mehr Schaden an? Warum ist die globalisierte Welt weniger korruptionstolerant als die Welt vor der Globalisierung?
Welche Faktoren erklären die neue Sichtbarkeit der Korruption?
Das Ende des Kalten Krieges
Damit war eine Phase politischer Heuchelei beendet. Es gab für westliche Demokratien nun keinen Grund mehr, korrupte Diktatoren zu stützen. Nach dem Ausschalten der sowjetischen Bedrohung war die Tolerierung von Korruption nicht mehr sicherheitsrelevant.
Das Ende der Ideologie
Mit dem Ende des Kommunismus war der große Kampf der Ideologien vorbei. Die Bürger westlicher Demokratien richteten nun ihr Augenmerk auf die Integrität und Persönlichkeit der Politiker. Mit der "Amerikanisierung" europäischer Politik wurde das alte System des Verkaufs von Ideologien durch ein neues ersetzt, in dem Führungspersonen verkauft wurden. Moralische Werte beschäftigten die Gemüter.
Das Ende des Realsozialismus
In Osteuropa speist sich die neue Empfindlichkeit gegen Korruption aus ganz eigenen Quellen. Das alte System der gegenseitigen "Gefälligkeiten" allgegenwärtig in der kommunistischen Ära und typisch für sie wurde von einem weit weniger ausgeklügelten Bestechungssystem abgelöst. Osteuropa ging von einer "Tu-mir-einen-Gefallen- Gesellschaft" zu einer "Zahl-mir-ein-Bestechungsgeld- Gesellschaft" über. Dass sich die soziale Schere in postkommunistischen Ländern so schnell und so weit öffnete, war mit Unternehmergeist und harter Arbeit nur schwer zu erklären. Für die Herausbildung einer neuen Schicht der Reichen und einer neuen Schicht der Armen, für die rätselhaften Faktoren, die über Erfolg oder Scheitern entschieden, schien es nur eine einzige glaubhafte Erklärung zu geben Korruption.
Auch die umfassende Privatisierung bot neue Anreize für korruptes Verhalten. Man muss sich nur einmal vorstellen, in welchem Ausmaß im ehemaligen Sowjetblock Reichtum umverteilt wurde, dann wird auch verständlich, warum Osteuropa so auf Korruption fixiert ist.
Der Siegeszug der neuen Medien
Die neuen weltumspannenden Informationsnetze und die Popularität des Enthüllungsjournalismus tragen dazu bei, dass Korruption stärker ins öffentliche Blickfeld rückt. Per Mausklick können wir uns heute über die Kohl-Affäre in Deutschland, über den Kreditkartenskandal im Kreml und über den Skandal bei der Bank of New York informieren. Korruption verkauft sich gut, weil Bestechung "so intim wie eine Verführung und so zwingend wie eine Vergewaltigung" ist. Die Veröffentlichung von Korruptionsstories ist so einträglich wie Investitionen in manche Internetaktien, aber risikoärmer.
Die Ausbreitung der Demokratie
Auch die Ausbreitung demokratischer Prinzipien ist ein Grund, warum Korruption heute so heiß diskutiert wird. Demokratien sind nicht per definitionem transparenter als nicht-demokratische Systeme. In demokratischen Ländern stellen sich aber Regierungen der Wahl und riskieren, nicht wiedergewählt zu werden. Der Wahlwettbewerb erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass korrupte Handlungen ans Licht kommen. Weil heute in mehr Ländern Wahlen stattfinden, wird Korruption weltweit stärker wahrgenommen und mehr Gewicht beigemessen.
Die Entwicklung des globalen Marktes
Die neue Mobilität und der neue globale Markt tragen dazu bei, korrupte Strukturen sichtbar zu machen. Der Ökonom Vito Tanzi beschreibt das in seinem Buch Corruption Around the World (1998) so: "Die Globalisierung hat häufige Kontakte zwischen Menschen aus Ländern mit wenig Korruption und Menschen aus Ländern mit endemischer Korruption mit sich gebracht. Im Zuge dieser Kontakte stieg das internationale Interesse an Korruption, vor allem als einige Firmen glaubten, im Wettbewerb um Aufträge deswegen zu unterliegen, weil andere Firmen Bestechungsgelder zahlten."
Der Aufstieg der Zivilgesellschaft
Das Engagement der Zivilgesellschaft und die Sensibilisierungskampagnen der Nichtregierungsorganisationen (NGOs) haben eine korruptionskritische Stimmung geschaffen. Zum Teil ist es zivilgesellschaftlichem Engagement zu verdanken, dass Korruption heute nicht nur ein Problem der korrupten Länder ist, sondern auch ein Problem der Länder und ausländischen Unternehmen, die sie korrumpieren. Aktivisten der Zivilgesellschaft haben unseren Blick auf die Tatsache gelenkt, dass im Osten verdiente Bestechungsgelder auf den Konten westlicher Banken liegen.
Die Zunahme des organisierten Verbrechens
Interpol berichtet, dass allein im Jahr 1999 der geschätzte Ertrag aus dem organisierten Verbrechen zwischen 400 und 650 Milliarden US-Dollar liegt. Korruption und organisiertes Verbrechen sind strukturell verbunden. Korruption schwächt den Staat, indem sie ihn daran hindert, seine richterliche Gewalt auszuüben. Wenn der Staat Regeln keine Geltung verschaffen kann, entsteht ein Vakuum, das durch das organisierte Verbrechen gefüllt wird. Sind Regierung und Justiz so korrumpiert, dass sie den Parteien nicht helfen können, Rechte aus einem Vertrag geltend zu machen, bleibt als vollstreckende Kraft nur die Mafia. In diesem Sinn ist organisiertes Verbrechen sowohl als Ursache wie auch als Ergebnis zunehmender Korruption zu betrachten.
Alle diese Faktoren erklären aber noch nicht hinreichend, wie Korruption zu einem weltpolitischen Thema wurde und warum die internationalen Organisationen Korruption zu den Strukturen wirtschaftlicher Sünde zählen. Die beliebte Geschichte, wie die Weltbank, der IWF und die OECD Korruption entdeckten und zu bekämpfen beschlossen, liest sich wie eine Seifenoper. Nach dieser Populärversion war der neue globale Feldzug gegen Korruption eine Reaktion auf den Druck, den die neu entstehende Weltzivilgesellschaft ausübte.
Transparency International
Am Anfang, so lautet die Geschichte, stand Transparency International (TI). Diese nichtstaatliche Organisation (NGO) wurde 1993 von einer Gruppe ehemaliger Führungskräfte der Weltbank mit dem erklärten Ziel gegründet, in aller Welt Korruption zu bekämpfen und Transparenz zu fördern. In wenigen Jahren bewirkte TI einiges. Sie bewog internationale Organisationen zu erkennen, dass Korruption ein globales Problem ist, das nicht allein in der Dritten Welt und Osteuropa angesiedelt werden kann. Die Art und Weise, wie OECD-Länder mit Korruption außerhalb der eigenen Grenzen umgehen, wurde als Ursache für die aktuelle "Epidemie der Korruption" identifiziert.
Als Strategie zur Bekämpfung der Korruption setzte TI auf Transparenz. Der konfrontationsfreie Ansatz der Korruptionsbekämpfung wurde durch die eigene Organisationsstruktur unterstrichen. Die nationalen TI-Sektionen brachten Vertreter der Zivilgesellschaft, der Wirtschaft und des Staates an einen Tisch und blieben unter dem Dach der internationalen TI-Organisation autonom. Dieser kollektive Ansatz zur Mobilisierung von Kräften gegen die Korruption erwies sich als sehr erfolgreich im Umgang mit internationalen Institutionen, blieb aber von den jeweiligen örtlichen Antikorruptionsdebatten immer distanziert. Unter den Gründern nationaler TI-Sektionen sind häufig Namen zu finden, die man aus lokalen Korruptionsskandalen kennt. Der TI-Ansatz ist so integrativ, dass es oft schwer fällt, die Gegner auszumachen. Aber in der zivilgesellschaftlichen Version der Geschichte haben wir die aktuelle Welle der Ehrbarkeit TI zu verdanken. TI kann durchaus als ein Mitbegründer des heutigen Antikorruptionskonsenses gesehen werden, aber auch als Instrument einer Politik, auf die sich Weltbank und US-Außenministerium bereits geeinigt hatten.
Das US-Außenministerium
In dieser alternativen Version der Geschichte stand nicht Transparency International am Anfang, sondern das US-Außenministerium. Die Geschichte der Korruptionsbesessenheit der amerikanischen Wirtschaftswelt reicht bis in die 1970er Jahre zurück. Getrieben vom Geist der "Gewissensforschung" nach der Watergate-Affäre und vom Schock des Lockheed-Skandals (bei dem der amerikanische Flugzeughersteller in Japan in den größten Skandal seit dem Zweiten Weltkrieg verwickelt war) erließen die amerikanischen Gesetzgeber 1977 den Foreign Corruption Practices Act. Dieses Gesetz (mittlerweile in der geänderten Fassung von 1988) stellt die Bestechung ausländischer Amtsträger durch amerikanische Bürger und Unternehmen unter Strafe. Ab den 1970er Jahren beklagten sich amerikanische Wirtschaftsvertreter, dass die härtere Haltung der USA gegenüber Korruption die Geschäftschancen amerikanischer Unternehmen in Ländern der Dritten Welt, in denen Bestechungsgelder erwartet werden, erheblich beeinträchtige.
Nach einem Bericht des US-Handelsministeriums, der 1996 mit Hilfe von US-Nachrichtendiensten erarbeitet wurde, verloren amerikanische Unternehmen in den Jahren 1994 und 1995 Aufträge im Wert von elf Milliarden US-Dollar an Konkurrenten, die Bestechungsgelder zahlten. The Economist beruft sich auf eine andere Regierungsstudie, nach der amerikanische Firmen 1994 und 1995 rund 100 Aufträge im Wert von 45 Milliarden US-Dollar an Konkurrenten mit weniger strengen Grundsätzen verloren.
Die diesen Zahlen zugrunde liegenden Untersuchungen blieben unter Verschluss. Es ist schwer zu sagen, wie die Verluste geschätzt wurden. Aber die USA nahmen sie zum Anlass, die anderen OECD-Länder dazu aufzurufen, die Zahlung von Bestechungsgeldern an ausländische Amtsträger unter Strafe zu stellen und die Steuerabzugsfähigkeit von Bestechungsgeldern in Ländern wie Deutschland und Frankreich abzuschaffen.
Der Sinneswandel der multinationalen Unternehmen
In den 1960er und 1970er Jahren hielten ausländische Investoren Korruption für ein probates Mittel, um die Wirtschaft von Entwicklungsländern zu erschließen und zu modernisieren. Korruption war ein Instrument, um die protektionistischen Schranken zu durchbrechen, die Regierungen postkolonialer Staaten errichtet hatten. In der schönen neuen Welt der Welthandelsorganisation (WTO) ist aber Protektionismus ein für die meisten Regierungen unerschwinglicher Luxus. In den Transformationsökonomien Mittel- und Osteuropas ist Protektionismus schier undenkbar. Ihre Abhängigkeit von IWF-Krediten und ihr Wettbewerb um ausländische Direktinvestitionen hat sie gezwungen, ihre Märkte zu öffnen und nicht-protektionistische Gesetze zu erlassen. Dieses neue, offene Klima ist der Hauptgrund für den Sinneswandel der Multinationalen im Hinblick auf die Korruption.
Auf korrupten Waren- und Dienstleistungsmärkten muss man gute Ortskenntnisse haben und Gepflogenheiten kennen. Um Amtsträger zu bestechen und Aufträge zu erhalten, reicht es nicht, die höchste Summe in der dicksten Tüte anzubieten. Der Markt für Korruptionsleistungen ist ein geschlossener Markt, der im Verborgenen funktioniert. Um auf diesem Markt wettbewerbsfähig zu sein, muss man wissen, wen man wann und wie besticht. Lokale Unternehmen haben auf dem Korruptionsmarkt eine sehr viel bessere Position, weil sie in bestehende Netze eingebunden sind und die Gegebenheiten vor Ort kennen. Mit anderen Worten: Ein korruptes Geschäftsumfeld ist für lokale Unternehmen sehr viel vorteilhafter als für ausländische Investoren. Bei den großen Korruptionsskandalen der letzten Jahre in Osteuropa ging es nie darum, dass multinationale Unternehmen Aufträge erhalten hätten, sondern immer darum, dass multinationale Unternehmen Aufträge nicht erhielten oder sich in ihren Eigentumsrechten beschnitten sahen.
Die Erkenntnis, dass Korruption eine versteckte Form von Protektionismus ist, war ausschlaggebend dafür, dass multinationale Unternehmen sich dem Feldzug gegen die Korruption anschlossen und auf eine wirksame Eindämmung der Korruption drangen. Das heißt nun nicht, dass multinationale Unternehmen nicht mehr bestechen; es heißt lediglich, dass sie heute die normalen Märkte vorziehen.
Die Weltbank und der IWF
Auch die Weltbank und dann im Anschluss der IWF erkannten, dass Korruption schädlich ist und das Thema zur Lösung anderer Probleme hilfreich sein kann. Heute wird gerne vergessen, dass beide Organisationen Institutionen des Kalten Krieges waren und dass ihr Auftrag im Kontext der globalen Konfrontation zwischen der freien Welt und dem Kommunismus formuliert wurde. Die Weltbank spielte eine wichtige Rolle in dem Bemühen, das Eindringen des Kommunismus in arme Länder der Dritten Welt zu verhindern. Bei der Ausübung ihrer fördernden und kontrollierenden Funktion nahm die Weltbank auf die Sensibilitäten ihrer Dritte-Welt-Kunden sehr viel Rücksicht. Während des gesamten Kalten Krieges gab es nicht einmal das Wort "Korruption" im Vokabular des IWF und der Weltbank. "Als ich zur Weltbank kam", schreibt James Wolfensohn, Weltbankpräsident zwischen 1995 und 2005, "sagte man mir, es gebe ein Wort, das ich nicht verwenden dürfe, das 'K-Wort', und 'K' stand für Korruption. Sehen Sie, Korruption wurde mit Politik gleichgesetzt, und sollte ich mich da einmischen, würde mir der Vorstand die Hölle heiß machen."
Aber ab 1996 war es der Weltbank und dem IWF nicht mehr möglich, vor der Korruption die Augen zu verschließen. Dass sie sich dem Thema schließlich zuwandten, hat mehrere Gründe. Einer war die Forderung nach mehr Transparenz und klareren Rechenschaftsstrukturen bei ihren Programmen. In den Augen ihrer Kritiker waren die Institutionen des Washingtoner Konsenses nicht nur zu weich, wenn es um Korruption ging. Man warf ihnen außerdem vor, selbst Urheber von Korruption zu sein. Der zweite Grund war der Druck seitens der USA, good governance (gute Regierungsführung) als eine der Konditionalitäten der Weltbank- und IWF-Programme einzuführen.
Der dritte war die zunehmende Kritik an den politischen Inhalten des Washingtoner Konsenses und der Druck von einflussreichen konservativen Kreisen in den USA, die eine Schließung der Weltbank oder zumindest eine Reduzierung ihrer Rolle auf ein Minimum forderten. Korruptionsbekämpfung wurde Teil der neuen Strategie der Weltbank und in geringerem Maß des IWF. Beide wollten so ihre Nützlichkeit in der Welt nach dem Kalten Krieg beweisen. Für die Weltbank brachte die Agenda für good governance und Transparenz drei klare Vorteile: Erstens packte sie die vom neuen Präsidenten James Wolfensohn eingeleitete Neuorganisation des Managements und die neue Ausrichtung der Programme auf Institutionsbildung und Wissensvermittlung in ein Paket, zweitens verbesserte sie das Image der Weltbank, und drittens erlaubte sie der Weltbank, sich von den orthodoxen Grundsätzen des IWF abzuheben. In ihrem Jahresbericht für 1997 formulierte sie ihre Haltung zu den Beziehungen zwischen Staat und Markt neu. Sie zog nun den Schluss, dass es ohne einen funktionierenden Staat keinen funktionierenden Markt gebe und dass institutionelle Reformen in Transformationsprozessen Priorität genießen sollten.
Nicht die falsche Politik, sondern falsche Prioritäten wurden für politisches Scheitern verantwortlich gemacht. In der Sprachregelung des Washingtoner Konsenses war das schwache institutionelle Umfeld in Ländern wie Russland die Ursache für das Scheitern des ersten Reformpakets. Als gemeinsames Merkmal der verschiedenen Misserfolge in unterschiedlichen Kontexten wurde das Vorhandensein endemischer Korruption identifiziert. Die Fokussierung auf Korruption half der Weltbank, ihre Misserfolge zu erklären. Sie schuf auch eine Plattform für interne Reformer wie Joseph Stiglitz, die eine Abkehr von orthodoxem Denken forderten.
Um das Problem der Korruption aber anzugehen, musste die Weltbank es zunächst entpolitisieren. "Ich besuchte zahlreiche Länder", erinnert sich Wolfensohn, "und ich beschloss, dass ich das 'K'-Wort neu definieren würde, nicht als politisches Problem, sondern als ein soziales und wirtschaftliches." Die Neudefinition erfolgte 1996. Korruption war nicht länger ein politisches Problem. Die Reformen der zweiten Generation, so hieß es nun, können nur dann erfolgreich sein, wenn es gelingt, die "Hyperkorruption" abzuschaffen. Eine weltweite Initiative zur Bekämpfung der Korruption war notwendig. 1997 veröffentlichte die Weltbank das Dokument "Helping Countries Combat Corruption", das sie als Antikorruptions-Beraterin höchster Instanz auswies. Hier sei unterstrichen, dass die "Entdeckung" der Korruption durch die Weltbank nicht auf eine zynische Strategie zum Recycling alter Politiken und zur Erlangung neuer Legitimität reduziert werden kann. Die Erfahrungen der Weltbank mit Russland führten zu einem Umdenken im Hinblick auf die Probleme der Weltentwicklung, und nur so ist der neue Korruptionsbekämpfungseifer der internationalen Finanzinstitutionen zu erklären. Die Korruptionsbesessenheit war eine direkte Folge der Besessenheit von Russland und den Transformationsökonomien insgesamt.
Die Wissenschaft entdeckt die Korruption
Der faszinierendste Teil meiner Geschichte handelt nicht vom amerikanischen Druck auf die OECD-Verhandlungen über Bestechung, er handelt nicht von der Russlandbesessenheit der Weltbank und nicht davon, dass sie als Institution ein Interesse daran hat, Korruption als Wirtschaftsproblem zu behandeln. Es ist dies keine Geschichte über die Rolle internationaler NGOs. Es ist eine Geschichte über Sozialwissenschaften.
Korruption war traditionell ein für die Sozialwissenschaften fremdes Thema. Im theoretischen Diskurs des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts fehlt es nahezu völlig. "Korruption" ist in den Indexen der gesammelten Werke von Karl Marx und John Stuart Mill nicht erwähnt. Für das 19. Jahrhundert war Korruption etwas, mit dem man leben musste, über das man plauderte, über das man klagte, aber ernsthaft nachdenken musste man darüber nicht. "Korruption" war in Zeitungen und Pamphleten zu finden, nicht aber in wissenschaftlichen Werken.
Korruption wurde in erster Linie als moralische Frage verstanden und war als solche für die Sozialforschung nicht interessant. In seinem 1991 erschienenen Buch Corruption: Ethics and Power in Florence in 1600-1770 zeigt Jean-Claude Waquet auf, dass es im damaligen Korruptionsdiskurs nicht um die Regierung, sondern um die menschliche Natur ging. Aus diesem Grund wurde zwar über Korruption in der politischen Literatur berichtet, aber nicht weiter reflektiert. Weil man überzeugt war, dass korrupte Personen Institutionen korrumpieren, debattierte man nicht über Korruption als Funktion in einer Institution.
Eine Schwierigkeit im Umgang mit der Korruption ist die Definition ihrer Funktionen in der Gesellschaft. Der heutige Konsens, dass Korruption der Entwicklung schadet, hätte noch vor zehn Jahren keine allgemeine Zustimmung gefunden. In den 1960er und 1970er Jahren wurde Korruption im Zusammenhang mit der Dritten Welt mehr als ausführlich diskutiert, aber einen Konsens über ihre Auswirkungen auf die Entwicklung gab es nicht. Das Wirtschaftswunder in Asien sprach nicht für eine harte Haltung gegenüber der Korruption. Die südasiatischen Tiger entwickelten sich gut, obwohl sie als korrupt galten.
Ein weiterer Grund, warum Wissenschaftler und Politiker vorsichtig waren, Korruption zu verurteilen, war politischer Natur. In Zeiten des Kalten Krieges wurde Korruption von vielen als demokratische Krankheit angesehen: Viele Militärcoups und kommunistische Machtübernahmen in verschiedenen Teilen der Welt wurden mit dem Argument der Korruptionsbekämpfung begründet. "Korruption ist ein Faktor im Kalten Krieg", schrieb The Economist 1957. Die Antikorruptions- Rhetorik wurde als Deckmantel für kommunistische Revolutionsrhetorik verstanden.
In den 1960er und 1970er Jahren gab es bei der Bewertung der Rolle der Korruption in Entwicklungsländern im Wesentlichen zwei Denkschulen. Unter anderem der amerikanische Politologe Samuel Huntington vertrat in Political Order in Changing Societies (1968) die Ansicht, Korruption könne positive Auswirkungen haben. Sie reduziere die Gewalt. Und sei eine Form der Anpassung an die Moderne. Sie sei antirevolutionär. "Wer den Polizeibeamten eines Systems besticht", sagte Huntington, "wird sich wahrscheinlich eher mit dem System identifizieren als jemand, der die Polizeiwache des Systems stürmt." In seinem 1972 erschienenen Buch Comparative Political Corruption zeigt der Politologe James Scott mehrere verborgene Funktionen der Korruption im Kontext postkolonialer Modernisierung auf. Korruption war beispielsweise der einzige Weg für die chinesische Minderheit in Malaysia, sich Zugang zum politischen Entscheidungsprozess zu verschaffen. In der Sowjetunion galt blat (der nicht-monetäre Austausch von Gefälligkeiten) als eine Form der Anpassung der Bevölkerung an die Knappheitswirtschaft.
Die moralisierende Schule der Korruptionsdebatte war nicht bereit, die progressive Rolle der Bestechung in Entwicklungsländern anzuerkennen. Sie betonte die nachhaltigen Schadwirkungen der Korruption auf das Funktionieren der nationalen Verwaltung und ihren negativen Einfluss auf die Staatskultur. Korruptionskritiker beurteilten die Wirkungen der Korruption viel mehr in der langfristigen Perspektive von Staats- und Gesellschaftsaufbau als aus dem Blickwinkel ihrer direkten Kosten. Einig waren sich Apologeten und Moralisten jedoch darin, dass Korruption ein sensibles Thema ist und immer in ihrem jeweiligen Kontext betrachtet werden muss. In den 1960er und 1970er Jahren wäre es geradezu ketzerisch gewesen zu glauben, ein Grundsatzpaket zur Korruptionsbekämpfung mit weltweiter Gültigkeit könne entwickelt und Nigeria, Russland, Mexiko und China gleichermaßen angeboten werden.
Vor dem Hintergrund dieser alten Debatte ist das heutige Paradigma der Korruptionsbekämpfung erfrischend neu. Die Herauslösung des Korruptionsbekämpfungswissens aus dem jeweiligen Kontext begann damit, dass Korruption nicht mehr als politisches, sondern nunmehr als wirtschaftliches Problem definiert wurde. Drei wichtige "Entdeckungen" folgten, die dem neuen Paradigma den Weg bereiteten. Zuerst kam die Entdeckung, dass Korruption ein institutionelles Problem ist. Dann kam die Entdeckung, dass altes Wissen über Korruption politikirrelevant ist. Und schließlich die große Entdeckung, dass Korruption quantifiziert werden kann. Die Geschichte dieser drei großen Entdeckungen handelt auch davon, wie der wirtschaftliche Diskurs alle anderen Diskurse aus der Korruptionsdebatte verdrängte.
Die entscheidende Wende im Korruptionsverständnis war die Annahme, dass die korrupte Handlung ein rationales Verhalten sei, das bei bestimmten Anreizen erfolgt. Die richtigen Anreize zu setzen, wurde nun für ausreichend erachtet, um endemische Korruption zu verringern. Während man im 17. Jahrhundert zu der Ansicht neigte, dass korrupte Menschen die Institutionen korrumpieren, zeigten die letzten Jahre nicht nur, dass Institutionen Menschen korrumpieren, sondern machten zudem deutlich, dass das Problem der Korruption ein Problem politischer Optionen ist. Menschen werden korrumpiert, weil sie politische Kurse einschlagen, die Korruption fördern.
Diese Herauslösung des Korruptionsverständnisses aus dem konkreten Zusammenhang war nur deswegen möglich, weil die Nicht-Ökonomen es versäumten, das Risiko einer globalen Antikorruptionspolitik zu diskutieren. Dass Ethnologen, Soziologen und Politologen den Ökonomen das Monopol auf die Korruptionsdebatte nicht streitig machten, hängt mit der Entdeckung der politischen Unkorrektheit kultureller Argumente in Verbindung mit Korruption zusammen. In der Entwicklungsdebatte der 1960er Jahre konzentrierten sich viele Ethnologen und Politologen auf Fallstudien über Korruption, die Beispiele dafür lieferten, dass verschiedene Formen der Korruption für verschiedene politische und kulturelle Systeme charakteristisch sind. Differenzierung war die grundlegende Methode zur Untersuchung der Korruption. Das Individuum wurde in seinem kulturellen und politischen Umfeld "rationalisiert". Im alten Diskurs über Korruption wurde argumentiert, dass verschiedene politische Systeme Voraussetzungen für verschiedene Formen der Korruption schaffen.
Eine direkte Verbindung zwischen der Ausbreitung der Bagatellkorruption und der Zunahme der politischen Korruption wurde nicht hergestellt. Der alte Diskurs suchte nach Erklärungen. Es war ein Korruptions-, kein Antikorruptionsdiskurs. Mit dem Argument, westliche Normen für korruptes Verhalten seien auf nicht-westliche Gesellschaften nicht anwendbar, glaubten die meisten Ethnologen und Politologen, nichtwestliche Gesellschaften gegen die unfairen Vorwürfe exzessiver Korruption verteidigen zu müssen. In den 1980er Jahren begann man, eben diese Plädoyers für kulturelle Verschiedenartigkeit als Vorwand zu verstehen, die betroffenen Gesellschaften im Hinblick auf Entwicklung und wirtschaftliches Wachstum als minderwertig zu behandeln. Anthropologen mussten erleben, dass ihre geliebten Eingeborenen ihre Haltung scharf kritisierten. In der akademischen Debatte der letzten Jahre über die politische Ökonomie der Korruption in Afrika wird der Widerstand der afrikanischen Bevölkerung gegen eine Betrachtung der Korruption unter kulturellen Aspekten deutlich. Das schuf Raum für ein globales Herangehen an die Korruptionsthematik und passte gut zur neoliberalen Politik des so genannten Washingtoner Konsenses.
Der Washingtoner Konsens, der in den 1980er Jahren den Ton angab, beendete die Spaltung zwischen der Entwicklungsökonomie und dem wirtschaftstheoretischen Mainstream. Akzeptiert wurde nun, dass sich der Weg der Nationen zu Wohlstand in den verschiedenen Teilen der Welt nicht grundsätzlich unterscheidet. Außerdem wurde entdeckt, dass Wohlstand einfach dadurch zu erreichen ist, dass man die richtigen politischen Entscheidungen trifft und diesen treu bleibt. Mit diesem radikalen Umschwung im Entwicklungsverständnis mussten die wesentlichen Erkenntnisse aus den alten Korruptionsstudien neu formuliert werden. In den 1960er Jahren war man allgemein der Ansicht, dass ärmere Länder tendenziell korrupter sind. In den 1990er Jahren sagte der gesunde Menschenverstand, dass nicht die armen Länder korrupter sind, sondern dass korrupte Länder arm sind.
Die neue Lehre der Korruptionsbekämpfung besagte, dass Korruption nichts mit kulturellen Merkmalen zu tun habe, sondern für bestimmte institutionelle Rahmenbedingungen und politische Orientierungen charakteristisch sei. Aber all dieses neue Wissen über Korruption war im Grunde normativ. Es war sehr schwer zu überprüfen, denn Korruption war nicht messbar. Nachdem Korruption zu einem entpolitisierten wirtschaftlichen Thema gemacht worden war, brauchte man neue Werkzeuge, um sie zu untersuchen. Das neue Moment in dieser Entwicklung der Korruption zu einem globalen Thema war die Erkenntnis, dass Korruption gemessen werden kann.
Wie alle großen Entdeckungen war diese Entdeckung, ein Produkt aus Glück, Interesse und Zufall. Um auf die öffentliche Meinung Einfluss zu nehmen und Unterstützung für globale Maßnahmen der Korruptionsbekämpfung zu mobilisieren, beschloss Transparency International, eine Länderrangliste des Ausmaßes der Korruption zu erarbeiten. 1994 legte TI seinen ersten Korruptionswahrnehmungsindex vor. Auf der Grundlage von Gesprächen mit erfahrenen Führungskräften multinationaler Unternehmen und einem Abgleich ihrer Antworten mit Informationen aus anderen Quellen erstellte TI eine Rangfolge von 53 Ländern. Der Korruptionsindex hatte durchschlagende Wirkung. Alle großen Zeitungen der Welt veröffentlichten und kommentierten ihn. Oppositionsparteien verwiesen auf ihn. Regierungen attackierten ihn. Aber seine wichtigste Wirkung bestand darin, dass er die Öffentlichkeit davon überzeugte, der Korruptionsgrad verschiedener Länder könne verglichen und die Verbreitung der Korruption in einem Land überwacht werden.
Als Erkenntnisse wären zu nennen: Korruption behindert Wirtschaftswachstum; sie bremst den Zustrom ausländischer Investitionen wenn demnach zwei Länder sonst gleiche Bedingungen aufweisen, werden ausländische Direktinvestitionen in das weniger korrupte Land fließen; Korruption schadet zumeist armen Menschen; sie verdreht die Logik öffentlicher Investitionen denn Regierungen bevorzugen Projekte mit höherem Korruptionspotenzial.
Korruption war nun nicht mehr eine Frage von Anekdoten und kontextsensibler Analyse. Die Untersuchung der Korruption wurde ähnlich gehandhabt wie die Untersuchung der Inflation. Die Ursachen der Korruption wurden auf die Wirkung der Regierungsrolle in der Politik reduziert. Der Korruptionsindex von Transparency International ursprünglich als PR-Instrument gedacht wurde zu harten Fakten hochstilisiert, auf deren Basis man begann, die neue Antikorruptionspolitik zu gestalten. Ökonomen gelang es, das Grundproblem im Zusammenhang mit der Korruption das Fehlen von Daten zu lösen, und mit der Legitimität, die jede quantitative Analyse genießt, verdrängten sie nicht-ökonomische Korruptionsdiskurse völlig von der Tagesordnung.
Ein Konsens voller Widersprüche
Der globale Antikorruptionskonsens war weder eine Folge der Zunahme von Korruption, auch nicht der vermehrten Sichtbarkeit von Korruption, noch eine Reaktion darauf. Der Konsens ergab sich aus dem Schulterschluss globaler Akteure, in deren Interesse es liegt, Korruption zu ihrem Thema zu machen. Diese globalen Akteure sind die Regierung der USA, die internationalen Finanzinstitutionen und große Auslandsinvestoren. Aber erst durch das Auftreten von Transparency International als globaler Antikorruptions-NGO, die den Menschen "vor Ort" eine Stimme verlieh, und durch die Daten, die die neue Antikorruptions-Wissenschaft lieferte, erlangte der neue Konsens über Korruption als weltpolitische Angelegenheit Gültigkeit. Die wesentliche Voraussetzung für das Entstehen des neuen Konsenses war die Marginalisierung der nicht-ökonomischen Diskurse über Korruption.
Das von Weltbank und IWF geförderte Politikpaket zur Korruptionsbekämpfung ist im Grunde nichts anderes als eine Neufassung der politischen Inhalte des Washingtoner Konsenses. Paradox ist, dass gerade die Demokratie-Aktivisten, die eine solche Politik sonst jederzeit attackieren, ganz still wurden, als sie ihnen in Form einer Kampagne gegen die Korruption präsentiert wurde. Korruptionsbekämpfung wurde zum Hauptargument, um neoliberale Wirtschafts- und Regierungspolitik zu rechtfertigen.
Der Konsens über Korruption, der eigentlich ein Konsens über die wirtschaftlichen, sozialen und politischen Kosten der Korruption ist, wurde von IWF und Weltbank als Konsens über die Ursachen der Korruption und die Grundsätze zu ihrer Eindämmung präsentiert. Auf globaler wie auf lokaler Ebene war man sich einig, dass endemische Korruption wirtschaftliches Wachstum bremst, soziale Ungleichheiten verschärft und die Demokratie untergräbt. Dabei gibt es im Antikorruptionsdiskurs zwei ganz unterschiedliche Argumentationslinien.
Die Argumentation, die auf die Kräfte des Marktes setzt, richtet sich gegen die korrumpierende Wirkung starker Regierungen. Die Argumentation, die auf ein Plus an Demokratie setzt, richtet sich gegen das Demokratiedefizit moderner Gesellschaften, aber auch gegen die Übermacht des Marktes. Nicht eine starke Regierung korrumpiert, sondern viel Geld korrumpiert. Die illegale Finanzierung politischer Parteien, die kriminelle Nähe zwischen Regierung und Wirtschaft sind Ursachen der Korruption. Die zivilgesellschaftlichen Aktivisten sehen im Kampf gegen die Korruption traditionell den Kampf zwischen "den Menschen" und "den Interessen". In der langen Geschichte der Antikorruptions-Rhetorik hat dieses Anti-Markt-Argument sehr viel mehr öffentliche Resonanz gefunden.
Die marktorientierte Argumentation dringt auf Deregulierung des Wirtschaftslebens und Rückzug des Staates. Die demokratieorientierte Argumentation plädiert für wirksame staatliche Regulierung und effektive Begrenzung des Einflusses von Geld auf den politischen Prozess. Die marktorientierte Argumentation ist für weniger Steuern.
Die demokratieorientierte Argumentation ist für mehr Steuern, weil Rechte mit Kosten verbunden sind. Rhetorisch lassen sich die Freie-Markt- und die Demokratie-Argumente problemlos miteinander vereinbaren, aber man kann nicht gleichzeitig Steuern senken und erhöhen. Die Vorstellung, der Antikorruptionskonsens liege jenseits der liberalkonservativen Trennlinie, ist eine Illusion. So betrachtet entspricht der von der Weltbank erarbeitete globale Ansatz der Korruptionsbekämpfung der Logik der marktorientierten Argumentation, jedoch nicht immer der Logik der demokratieorientierten Argumentation.
Die Frage ist, warum die Menschen vor Ort die Asymmetrie des globalen Ansatzes der Korruptionsbekämpfung nicht sahen. Meine Antwort lautet, dass diese "Blindheit" etwas mit der ureigenen Natur der Korruption als einem politischen, wirtschaftlichen, aber auch moralischen Problem zu tun hat. Die Öffentlichkeit und die politischen Reformer sind moralisch so entrüstet, dass Antikorruptionspolitiken nie einer Kosten- Nutzen-Analyse unterzogen werden. Die moralischen Kosten der Korruption werden so hoch eingeschätzt, dass für Antikorruptionspolitiken Kosten in jeder Höhe gerne akzeptiert werden. Es liegt an der "moralischen" Natur des Problems, dass für Kampagnen gegen die Korruption nicht die üblichen Regeln politischer Rechenschaftslegung gelten. Der Antikorruptionsdiskurs bleibt normativ.
Das von der Weltbank geförderte Grundsatzpaket zur globalen Korruptionsbekämpfung, das ursprünglich ein von einem Konsens getragenes und unpolitisches Instrument sein sollte, recycelte schließlich einige der umstrittensten Politiken und Aspekte des Washingtoner Konsenses. In der Gedankenwelt der Demokratie-Aktivisten ist Antikorruptionspolitik per definitionem progressiv und reformistisch. Es macht sie blind für den normativen Charakter des aktuellen Kreuzzugs gegen die Korruption. Der globale Ansatz entpolitisiert Fragestellungen und verwandelt sie in Probleme für Experten (sprich Ökonomen). Und Antikorruptionspolitik schafft falsche Konsense. Aber über politische Inhalte dürfen nicht allein die Experten entscheiden. Und es reicht auch nicht zu wissen, dass Gott unbestechlich ist. Zumindest nicht nach der demokratischen Argumentation. Transparency International hat sich die Bekämpfung von Korruption vorgenommen und stützt sich dabei auch auf die Arbeit von nationalen Verbänden. Ihr Korruptionsindex hat die Forschung in dem Bereich revolutioniert.
aus: der überblick 02/2006, Seite 14
AUTOR(EN):
Ivan Krastev
Ivan Krastev leitet das Centre for Liberal Studies in Sofia, Bulgarien.
Der bulgarische Politologe ist zudem Forschungsdirektor
an der Zentraleuropäischen Universität
(CEU) in Budapest, Ungarn, und seit 2004 Exekutivdirektor
der Internationalen Balkankommission.