Kulturelle und spirituelle Dimensionen der Versöhnung in Norduganda
Weil Alice gezwungen wurde, ihre Schwester zu töten, kann sie keinen Frieden finden. Auch ihre Familie leidet mit, die Verwandten führen die Epilepsie ihres Sohnes auf den Fluch der bösen Tat zurück. Alle Versuche, die tote Schwester durch Rituale und Opfergaben zu besänftigen, waren erfolglos, für weitere fehlt das Geld.
von Erin Baines
Alice und ihre Schwester Joy wurden im Mai 1995 von der Lord's Resistance Army (LRA) entführt. Alice war damals 14 Jahre alt. Um zu überleben, so rieten schon länger Gefangene den Schwestern, müssten sie sich streng an die Regeln halten: Versucht nicht zu fliehen, gehorcht allen Befehlen, und weint unter keinen Umständen. Binnen 48 Stunden sollte Alice lernen, dass eine Verletzung dieser Regeln tödliche Folgen hat.
Am nächsten Morgen wurde Alices Schwester bei einem Fluchtversuch erwischt. Der zuständige Befehlshaber verurteilte sie sofort zum Tod. Er wusste, dass Alice und Joy Schwestern waren, und drohte Alice, auch sie werde den "vollen Zorn" des Todes durch die Machete zu spüren bekommen.
Joy wurde gefesselt kondoya, das heißt mit den Händen auf dem Rücken und musste mit der Gruppe zu einem neuen Standort ziehen. Alice presste die Lippen fest zusammen und trug ihre schwere Last zusammen mit den anderen Gefangenen. Weinen durfte sie nicht.
Bei der Ankunft am neuen Standort telefonierte der Befehlshaber mit dem Anführer der LRA, Joseph Kony, und berichtete von der erfolgreichen Entführung und dem Fluchtversuch eines Mädchens. Er informierte Kony, dass Joy eine Schwester habe, die möglicherweise in den Fluchtplan eingeweiht war. Kony antwortete, Joy müsse mit dem Tod bestraft werden, die Schwester solle aber nicht für die Fehler anderer "bezahlen".
Alice sollte mit dem Leben davonkommen. Aber was dann passierte, sollte sie über Jahre traumatisieren: Dann fragten sie mich, ob es mir etwas ausmache, wenn meine Schwester getötet würde. Ich antwortete, "der Tod meiner Schwester mache mir nichts aus. Das war die Antwort, die ich geben musste, um mein Leben zu retten."
Alices Schwester wurde mit gefesselten Händen vorgeführt und aufgefordert, ihre letzte Beichte abzulegen. Sie wurde geknebelt und auf den Boden geworfen. Alice musste zusehen, wie drei der neuen Gefangenen auf ihre Schwester einstachen. Dann gab man ihr das Messer und befahl ihr, solange auf ihre Schwester einzustechen, bis diese tot war. Alice hat das Blut und die Tränen ihrer Schwester heute noch überdeutlich vor Augen. "Wir stachen auf meine Schwester ein, bis ihr Körper völlig verstümmelt war. Das war das Schlimmste, was ich je erlebt habe. Ich half, meine eigene Schwester zu töten." Der Befehlshaber erlaubte Alice und den anderen nicht, ihre blutverschmierten Hände zu waschen. Sie mussten mit Joys Blut an den Händen essen.
Gemeinsam mit anderen Gefangenen wurde Alice zur Ausbildung als Soldatin in den Sudan gebracht. In ihrer sechzehnmonatigen Gefangenschaft war Alice gezwungen, mehrere Zivilisten zu töten. Sie nahm an zahlreichen Gefechten gegen die Ugandan People's Defence Force (UPDF) in Uganda teil, aber "zu Hause", so Alice, waren sie im Südsudan. Sie wurden angewiesen, jede Leiche mit Füßen zu treten - ein Tabubruch für das Volk der Acholi, dem Alice angehört, denen die Achtung der Toten Gebot ist.
Alice wurde in Gefangenschaft 15. Sie wurde einem älteren Mann zur Frau gegeben. Sie kämpfte Seite an Seite mit ihrem Mann, bis er in einem Gefecht mit der UPDF in Lamogi getötet wurde. In den heftigen Kämpfen flog die UPDF mit Kampfhubschraubern tödliche Luftangriffe. Als Bomben fielen, zerstreute sich Alices Gruppe. Plötzlich war sie allein und konnte im August 1996 fliehen.
Sie fand ihr Zuhause verlassen vor. Beide Eltern waren während Alices Gefangenschaft an AIDS gestorben. Zwei jüngere Geschwister lebten nun bei ihrer Großtante, einer älteren Frau, in Pece nahe der Stadt Gulu. "Alle hatten die Dörfer verlassen und lebten im Lager. Mir blieb nichts anderes übrig, als bei dieser alten Frau zu wohnen. Sie starb dann, und wir zogen im Dezember 1998 zu meinem Onkel ins Lager Anaka. Seine Frau behandelte uns nie gut. Immer stritt und schimpfte sie mit mir. Sie forderte meinen Onkel auf, keinen Müll in ihr Haus zu bringen, und meinte damit, ich sei Müll. Ich träumte von einer eigenen Hütte ganz für mich allein." Alices Onkel war nicht in der Lage, die Geschwister finanziell zu unterstützen, und so mussten sie die Schule abbrechen. Alice kann nicht lesen und schreiben. Sie und ihre Schwestern arbeiteten im Haushalt und in Gärten, um sich mit dem Verkauf von Gartenerzeugnissen über Wasser zu halten.
Mit 18 heiratete Alice und bezog mit ihrem Mann Jimmy eine Hütte im Lager Anaka. Mit ihm bekam sie drei Kinder, ein Mädchen und zwei Jungen, die in den Jahren 2000, 2002 und 2005 geboren wurden. Die Älteste, Hope, scheint gesund unter munter zu sein, aber der Zweitgeborene, Samuel, leidet an Epilepsie und hat oft täglich Anfälle. Ihr jüngster Sohn starb im April 2005 im Alter von vier Monaten, innerhalb von 24 Stunden nach einer Impfung durch einen Arzt. Eine Autopsie zur Feststellung der genauen Todesursache fand nicht statt.
Samuels Krankheit bereitet Alice nicht nur großen Kummer, sie sorgt auch für Spannungen in ihrer Ehe und in der Gemeinschaft. Viele glauben, die Krankheit habe etwas mit Cen zu tun - nach der Überlieferung der Acholi nimmt der Geist von Menschen, die auf "schlechte Weise" sterben, an dem Übeltäter und seiner Familie Rache, bis eine Entschädigung geleistet wird. Alices Mann glaubt, auch der Tod ihres jüngsten Sohnes sei direkt auf Cen zurückzuführen. Aus Verzweiflung hat Jimmy oft mit Alice gestritten und sie aus dem Haus geworfen. Doch auf Anraten seiner älteren Schwester versucht er nun, Verständnis zu zeigen und bei der Suche nach Lösungswegen zu helfen.
Die Nachbarn und die Ortsoberhäupter sind nicht so nachsichtig. Alice und Jimmy berichten, dass sie von der Gemeinschaft oft stigmatisiert werden, weil man annimmt, sie seien von Cen befallen. Die Acholi glauben, Cen sei durch Kontakt mit Betroffenen übertragbar, und daher werden Menschen mit Cen gesellschaftlich gemieden. So erklärt sich auch, warum die Nachbarn Samuel nur ungern helfen, wenn er einen Anfall hat.
Alice zeigt Anzeichen eines psychologischen Traumas. Sie leidet unter Angstzuständen, die durch bestimmte Situationen ausgelöst werden, etwa durch Gartenarbeit - aus nahe gelegenen Gärten werden häufig Zivilisten entführt. Es ist ihr schon passiert, dass sie plötzlich losrennt, ohne zu wissen, was sie da tut. Das, sagt sie, geschieht in der Regel dann, wenn sie zu hören glaubt, wie Rebellen sich zum Angriff rüsten. Weitere Symptome sind Alpträume, in denen sie das Gefühl hat, von Geistern erwürgt zu werden. Das Bild ihrer Schwester lässt sie nicht los, vor allem wenn sie allein in ihrer Hütte ist. "Meine Schwester erscheint immer wieder und fragt: Kann ich hereinkommen?'" Oft schreit Alice in der Nacht.
Seit einiger Zeit hat sie Depressionen und Selbstmordgedanken. Einmal wollte sie in die UPDF eintreten, aber ihre jüngere Schwester hielt sie davon ab. Ein anderes Mal, erzählt Alice, versuchte sie, in einem Laden Rattengift zu kaufen, um ihre Kinder umzubringen, damit ihr Leid ein Ende habe. In dem Laden wollte man ihr aber kein Gift verkaufen und meldete den Vorfall einem Berater, der eingriff.
In diesem von Konflikt, Vertreibung und extremer Armut geprägten Umfeld und in Ermangelung eines funktionierenden Rechts-, Sozial- und Gesundheitswesens sucht Alice in der traditionellen Kultur die Lösung ihrer traumatischen Erfahrungen, die ihrer Meinung nach auf ihren Sohn übergegangen sind und den Problemen ihrer Familie zugrunde liegen. In der Rechtspraxis der Acholi wird versucht, soziale Bindungen durch Erzählen der Wahrheit, durch Entschädigung und Rituale wieder aufzubauen. Wie vielerorts in Afrika stellen sich Täter selbst, um der Rache der Geister von Getöteten zu entgehen oder einen Schlussstrich zu setzen. Die Geister der Toten greifen nicht nur die betroffene Person, sondern auch deren Familie und Verwandte an - umso mehr Grund, diese in alle Entscheidungen einzubeziehen.
Unermüdlich haben Alice und ihr Mann sich um Heilung für ihren Sohn bemüht. Die konsultierten Ärzte diagnostizierten Epilepsie und verschrieben Medikamente, die wenig Wirkung zeigten. Irgendwann schlugen Ärzte den Eltern vor, bei Herbalisten heilkundliche Lösungen für ihren Sohn zu suchen. Zunächst verhielt Alice sich ablehnend, aber als sich Samuels Zustand verschlechterte, begann sie, Kräuterheilkundige im ganzen Lager um Rat zu bitten. Auf Anraten eines dieser Heilkundigen entschloss sie sich, die Dienste einer Ajwaka (Geistmedium und Geistheilerin) in Anspruch zu nehmen. Von 2004 bis 2005 brachten Alice und ihr Mann ihren Sohn zu fünf Ajwakas im Distrikt Gulu und dem angrenzenden Distrikt Masindi. Beide kamen zu der Überzeugung, Samuels Krankheit und Alices anhaltende Traumatisierung seien auf ihre Erlebnisse in der Gefangenschaft zurückzuführen. Sie glaubten nun, die Rache der Totengeister richte sich nicht nur gegen Alice, sondern auch gegen das Kind.
Die erste Ajwaka konsultierten sie im Lager Anaka. Gegen eine Gebühr von umgerechnet acht US-Dollar erzählte diese die Geschichte von Alice im Busch und insbesondere von Alices Beteiligung am Mord ihrer Schwester. Dabei erfuhr Jimmy erstmals, was man seine Frau zu tun gezwungen hatte. Bis dahin hatte Alice die schreckliche Tat geheim gehalten. Die Ajwaka gab den Rat, dass traditionelle Rituale notwendig seien, um Cen zu überleben. Aber die Familie konnte sich das Ritual nicht leisten.
Die zweite Ajwaka suchten sie in Agwee in der Nähe der Stadt Gulu auf. Diese verlangte fünf Dollar. Sie beriet sich mit den Geistern, erzählte ihnen von den Verbrechen, die Alice in Gefangenschaft begehen musste, und kam zu dem Schluss, dass Cen die Ursache für Samuels Krankheit sei. Dann vollzog sie ein Ritual, um dem Jungen Erleichterung zu verschaffen: Sie ließ ein haariges, echsenartiges Wesen dreimal um Samuel kreisen. Der aber hatte einen Anfall, sobald die Ajwaka ihr Ritual beendet hatte.
Dass verschiedene Ajwaka konsultiert werden, ist keineswegs ungewöhnlich. Jimmys ältere Schwester bot nun an, das Kind zu einer Ajwaka in Bweyale im Distrikt Masindi zu bringen, der man enorme Kräfte nachsagte. Für eine Gebühr von 55 US-Dollar (etwa 42 Euro) rief diese die Geister an und erzählte - wie die vorher konsultierten Ajwaka auch - von Alices Erlebnissen in Gefangenschaft. In diesem Fall jedoch forderten die Geister ein schwarzes Schaf als Opfer. Die Tante kaufte das Schaf, und das Ritual wurde im Busch vollzogen. Das Ritual sollte die Krankheit vorübergehend von dem Kind nehmen. Um den Geist von Alices Schwester auf Dauer zu besänftigen, empfahl die Ajwaka, Joy eine Entschädigung zu zahlen. Das Ritual half Samuel: Er hatte rund zwei Monate lang keine Anfälle mehr. Das ermutigte seine Eltern, eine weitere Ajwaka aufzusuchen.
Nach Bezahlung von 8000 Uganda-Schilling (knapp 4 Euro) vollzog diese Ajwaka ein Ritual mit drei schwarzen Hennen und Gesängen, um die Geister freundlich zu stimmen. Das Ritual hatte jedoch nicht die gewünschte Wirkung, und Samuel litt weiter unter Anfällen. Die Eltern wandten sich wieder an die Ärzte, die erneut Epilepsie diagnostizierten.
Unbeirrt suchten die Eltern eine weitere Ajwaka an einem Ort namens Wii oleng in Anaka auf. Diese nahm eine Anzahlung von 20.000 Uganda-Schilling (umgerechnet rund 10 Euro). Der Rest - in Höhe eines von den Geistern festzulegenden Betrags - sollte nach Heilung des Kindes bezahlt werden. Einmal mehr meinte die Ajwaka, die von Alice begangenen Untaten seien die einzige Ursache für die Krankheit des Jungen. Die Ajwaka vollzog auch das Ritual Lwongo tipu, um dem Geist der toten Schwester Gehör zu verschaffen. Laut Alice kam die Stimme ihrer toten Schwester aus dem Mund der Ajwaka: "Bist du es, Alice, meine Schwester, die mich jetzt ruft? Was willst du? Nun bist du wegen einer Krankheit gekommen? Ohne die Krankheit hättest du nicht nach mir gesucht. Hättest du mich nicht getötet, würde ich wie du glücklich verheiratet leben."
Nun legte die Ajwaka Fürsprache für Alice ein und sagte, sie habe das, was sie tat, nicht tun wollen. Sie sei gezwungen worden. Die Ajwaka bat Joys Geist, seinen Zorn zu mäßigen und Alice mit einem Segen (Goyo laa) von Cen reinzuwaschen. Laut Alice antwortete die Stimme ihrer Schwester: "Damit ich dich als liebende Schwester anerkenne, solltest du Folgendes tun: Besorge eine Ziege für eine ordentliche Totenfeier, eine Ziege für mich, weil du mich getötet hast, als ich hungrig war, und eine, um den Bann zu brechen." Auf die Frage, wie das Geld für die Entschädigung beschafft werden solle, sagte der Geist ihrer Schwester, da Alice zum Zeitpunkt des Geschehens noch nicht verheiratet war, dürfe der Betrag nicht von Alices Mann und seiner Familie kommen. Joys Geist wies Alice an, die Entschädigung von ihren Verwandten zu beschaffen, obwohl Alice Waise ist und nur noch einen Onkel hat. Um Samuel vorübergehend Linderung zu verschaffen, schwang die Ajwaka zur Reinigung eine Henne dreimal um Samuel und gab ihm Heilkräuter. Nach einer leichten Besserung wurde er wieder krank. Bei einem Besuch bei einer weiteren Ajwaka in Pece wurden sie belehrt, dass das Ritual in Bweyale nicht korrekt ausgeführt worden war. Sie zahlten umgerechnet etwa 6 Euro für die Anrufung des Geistes und kehrten nach Hause zurück.
Jimmy sieht die Lösung für die Probleme seiner Familie in Mato oput - einem Versöhnungsprozess, der auch als das "Trinken der bitteren Wurzel" bekannt ist. Die Kosten für eine Entschädigungs- und Versöhnungszeremonie, wie sie für Mato oput erforderlich wäre, sind allerdings unerschwinglich hoch. Sowohl Alices als auch Jimmys Eltern und Großeltern sind tot, und die verbleibenden Verwandten leben in Lagern. Seit Alice weiß, dass sie in ihrem Clan für die Entschädigung sammeln muss, hat sie mehrfach ihren Onkel um Hilfe gebeten.
Der Onkel jedoch weigert sich, einen Beitrag zu leisten. Er sei dazu nicht in der Lage, und schließlich sei sie allein dafür verantwortlich, dieses Unglück über ihr Heim gebracht zu haben. Das hat zu Spannungen zwischen Jimmy und dem Onkel geführt, dem Jimmy den Brautpreis für Alice zahlte. Jimmy fühlt sich im Stich gelassen. Als Alice entfernte Verwandte um Hilfe bat, sagten diese, die Familie ihres Mannes sei für die Zahlung zuständig, auch wenn Joys Geist anderer Meinung sei. Darüber haben sich Alice und ihre Verwandten entzweit.
Mit dem Verdienst aus Gartenarbeit im benachbarten Lager Latoro brachte Alice schließlich genug Geld zusammen, um eine der geforderten Ziegen zu kaufen. Sie präsentierte die Ziege ihren Verwandten als ihren Beitrag zur Entschädigungsleistung. Die Verwandten redeten Alice und Jimmy ein, sie könnten den Geist ihrer Schwester vorübergehend mit einer Ziege besänftigen. Unterdessen würden sie das Geld für die restliche Entschädigung beschaffen. Alice und Jimmy brachten das Tier zu der Ajwaka in Anaka und riefen noch einmal Joys Geist an. Der Geist jedoch wies die Gabe zurück und warnte Alice vor ernsten Konsequenzen, sollte sie ihn noch einmal anrufen, ohne alle drei geforderten Ziegen zu bringen. In dieser Nacht starb Alices Ziege.
Alice ist überzeugt: "Die Familie hat keine andere Wahl, als hart zu kämpfen, damit Samuel diese schreckliche Strafe überlebt. Wir haben Ajwakas im ganzen Distrikt Gulu aufgesucht. Wir sind bis nach Bweyale gegangen, haben Ärzte befragt, aber es scheint keinen Ausweg zu geben. Unsere letzte Chance besteht nun darin, unter Aufbietung aller Kräfte Geld für die Entschädigung zur Besänftigung der Geister zu beschaffen."
Alice hat versucht, anderswo Unterstützung zu bekommen. Als sie im Jahr 2000 von dem neuen Amnestiegesetz und den Unterstützungsleistungen für die "Wiederansiedlung" erfuhr, bemühte sie sich, sich bei der zuständigen Dienststelle in der Stadt Gulu eine entsprechende Bescheinigung ausstellen zu lassen. Mit der Unterstützung wollte sie die notwendigen Utensilien für eine traditionelle Zeremonie kaufen. Aber Amnestie-Bescheinigungen und Unterstützungsleistungen werden nur an Personen vergeben, die nach 2000 zurückgekehrt sind.
Als sie vom Amnestie-Büro mit leeren Händen zurückkam, empfahl ihr ein Lagerbediensteter, einen Ortsansässigen um Rat zu fragen, der von den Canadian Physicians for Aid and Relief (CPAR) zum Berater ausgebildet worden war und der nun im Lager mit anderen ehemals Entführten arbeitete. Auf seine Initiative schloss sich Alice im Juni 2005 schließlich einem von der Northern Ugandan Peace Initiative (NUPI) organisierten Projekt an, das ihr einen Einkommenserwerb ermöglicht. Das Projekt bietet Zurückgekehrten und Kriegsbetroffenen Beschäftigung in der Ziegelherstellung. Durch Gruppenberatung soll die Versöhnung gefördert werden. Dieselbe Gruppe widmet sich auch traditionellem Schauspiel, Gesang und Tanz. Wenn sie mit anderen Mitgliedern der Gemeinschaft tanzt, ist sie glücklich, sagt Alice.
Alice erzählte dem CPAR-Berater von ihren traumatischen Erfahrungen. Er empfahl ihr, an Gemeinschaftsritualen teilzunehmen, die von Ker Kwaro Acholi (KKA) für ehemals entführte Jugendliche organisiert werden. Nach Rücksprache mit ihrem Mann beschloss Alice, an den Gemeinschaftszeremonien im September 2005 teilzunehmen. Das Paar hoffte, Alice werde durch die Rituale die erforderliche Reinigung zuteil.
Die Gemeinschaftszeremonie begann mit dem "Ei-Treten" (Nyono tong gweno). Das soll Menschen, die sich über längere Zeit fern der Gemeinschaft aufhielten, von allen ihnen anhaftenden Übeln reinigen. Dem folgten Reden und Lieder, Tänze und Essen, um die "Rückkehr" zu feiern. Vor der versammelten Gemeinschaft legte das Oberhaupt der Acholi, David Onen Acana II, den 50 Teilnehmern nahe, an einer zweiten Gemeinschaftszeremonie teilzunehmen, dem "Reinigen des Körpers" (Moyo kum), das am folgenden Tag stattfinden sollte. "Wir fordern euch nachdrücklich auf, euch zu reinigen, bevor es zu einer Situation kommt, in der ihr durchdreht oder die Dinge außer Kontrolle geraten... Versteckt euch nicht, wir wissen, was ihr braucht. Kommt und wir werden euch helfen, bevor alles noch schlimmer wird."
Das "Reinigen des Körpers" fand als eine der ersten derartigen Zeremonien in Norduganda öffentlich in der Gemeinschaft statt. Schauplatz war der Palast des Rwot (Oberhaupts), der aus drei Hütten im Herzen des Lagers besteht. In der Regel wird diese Zeremonie nicht öffentlich abgehalten, doch in diesem Fall wurden alle Mitglieder der Gemeinschaft eingeladen, ihr beizuwohnen.
Rwot Ojigi, das regionale Oberhaupt, verkündete, das Ritual solle den ehemals Entführten Ruhe bringen. Es solle nicht als Ende des Leidens gesehen werden, sondern als Anfang eines Prozesses, der langfristig zu Versöhnung im Zeichen von Entschädigung und Mato oput führen werde. "Es ist dies der erste Schritt zur Linderung der Schmerzen, der Qualen und der traumatischen Schädigungen, die unsere Kinder in der Gefangenschaft erlitten." Er tröstete die früheren Gefangenen und erklärte, die Gemeinschaft sei bereit, sie trotz ihrer Vergangenheit anzunehmen. "Selbst wenn ihr meinen Vater, meinen Bruder oder meine Schwester getötet habt, brauche ich euch hier. Wir brauchen euch mitten im Leben, und wir wollen, dass ihr in Harmonie lebt." Er appellierte an die Gemeinschaft, dass die Vergebens- und Versöhnungskultur der Acholi bis ans Ende aller Tage bestehen solle. "Sie wurde von unseren Ahnen überliefert. Wir sind in ihr gewachsen, und wir werden dafür sorgen, dass unsere Kinder in ihr verbleiben."
Mit dem Königsspeer in der Hand wies der Rwot die Ältesten an, das Ritual vorzubereiten. Zu seiner Rechten waren vier Ziegen, die geopfert werden sollten. Eine der Ziegen wurde dann von fünf Personen aus der Gruppe der Ältesten geschlachtet. Der Vorsitzende der Gruppe sagte laut: "Heute wirst du (Ziege) sterben als Zeugnis vor allen hier Versammelten, dass unsere Ahnen befragt und des Rituals, das wird vollziehen werden, versichert wurden."
Danach zelebrierten die Ältesten Lwoko cidu ("das Waschen der Hände"). Dazu benutzten sie das Wasser, das vom Häuten und Bereiten der Opferziege übrig geblieben war, um den "Schmutz" der ehemals Entführten abzuwaschen. Das Wasser wurde dann als Segnung über das Haus des Rwot gesprengt. Gemeinsam mit allen Anwesenden wurden die von den Ältesten bereiteten Ziegen gegessen.
Alice sagte, sie fühle sich durch die Rituale erleichtert, und Jimmy äußerte die Hoffnung, sie böten die Lösung für die Probleme seiner Familie. Beide fragten sich aber nach wie vor, wie sie das notwendige Geld für die Entschädigung aufbringen sollten. Einen Monat später berichtete Alice, weder ihr noch ihrem Sohn gehe es seit dem Moyo kum wesentlich besser. In Gesprächen mit anderen Teilnehmern äußerte sich etwa die Hälfte ebenfalls enttäuscht über die Ergebnisse der Zeremonie. Viele gingen später zu den Ältesten und fragten, warum keine Veränderung bemerkbar sei.
Die Clanältesten stellten sich auf den Standpunkt, Moyo kum in Form einer Gemeinschaftszeremonie sei nicht der "richtige", "traditionelle" Weg. Das Ritual hätte im privaten Raum stattfinden, Ziegen hätten jeweils für eine Person und nicht für eine Gruppe geopfert werden sollen. Das sei wichtig, weil verschiedene Menschen in der Gefangenschaft verschiedene Verbrechen begangen hätten und für jeden Einzelfall ein eigenes Ritual erforderlich sei. Da aber die Mehrheit der Acholi heute in Lagern lebt, ist es äußerst schwierig, Versöhnungsrituale in der vorgeschriebenen Form durchzuführen. Und Geld ist nicht nur in Alices Familie knapp.
aus: der überblick 01/2007, Seite 64
AUTOR(EN):
Erin Baines
Prof. Erin K. Baines ist Koordinatorin für die Forschung im Rahmen des "Justice and Reconciliation Project"
(JRP) in Uganda und wissenschaftliche Lehrkraft am "Liu Institute for Global Issues" der "University of British Columbia", USA.