In China kann die Polizei weiter ohne Gerichtsverfahren Haftstrafen verhängen
Chinas Haftanstalten sind nicht länger Zwangsarbeitslager, in denen politisch Missliebige einer grausamen Umerziehung unterworfen werden. Sie dienen auch nicht in erster Linie dazu, aus Zwangsarbeit Profit zu schlagen. Kritikwürdig ist das chinesische Gefängnissystem aus ganz anderen Gründen - etwa weil die Zustände in manchen Haftanstalten, besonders für ethnische Minderheiten, furchtbar sind; weil es weiter politische Häftlinge gibt, auch wenn sie eine Minderheit der Gefangenen darstellen; und weil zahlreiche Chinesen ohne faires Gerichtsverfahren inhaftiert werden.
von James D. Seymour
Chinesische Gefängnisse haben, wenn man sie historisch betrachtet, ihre traurige Berühmtheit durchaus verdient. In den fünfziger Jahren war beispielsweise das System der "Besserung durch Arbeit", das laogai, ein groß angelegtes Unterfangen, das Denken der Häftlinge zu verändern, die überwiegend aus politischen Gründen inhaftiert waren. Bis in die siebziger Jahre änderte sich wenig an der Härte und Willkür dieses Systems. Aber heute? Sind in den Lagern des Laogai noch so viele Menschen inhaftiert wie früher? Handelt es sich nach wie vor um ein im Grunde nicht vom Gesetz gedecktes System der Straflager für politisch Missliebige? Sind die Haftbedingungen so grausam wie eh und je? Hat die Zwangsarbeit in Gefängnissen wirtschaftliche Bedeutung?
Neuere Untersuchungen liefern dazu teilweise überraschende Antworten. Auffallend ist, wie unterschiedlich sich die Lage sowohl im Lauf der Zeit als auch von einer Provinz zur nächsten darstellt. Man sollte weder die schlimmsten Beispiele noch die Modellgefängnisse, die Ausländern vorgeführt werden, als repräsentativ für das heutige Haftsystem ansehen. Heute sind die meisten Gefängnisse in China unfreundliche Orte, aber entgegen den Behauptungen der schärferen Chinakritiker nicht so schlimm, wie sie einmal waren, und ganz sicher nicht vergleichbar mit Stalins Gulag, dem System der Arbeitslager.
Eine wesentliche Veränderung gegenüber früher ist, dass Chinas Behörden heute vergleichsweise wenig Interesse daran haben, das Denken der Häftlinge zu reformieren. Dass dies so wenig geschieht, ist geradezu ein besonders trauriger Aspekt des Systems. Zwar ist nach offiziellen Angaben die Rückfallrate unter entlassenen Häftlingen gering; doch tatsächlich führen viele nach ihrer Freilassung ein Leben als Verbrecher. Es scheint, dass nicht nur "korrektes politisches Denken" wenig gelehrt, sondern überhaupt kaum etwas getan wird, um Häftlinge auf ein Leben in der Gesellschaft vorzubereiten. Das ist die Schattenseite einer wichtigen und grundsätzlich erfreulichen Reform: Haftentlassene müssen heute nicht mehr in der Umgebung des Gefängnisses bleiben, an einem ihnen zugewiesenen Ort leben und eine ihnen zugeteilte Arbeit verrichten. Heute steht es ihnen frei, in ihre Heimat zurückzukehren - was auch immer dann geschehen mag.
Das Strafvollzugssystem erfuhr seit seiner Einführung Anfang der fünfziger Jahre zwar wichtige Änderungen, doch zumindest bis in die jüngere Vergangenheit standen nur sehr wenige davon in einem strengen Rahmen von Recht und Gesetz. Bis 1983 unterstanden fast alle chinesischen Strafanstalten - Gefängnisse, Einrichtungen zur Besserung durch Arbeit (laogai) und Einrichtungen zur Umerziehung durch Arbeit (laojiao) - dem Ministerium für öffentliche Sicherheit. Es war in rechtlicher Hinsicht wenigstens ein bescheidener Fortschritt, dass in jenem Jahr die Mehrzahl dieser Einrichtungen dem Justizministerium unterstellt wurde. Allerdings ist das Personal, das die einzelnen Haftanstalten betreibt, eher schlecht ausgebildet. Die Stellen werden oft vom Vater an den Sohn weitergegeben und nicht nach Qualifikation besetzt.
Ohnehin gibt es nach wie vor zwei wichtige Ausnahmen vom Trend zur Verrechtlichung des Strafvollzugs. Die eine ist die Administrativhaft - das ist Freiheitsentzug durch Verwaltungsverfügung ohne Gerichtsverfahren. Deren härteste Variante ist die schon erwähnte Umerziehung durch Arbeit (laojiao). Sie ist vorgesehen für Stadtbewohner, deren Verhalten "zwischen Verbrechen und Fehltritt" eingestuft wird. Um solche Strafen zu verhängen, sind die verfahrensrechtlichen Anforderungen gering. Bis 1979 konnten Umerziehungsstrafen von unbegrenzter Dauer verhängt werden, und die Haftbedingungen waren nicht unbedingt besser als im regulären Gefängnisapparat. Heute sind diese Strafen kürzer und klarer definiert, und die Bedingungen sollen weniger hart sein als im Laogai-System.
Anfang 1998 gab es in China laut offiziellen Angaben insgesamt 280 Einrichtungen zur Umerziehung durch Arbeit mit 230.000 Insassen. Da die Gerichte heute weniger mittlere und mehr kurze Haftstrafen verhängen, werden jetzt manche Menschen zur Umerziehung durch Arbeit geschickt, die man früher zu normalen Gefängnisstrafen verurteilt hätte. Die Zahl der Chinesen, die Umerziehungsstrafen verbüßen, wird somit kaum wesentlich unter 230.000 sinken (und wenn sie steigt, werden kürzere Strafen der Grund sein). Die Mehrzahl der Umerziehungsstrafen wird in der Regel nicht von Gerichten, sondern von der Polizei direkt verhängt. Ein einfacher Verwaltungsbeschluss kann Umerziehungsstrafen von immerhin bis zu vier Jahren zur Folge haben. Die Befugnis, solche Strafen zu verhängen, ist weit verbreitet und wird häufig miss-braucht, manchmal auch als persönlicher Racheakt.
Die zweite Form des Freiheitsentzugs, die vom Trend zur Verrechtlichung in keiner Weise berührt wird, ist die politische Haft. Die Zahl der politischen Häftlinge ist heute zweifellos erheblich niedriger als in den fünfziger Jahren, aber Genaues ist darüber schwer zu sagen. Zwar gibt es sicher mehr politische Häftlinge als die 2.679 inhaftierten "Konterrevolutionäre", die 1995 offiziell bestätigt wurden, aber diese Zahl kommt der Wahrheit wahrscheinlich näher als die rund 600.000, die ein Kritiker für Mitte der achtziger Jahre genannt hat. Die Zahl der politischen Häftlinge ist gesunken und damit der Anteil der Arbeiter an den Häftlingen gestiegen; zugleich wird das einst gefürchtete "Klassenkampf"-Instrument zur Besserung der Inhaftierten kaum mehr eingesetzt, was allein schon eine zumindest bescheidene Verbesserung der Haftbedingungen bedeutet. Aber auf jeden Fall spielt für die meisten Verurteilungen heute die Politik keine bestimmende Rolle. Die überwältigende Mehrheit der chinesischen Häftlinge sitzt aus denselben Gründen ein wie in anderen Ländern auch: Man geht davon aus, dass sie ein Verbrechen begangen haben.
In den letzten Jahren ist der Begriff der "Konterrevolution" durch das Verbrechen der "Gefährdung der Staatssicherheit" abgelöst worden, aber mit diesem Terminologiewechsel wurde die Einschränkung der Meinungs- und Vereinigungsfreiheit nicht wirklich gelockert. Beide Begriffe sind vage und können sich ebenso auf gewaltlose politische Kritiker beziehen wie auf gewalttätige Aktivisten, Spione und so weiter. Die Abschaffung des Verbrechens der "Konterrevolution" bedeutet nicht, dass die Idee des politischen Verbrechens tot ist.
Zuverlässige Angaben über die Zahl der Menschen, die in China Haftstrafen wegen "konterrevolutionärer" oder "die Staatssicherheit gefährdender" Handlungen verbüßen, gibt es zwar nicht. Aber wir haben relativ umfassende Informationen für Tibet und einzelne Daten für das ganze Land. Danach ist zu bezweifeln, dass in den neunziger Jahren im Normalfall mehr als ein Prozent der Gefängnisinsassen politische Häftlinge waren. Ohne Zweifel ist aber die Zahl der aus Gewissensgründen Inhaftierten im Jahr 1999 gestiegen: wegen des harten Vorgehens gegen die Demokratische Partei Chinas, die Falun Gong-Sekte und andere mystische Qigong-Bewegungen.
Die Haftbedingungen sind sehr unterschiedlich. In Tibet sind sie nach wie vor furchtbar; eine unter 22 weiblichen und einer unter 32 männlichen tibetischen politischen Gefangenen stirbt an Misshandlungen. Andererseits genießen politische Täter in dieser Region eher als anderswo den "Vorzug" - so es denn einer ist - eines ordentlichen Gerichtsverfahrens. Die Zahl der Umerziehungsstrafen für tibetische Dissidenten ist rückläufig.
China besitzt heute ansatzweise eine Justiz, die für unpolitische Fälle und außerhalb des Systems der Besserung durch Arbeit zuständig ist. Das heißt aber noch lange nicht, dass die Gerichte immer wirklich Recht sprechen. Das niedrige Niveau chinesischer Gerichtsverfahren führt zu Fehlurteilen. So sind einige Häftlinge unschuldig und gehören überhaupt nicht in Haft; andere müssen nach geringfügigen Rechtsübertretungen lange Haftstrafen verbüßen. Zwar folgt einer Festnahme heute nicht mehr zwangsläufig eine Verurteilung, doch sind Chinas Gerichtsverfahren nach wie vor schludrig und von außen beeinflussbar.
Von wie vielen Häftlingen sprechen wir insgesamt? Für die Klärung dieser Frage sind die irreführenden Angaben der chinesischen Regierung ebenso wenig hilfreich wie die Behauptungen der schärferen Kommunistenkritiker. Derzeit hat China einen der größten Gefängnisapparate weltweit, was aber nicht verwunderlich ist, da es das Land mit der größten Bevölkerung ist. Sicher war in den fünfziger Jahren auch die Haftquote im internationalen Vergleich hoch. Aber nach einem Höchststand Ende der fünfziger Jahre sind die Häftlingszahlen zurückgegangen, während die Gesamtbevölkerung des Landes zugenommen hat. Der Versuch herauszufinden, wie viele Männer und Frauen sich nun tatsächlich heute in Chinas Gefängnissen befinden, fällt jedoch nach wie vor nicht in den Bereich der exakten Wissenschaften. Richard Anderson und ich haben zahlreiche Daten und Methoden bemüht und sind auf eine Schätzung von rund zwei Millionen gekommen.
Diese Zahl ist seit Mitte der neunziger Jahre ziemlich konstant geblieben. Dafür gibt es mehrere Gründe: Zwar steigt die Verbrechensrate weiter, aber gleichzeitig werden alle, die man nicht für die schlimmsten Erzverbrecher hält, zu kürzeren Haftstrafen verurteilt als früher. Die Zahl derer, die Strafen von über fünf Jahren verbüßen, scheint sich nicht wesentlich verändert zu haben. Unverändert hoch ist auch die Zahl der Hinrichtungen - eine grausige Tatsache, durch die sich die Häftlingszahl leicht verringert.
Zur Stabilisierung der Häftlingszahlen - und zwar trotz sinkender Ausbruchs- und steigender Wiederergreifungsraten - trägt auch die Tatsache bei, dass Gefangene oft wegen "guter Führung" vorzeitig entlassen werden. Während das in der Vergangenheit eine Frage der Bestechung von korrupten Beamten war, werden seit 1990 zunehmend Häftlinge rechtmäßig vor Ablauf ihres vollen Strafmaßes entlassen. Schätzungsweise 20 bis 25 Prozent der Gefängnisinsassen kommen heute in den Genuss dieser Praxis. Dabei sammeln Häftlinge Punkte nach einem System, das sich zum Teil an der Schwierigkeit und Gefährlichkeit der von ihnen geleisteten Arbeit orientiert - die Arbeit in einer staubigen Zementfabrik würde zum Beispiel mehr Punkte bringen als die in einem Gewächshaus. Das Programm der vorzeitigen Haftentlassung scheint mittlerweile in allen Provinzen in Kraft getreten zu sein.
Etwa zwei Prozent aller Häftlinge und 3,5 Prozent aller verurteilten Gefangenen sind Frauen. Sie werden von Männern getrennt eingesperrt. Drogengebrauch und Prostitution sind die häufigsten Gründe für ihre Inhaftierung. Wer wegen Prostitution verurteilt war, wurde früher einfach in ein normales Umerziehungslager (laojiao) geschickt; nur wenige große Städte besaßen besondere Einrichtungen für verurteilte Prostituierte. Doch da die Prostitution sich inzwischen weit verbreitet hat, ist ein nationales System der Umerziehungszentren geschaffen worden; in rund 200 dieser Zentren sitzen bis zu 30.000 Frauen.
Zwei Millionen Häftlinge sind eine ganze Menge. Aber absolute Zahlen können irreführend sein; wichtig ist das Verhältnis der Inhaftierten zur Gesamtbevölkerung. In China lag Schätzungen zufolge die Haftquote in den neunziger Jahren in der Regel bei 160 bis 170 pro hunderttausend Einwohnern. Ist das als hoch oder niedrig zu werten? Verglichen mit Deutschland (65 pro 100.000) ist die Quote hoch. Aber im internationalen Vergleich ist die deutsche Rate außergewöhnlich niedrig; der weltweite Durchschnitt liegt bei etwa 105. Damit ist Chinas Haftquote immer noch hoch, aber weit niedriger als die der Vereinigten Staaten (614) und des heutigen Russland (etwa 700). Zu Zeiten Stalins befanden sich in sowjetischen Straflagern im Durchschnitt sogar etwa drei Millionen Menschen, das sind 2000 pro hunderttausend Einwohner. Damit war die Haftquote über zwölfmal so hoch wie im heutigen China. Interessanterweise ist die gegenwärtige Haftquote in China sogar niedriger als die der anderen beiden Staaten mit überwiegend chinesischer Bevölkerung: Taiwan (187) und Singapur (210).
Ein Grund für Chinas hohe Häftlingszahlen ist das Drogenproblem. Von den Kommunisten in den fünfziger Jahren praktisch ausgemerzt, ist diese Geißel nun zurückgekehrt. In den letzten Jahren hat die Regierung ihre Anstrengungen zur Drogenbekämpfung verstärkt. Zwischen 1997 und Mitte 1999 wurden 210.000 Drogentäter zur Besserung durch Arbeit und weitere 320.000 in Drogenrehabilitationszentren geschickt. Aber diese Anstrengungen scheinen nicht von großem Erfolg gekrönt. Die Entgiftung wird oft brutal durchgeführt, zur Erleichterung des Entzugsprozesses werden wenige oder gar keine Medikamente verabreicht. Einige Therapeuten haben erkannt, dass eine solche Behandlung langfristig häufig kontraproduktiv ist und eine hohe Rückfallquote zur Folge hat. Das Problem des Drogenmissbrauchs ist durch Repression oder härtere Strafen nicht zu lösen, wie ja auch die Polizei in westlichen Ländern lernen musste. Es gibt Anzeichen dafür, dass die Freiheitsstrafen im Zusammenhang mit Drogendelikten in China einen Höchststand erreicht haben und die Polizei auf dem Weg ist, das Problem unter Kontrolle zu bekommen. Zu bedenken ist auch, dass die Quote drogenbedingter Inhaftierungen in China im Vergleich zu anderen Ländern noch sehr niedrig ist.
Nicht die Größe des chinesischen Gefängnisapparats ist also erschreckend, sondern das Verfahren, das darüber entscheidet, wer einsitzt, sowie das, was sich in den schlecht geführten Einrichtungen abspielt. Die Bedingungen in Untersuchungsgefängnissen sind besonders schlimm; oft werden mehr als zwanzig Insassen in eine einzige Zelle gezwängt. Und während manche Gefängnisse aufgeklärt geführte, gesunde Orte sind, sind andere absolut inhuman. Das gilt vor allem für Gefängnisse, in denen Tibeter inhaftiert sind, und für Gefängnisbergwerke in den Siedlungsgebieten der Turkvölker im Nordwesten.
hnlich wie die Debatte über die Größe der Gefängnisbevölkerung in China ist auch die über die Rolle der Gefängnisse und der dort verordneten "Zwangsarbeit" stark verzerrt worden - sowohl von Kritikern als auch von Befürwortern des Systems. Aus Gefängnisarbeit materiellen Reichtum zu ziehen, war niemals so leicht, wie es klingen mag. Das funktionierte noch nicht einmal zu Zeiten Mao Zedongs besonders gut. Und in den Jahrzehnten nach Maos Tod (1976) standen den Laogai-Beamten weniger Menschen und Material zur Verfügung, mit dem sie arbeiten konnten, als je zuvor. Bis 1978 verringerte sich die landwirtschaftlich bebaute Fläche der Gefängnisse um 60 Prozent. Danach verlangsamte sich der Abwärtstrend bei der Gefängnisproduktion. Zwischen dem Aufstieg von Deng Xiaoping (1978) und dem Einsetzen der Kampagne zur verstärkten Verbrechensbekämpfung (1983) sank die Gesamtproduktion, allerdings nur um 3,3 Prozent. Dramatischer war die Entwicklung der Rentabilität: In den fünf Jahren bis 1983 fielen die Gewinne um 86 Prozent. Nach den Verhaftungen der Jahre 1983-84 im Zusammenhang mit der verschärften Verbrechensbekämpfung begann die Produktivität der Gefängnisse zu steigen, aber nicht einmal das führte zu höheren Gewinnspannen. Höhere Häftlingszahlen mögen also höhere Produktionsmengen bedeuten oder auch nicht, aber sie bedeuten sicher nicht höhere Rentabilität.
Während der chinesischen Wirtschaftsreformen, die Anfang der achtziger Jahre begannen, beschloss man, dass marktwirtschaftliche Grundsätze auch auf das Laogai-System angewendet werden sollten; Gefängnisse sollten sich selbst finanzieren. Die Gefängnisaufseher standen nun unter Druck, die wirtschaftliche Leistung der Häftlinge zu maximieren. Das Einkommen eines Gefängnisbetriebs sollte zum Beispiel alle Kosten des Gefängnisunterhalts decken. Um dieses Ziel zu erreichen, sahen sich die Verwalter zweifellos häufig zum Einsatz fragwürdiger Mittel genötigt - wie Arbeitsüberlastung der Häftlinge oder Verkauf der Produkte im Ausland. Zuvor hatte eine Laogai-Verwaltung einfach Schulden gemacht, wenn das Geld zum Ende des Haushaltsjahres nicht reichte; das musste nun aufhören.
Peking war für die Ergebnisse vielleicht nicht in dem Sinn verantwortlich, dass es extreme Maßnahmen angeordnet hätte. Aber die vorgegebenen neuen Rahmenbedingungen führten unweigerlich zu bedauerlichen, ungewollten, aber vorhersehbaren Resultaten. Geplant war beispielsweise, dass die Zentralregierung den Gefängnisbau bezahlte und die Folgefinanzierung den örtlichen Gemeinden überließ, was aber nur wenige von diesen sich leisten konnten. Tatsächlich litten die Gefängnisse unter erheblichem Geldmangel, und als Folge davon mussten zuweilen die Häftlinge hungern.
Das System insgesamt soll zumindest in manchen Jahren, etwa 1988, profitabel gewesen sein. Für dieses Jahr ist die Lage relativ transparent, aber die Zahlen sind nicht gerade beeindruckend: Die landesweite Produktion der Laogai belief sich auf lediglich 0,2 Prozent der nationalen Industrie- und Agrarproduktion. 1990 lag die Produktionsleistung der Häftlinge bei einem Wert von 2,5 Milliarden Yuan oder 0,08 Prozent der nationalen Produktion. Danach geschah wenig, um die Lage zu "verbessern". Wenn wir für eine Rentabilitätsanalyse internationale Grundsätze des Rechnungswesens zugrunde legen, dann weisen nur sehr wenige Gefängnisbetriebe jemals einen Gewinn aus. Offizielle Angaben legen die Vermutung nahe, dass lediglich 40 Prozent der für die Finanzierung des Gefängniswesens erforderlichen Mittel heute intern erwirtschaftet werden und jährliche Verluste in Höhe von 6,4 Milliarden Yuan (nach heutigem Kurs rund 1,5 Milliarden Mark) entstehen.
Diese Zahlen widerlegen die Behauptung, das Gefängniswesen spiele in der chinesischen Wirtschaft eine wichtige Rolle. In China ist die Produktivität der Gefängnisfarmen und -betriebe fast immer niedriger als in vergleichbaren staatlichen Betrieben - ganz zu schweigen von Privat- oder Gemeinschaftsunternehmen, die in der Regel nur einen Bruchteil der Arbeitskräfte benötigen, um dieselbe Leistung zu erbringen. Es liegt somit auf der Hand, was geändert werden müsste, um das Ziel erhöhter Produktivität in diesen Betrieben zu erreichen: Sie müssten weitgehend zivil organisiert werden. Wie die Dinge heute liegen, sind Chinas Gefängnisbetriebe nicht sehr produktiv, und die Gefängnisarbeit spielt in der Volkswirtschaft eine minimale und rückläufige Rolle.
Das Frappierende an Chinas Gefängnisapparat ist weder seine Größe noch seine Produktivität, sondern die beträchtliche Zahl der Häftlinge, die dort nicht hingehören, und die Härte der Haftbedingungen in den weniger gut geführten Einrichtungen. Das erste dieser Probleme ist auf schlecht ausgebildete Richter, mangelhafte Rechtsberatung für Angeklagte und die generell hohe Politisierung der Justiz zurückzuführen. Strafe muss immer die "öffentliche Empörung besänftigen", und das heißt häufig: den Launen des Parteisekretärs nachkommen, der hinter den Kulissen am Drücker sitzt. Die Kampagnen für ein hartes Durchgreifen gegen das Verbrechen waren tatsächlich weitgehend politisch motiviert. Spektakuläre Vorfälle wie eine Flugzeugentführung oder der Mord an einem Journalisten der offiziellen Medien können die Partei schlagartig aktiv werden lassen. Zu anderen Zeiten können Gesetzesverstöße anhalten, und die Partei sieht darüber hinweg.
Was die Behandlung von Häftlingen anbelangt, wird zwar offiziell behauptet, sie sei human. In Wahrheit aber werden Häftlinge und insbesondere Untersuchungshäftlinge allzu oft körperlich misshandelt und Langzeithäftlinge häufig ausgebeutet. Als renitent geltende Häftlinge verbringen oft lange Zeit in Einzelhaft in winzigen Käfigen. Es ist gang und gäbe, dass von offizieller Seite geduldete "Zellenbosse" Prügel austeilen. Verwandtenbesuche sind theoretisch erlaubt, werden aber durch viele Hindernisse erschwert und sind eher selten.
Andererseits kann man nicht behaupten (wie manche es tun), Häftlinge seien in sowjetischen Lagern besser behandelt worden als in China. Kein chinesisches Gefängnis ist mit Stalins schlimmstem Straflager Workuta zu vergleichen, in dem die Sterblichkeitsziffer bei einem Prozent pro Tag lag und jedes Jahr etwa 45.000 Männer und Frauen starben. Chinas Gefängnisse sind weit weniger human als westliche, aber die meisten sind Gefängnissen in Ländern mit vergleichbarem wirtschaftlichem Entwicklungsniveau durchaus ähnlich. Die Zustände in Chinas schlimmsten Gefängnissen - und dazu zählen zum Beispiel die, in denen Tibeter und Angehörige von Turkvölkern inhaftiert sind - sind allerdings schlimmer als in der Dritten Welt üblich.
Und die Zukunft? Der Chinakritiker Harry Wu sagte Ende 1995 gegenüber der Zeitung Financial Times: "Das Laogai-System wird an Stärke gewinnen, weil die Regierung es braucht, um die Produktion zu steigern und die totalitäre Kontrolle zu behalten." (Harry Wu hat von 1960 bis 1979 selbst in Lagern in China gesessen und ist dann in die USA emigriert. Dort leitet er heute die 1992 von ihm mit gegründete Laogai Research Foundation, die Informationen zu Chinas Gefängniswesen sammelt und öffentlich zu China Stellung nimmt, etwa vor Parlamentsausschüssen; Anm. d. Red.) Doch ganz gleich, ob die Häftlingszahlen steigen oder nicht, eine moderne Volkswirtschaft kann einfach nicht auf einem Fundament der Zwangsarbeit aufbauen. Außerdem kann eine begrenzte Zahl politischer Verhaftungen zusammen mit anderen repressiven Maßnahmen durchaus genügen, um den Kommunisten die Kontrolle zu sichern. Frei nach einem chinesischen Aphorismus: Man muss nur ein paar Hühner töten, um alle Affen das Fürchten zu lehren. Wenn die Kommunisten nicht auf diese Weise die Kontrolle behalten können, wird eine höhere Quote politischer Inhaftierungen ihnen auch nicht helfen.
aus: der überblick 01/2000, Seite 22
AUTOR(EN):
James D. Seymour:
James D. Seymour ist Senior Research Scholar am East Asian Institute der Columbia University in New York. Zusammen mit Richard Anderson hat er das Buch "New Ghosts, Old Ghosts. Prisons and Labor Reform Camps in China" (New York/London 1998) verfasst.