Die Wirtschaftskrise hat das Herrschaftssystem der Staatspartei untergraben, aber die zeigt sich lernfähig
Seit der Schuldenkrise von 1982 verfolgt Mexiko eine Politik der Strukturanpassung nach neoliberalem Rezept. Dies und die drei Wirtschaftskrisen seitdem haben die soziale Ungleichheit erhöht und die Reallöhne dramatisch sinken lassen. Das hat auch für die politische Herrschaft einschneidende Folgen: Die Staatspartei kann ihre Anhängerschaft nicht mehr mit Sozialleistungen an sich binden, ihre Klientelnetze lösen sich auf. Deshalb hat die Partei unter Präsident Zedillo den Weg zu einer Mehrparteiendemokratie geebnet. Und sie hat Chancen, durch diese Reform ihre Macht zu verteidigen.
von Dr. Christian Suter
Das Jahr 1994, in dem der jetzt scheidende mexikanische Präsident Ernesto Zedillo gewählt wurde, ist als eines der turbulentesten in die Geschichte Mexikos eingegangen. Es begann mit der Inkraftsetzung des Nordamerikanischen Freihandelsabkommens NAFTA (North- American Free Trade Agreement), das den marktwirtschaftlichen Reformkurs der mexikanischen Regierung endgültig besiegeln sollte und von dem sich das Land endlich den Anschluss an die "Erste" Welt erhoffte. Der Aufstand der Zapatisten in Chiapas sowie die Morde am Präsidentschaftskandidaten Luis Donaldo Colosio und am Parteisekretär der herrschenden Partei der Institutionalisierten Revolution (Partido Revolucionario Institucional, PRI) stürzten das Land jedoch in eine neue Krise. Am Ende des Jahres brach dann der Außenwert der Währung ein. Trotz internationaler Finanzhilfe und nationaler "Solidaritätspakte" führte dies zur - nach 1982-83 und 1985-86 - dritten und tiefsten Rezession in Mexiko seit Beginn der achtziger Jahre. Innerhalb weniger Wochen lösten sich die in 13 Jahren unter hohen Kosten erarbeiteten Stabilisierungserfolge in Nichts auf.
Am Ende der sechsjährigen Regierungsperiode von Ernesto Zedillo stellt sich deshalb mehr denn je die Frage nach den Überlebenschancen und dem Beharrungsvermögen der seit 70 Jahren herrschenden Staatspartei. In welcher Hinsicht hat sich das politische System im Verlaufe der einschneidenden wirtschaftlichen Krisen und der Reformpolitik verändert, und was sind die Folgen für die Machterhaltung der PRI?
Der Ausgangspunkt für eine Antwort auf diese Fragen ist das Grundmodell der Krisenregelung und Strukturanpassung seit 1982. Es beruhte auf der Kombination einer sukzessiven Abwertung des Peso mit einer Verringerung der Reallöhne und wurde erstaunlicherweise trotz wiederholter Wirtschaftskrisen kaum je in Frage gestellt. Auch die Regierung von Präsident Zedillo hielt eisern am geltenden wirtschaftspolitischen Kurs fest. Die Bedeutung der beiden Grundpfeiler des mexikanischen Strukturanpassungsmodelles - Abwertung und Lohnreduktion - kann nicht überschätzt werden. Allein im Krisenjahr 1982 fiel der Wert des Peso gegenüber dem amerikanischen Dollar um 466 Prozent, während der Krisenphase 1985-87 um 978 Prozent und zwischen Mitte Dezember 1994 und Dezember 1995, der dritten Krisenperiode, um 125 Prozent. Im Vergleich zu Ende 1981, vor den Krisen, hatte der mexikanische Peso Ende 1995 gerade noch 0,3 Prozent des ursprünglichen Wertes.
Die politische und wirtschaftliche Elite Mexikos hat alle drei Krisenphasen ähnlich interpretiert. Als hauptsächliche Krisenfaktoren wurden kurzfristige makroökonomische Probleme und Ungleichgewichte ausgemacht, verursacht durch ungünstige weltwirtschaftliche Entwicklungen (das hohe Zinsniveau und den Verfall der Erdölpreise), außerdem Ineffizienz und Managementfehler der staatlichen Verwaltung sowie ein Vertrauensverlust unter der Unternehmerschaft. Diese kurzfristige Perspektive ergänzte die Elite ab Mitte der achtziger Jahre durch eine grundsätzliche Kritik am binnenmarktorientierten Entwicklungsmodell der importsubstituierenden Industrialisierung: Dieses habe zu einer ineffizienten Ressourcenverteilung geführt.
Neben Maßnahmen zu Stabilisierung der Wirtschaft und des Staatsbudgets - Abbau von Staatsdefiziten, wettbewerbskonforme Wechselkurse, Inflationsbekämpfung, Abbau der Handels- und Zahlungsbilanzdefizite sowie eine Hochzinspolitik - wurden deshalb marktwirtschaftliche Strukturreformen in Angriff genommen. Dazu zählen die Aufhebung staatlicher Preis- und Lohnfestsetzungen, die Deregulierung von Handel und Investitionen, Verwaltungsreformen, um die Effizienz staatlicher Programme und Dienstleistungen zu steigern und die Kosten zu dämpfen, sowie Privatisierungen von Staatsunternehmen.
Das mexikanische Privatisierungsprogramm ist besonders eindrücklich. Gemäß Angaben der Weltbank steht Mexiko weltweit an der Spitze der Privatisierungsrangliste und erzielte alleine zwischen 1990 und 1996 Privatisierungserlöse von 26 Milliarden US-Dollar. Bereits während der Amtszeit von Präsident de la Madrid (1982-88) wurden mehrere kleinere Staatsunternehmen und Beteiligungen liquidiert. Die Privatisierung der großen und symbolträchtigen Staatsbetriebe, darunter der nationalen Telefongesellschaft Telmex, der Luftfahrtgesellschaften Aeroméxico und Mexicana, des gesamten Bankensystems sowie der beiden größten Kupferbergbauunternehmen, erfolgte jedoch erst unter Präsident Carlos Salinas (1988-94). Auch unter Ernesto Zedillo wurde die Privatisierungspolitik unvermindert fortgesetzt. Neben Elektrizitätsunternehmen, Autobahnen, Eisenbahnen, Hafenanlagen und Flughäfen wurden mittlerweile auch Teile der staatlichen Erdölgesellschaft Pemex zum Verkauf ausgeschrieben.
Hauptbeweggrund der Privatisierung scheinen nicht die offiziell genannten wettbewerbspolitischen Überlegungen zu sein, sondern vielmehr der erhoffte Vertrauensgewinn bei Unternehmerschaft und Wirtschaftselite sowie der ungedeckte Finanzierungsbedarf der öffentlichen Hand. Der volkswirtschaftliche und gesamtgesellschaftliche Nutzen des mexikanischen Privatisierungsprogrammes ist deshalb umstritten. So kam es bei den Verkäufen zu offensichtlichen Unregelmäßigkeiten und maßlosen Bereicherungen. Die erhofften Wettbewerbswirkungen stellten sich nicht immer ein - so sind die beiden privatisierten Fluggesellschaften mittlerweile fusioniert. Zahlreiche privatisierte Gesellschaften mussten durch staatliche Finanzspritzen vor dem Ruin gerettet werden. Dies gilt insbesondere für die Autobahnen und das gesamte Bankensystem. Um den Zusammenbruch des Bankensystems im Gefolge der Krise von 1994-95 abzuwenden, stellte die Regierung ein Mehrfaches der Mittel zur Verfügung, die sie aus dem Verkauf der Banken bei der Privatisierung erzielt hatte: Zwischen 1995 und 1999 gewährte sie über den eigens eingerichteten staatlichen Auffangfonds Kapitalspritzen von 70 Milliarden US-Dollar, ohne dass derzeit ein Ende der Dauerkrise der Bankinstitute abzusehen wäre.
Mitbedingt durch eine Inflationsspirale, die von der Abwertungspolitik angeheizt wurde, bewirkte das mexikanische Strukturanpassungsmodell einen starken Druck auf die Reallöhne (eine Abwertung führt zum Anstieg der Preise für Importwaren, so dass die Löhne an Kaufkraft verlieren; Anm. d. Red). Die Arbeitnehmer mussten empfindliche Wohlstandseinbußen hinnehmen. Nachdem die Reallöhne bis zur Mitte der siebziger Jahre stark zugenommen hatten, stagnierten sie bis 1982 und fielen dann dramatisch. Die Durchschnittslöhne sanken zwischen 1982 und 1988 um 45 Prozent, um sich danach wieder leicht zu erholen. Ähnliches gilt für die Löhne in der verarbeitenden Industrie. Einzig die überdurchschnittlich hohen Löhne im hochqualifizierten Dienstleistungssektor - etwa bei Banken und Versicherungen - konnten sich nach einem Rückgang bis 1988 deutlich steigern und erreichten 1994 wieder das Vorkrisenniveau. Die Finanz- und Wirtschaftskrise von 1994-95 hat diese Kaufkraftgewinne jedoch erneut zunichte gemacht.
Besonders ausgeprägt ist der Reallohnzerfall bei den vertraglichen Mindestlöhnen, die sich ab Ende der siebziger Jahre stetig verringerten: Zwischen 1981 und 1997 sanken sie um 70 Prozent. Einen ähnlichen Verlauf nahm die Lohnentwicklung in der Landwirtschaft. Dort ist der Verfall zwar etwas weniger stark, doch liegt das Niveau der Landwirtschaftslöhne noch niedriger als das der vertraglichen Minimallöhne. Die Mindestlohnempfänger und die in der Landwirtschaft Beschäftigten, also die Empfänger der niedrigsten Löhne mit den größten Armutsrisiken, wurden von der Strukturanpassung am härtesten getroffen.
Diese hatte auch verheerende Auswirkungen auf die Beschäftigungssituation. Die Hochzinspolitik trieb zahlreiche Kleinunternehmen in den Ruin. Zwischen 1983 und 1994 wurden lediglich knapp 2,5 Millionen neuer Arbeitsplätze geschaffen, wovon gegen die Hälfte in der Rezession von 1995 wieder verloren ging. Gemäß einer Studie des Unternehmerverbandes CANACINTRA, der vor allem die mittleren und kleinen Unternehmen repräsentiert, wären im Zeitraum 1980 bis 1994 wegen des Bevölkerungswachstums 12 Millionen zusätzliche Arbeitsplätze nötig gewesen.
Diese Zahl scheint jedoch zu tief gegriffen, wenn man bedenkt, dass nicht nur die neu auf den Arbeitsmarkt drängende Generation beschäftigt werden musste. Vielmehr hatte der Reallohnverlust zur Folge, dass die durchschnittliche Anzahl der Erwerbstätigen pro Haushalt zwischen 1984 und 1989 von 1,5 auf 1,6 stieg und 1996 einen Wert von 1,8 erreichte. Entsprechend erhöhte sich auch der Anteil der Haushalte mit zwei und mehr Erwerbstätigen, nämlich von 44 Prozent 1992 auf 49 Prozent 1996. Die Krisenstrategie der Haushalte ist offensichtlich, ihr Arbeitsvolumen durch Zweitbeschäftigungen und zusätzliche Erwerbstätigkeit von Kindern und Frauen auszuweiten. Damit geraten sie in einen Teufelskreis: Die Erhöhung des Arbeitskräfteangebots führt zu einem Druck auf das Lohnniveau, wodurch die Haushalte gezwungen sind, ihr Arbeitsvolumen erneut zu erhöhen.
Die Lohnentwicklung zeigt, dass die Kosten der mexikanischen Strukturanpassung ungleich auf die verschiedenen Einkommenskategorien verteilt wurden. Tatsächlich hat sich im Verlauf der achtziger und neunziger Jahre die Ungleichheit verschärft. Das war besonders ausgeprägt während der wirtschaftlichen Stagnationsphase zwischen 1984 und 1989. Die reichsten 10 Prozent der Haushalte konnten ihren Anteil am Gesamteinkommen steigern - zwischen 1984 und 1994 von 33 auf 38 Prozent. Der Anteil der ärmsten 40 Prozent ist dagegen im gleichen Zeitraum von über 14 Prozent auf unter 13 Prozent gesunken. Deutliche Einbußen erlitt auch die Mittelschicht. So verringerte sich der Anteil der Einkommensempfänger in der Mitte von 53 Prozent 1984 auf 49 Prozent 1994. Dies bedeutet auch, dass ein Teil der Mittelschicht Abstriche am gewohnten Konsumstil hinnehmen musste - die Einkaufsreisen in die USA, die Privatschule für die Kinder, der Zweitwagen, die Hypotheken für das Haus.
Aus dem starken Verfall der Reallöhne zusammen mit der Zunahme der Einkommenskonzentration resultierte auch eine größere Verbreitung von Armut. Nachdem sich das Ausmaß der Armut in den sechziger und siebziger Jahren stetig verringert hatte, nahm es in den achtziger Jahren wieder stark zu. Besonders betroffen davon ist die Bevölkerung auf dem Lande. Aber auch in der mexikanischen Hauptstadt lebten Mitte der neunziger Jahre laut einer vom UN-Kinderhilfswerk Unicef mitfinanzierten Studie 60 Prozent der Haushalte mit einem Einkommen von weniger als einem Minimallohn pro Person.
Welche politischen Auswirkungen hatte diese wirtschaftliche Anpassungs- und Reformstrategie? Sie hat vier wichtige Veränderungstendenzen im politischen System ausgelöst, die Auswirkungen auf die Art und Weise der Herrschaftssicherung haben. Die erste war der Versuch, während der Präsidentschaft von Carlos Salinas die alten, ineffizient gewordenen Klientelnetze mit Hilfe des Sozialprogramms PRONASOL (Programa Nacional de Solidaridad) zu reformieren. Die zweite Veränderung waren politische Liberalisierungsschritte unter Präsident Ernesto Zedillo, die dritte die Herausbildung eines Drei-Parteien-Systems und die vierte die Auflösung des Revolutionsmythos als Grundlage der Herrschaftsideologie.
In der ersten Phase der Strukturanpassung unter Präsident de la Madrid war die Sozialpolitik in den Hintergrund gedrängt und der wirtschaftlichen Stabilisierung untergeordnet worden. Mit der Präsidentschaft von Salinas begannen neue sozialpolitische Initiativen. Hintergrund dieser Bestrebungen waren die zunehmenden Tendenzen der sozialen Desintegration. Kernstück der neuen Sozialpolitik war das Sozialprogramm PRONASOL, das auch eine wichtige Stütze im Rahmen der neuen, von Salinas propagierten Doktrin des "sozialen Liberalismus" bildete.
Das politische Ziel von PRONASOL war, neue Klientelbeziehungen zwischen der Regierung und den einkommensschwachen städtischen und ländlichen Bevölkerungsschichten zu schaffen. Tatsächlich ist die Mittelvergabe von PRONASOL nicht allein mit der Armut und Bedürftigkeit der Empfänger zu erklären. Vielmehr kamen die Mittel insbesondere jenen Provinzen zugute, in denen Wahlen anstanden und bei denen gleichzeitig der Anteil oppositioneller Wähler besonders hoch war. Die Finanzmittel des Programms flossen direkt von der Zentralregierung zu den lokalen Projektkomitees und folgten damit nicht den traditionellen Verteilungskanälen, wie sie vor der Krise der achtziger Jahre typisch gewesen waren: lokale Machteliten und Bürokratien wurden umgangen. Damit sollte die Effizienz des neuen Programms gewährleistet werden. PRONASOL kann damit als Versuch interpretiert werden, die alten ineffizient gewordenen Klientelnetze zu reformieren und dem mexikanischen Staat eine neue Legitimationsgrundlage zu verschaffen. Hinsichtlich der Umgehung lokaler Machtstrukturen war PRONASOL allerdings wenig erfolgreich.
Dies zeigte sich am deutlichsten in Chiapas, dem Gliedstaat, der auch die meisten Mittel zugesprochen erhielt. In den ersten drei Jahren des Programms kam es zwischen PRONASOL-Delegierten, die Basisprojekte und autonome Initiativen zu unterstützen versuchten, und den lokalen Eliten - Großgrundbesitzern, Kaziken (Dorfvorstehern), Partei- und Verbandsfunktionären -, die um ihre Macht fürchteten, zu wachsenden Spannungen. Der Konflikt führte schließlich dazu, dass verschiedene PRONASOL-Aktivisten abberufen wurden und die Kontrolle über die PRONASOL- Mittel weitgehend dem Gouverneur von der PRI und Repräsentanten der lokalen Elite überlassen wurde. Der Umfang der in Chiapas investierten PRONASOL-Gelder erhöhte sich im Vorfeld des Zapatistenaufstandes beträchtlich. Im August 1993 kündigte das Sozialministerium ein Spezialprogramm für die Gemeinden in den späteren Konfliktregionen an. Paradoxerweise finanzierte die Regierung damit zugleich die Guerillabewegung. Dass PRONASOL ausgerechnet in Chiapas scheiterte, entbehrt nicht einer gewissen Ironie, hatte doch Carlos Salinas das Programm im Rahmen seines Präsidentenwahlkampfs gerade in dieser Region erstmals vorgestellt.
Das neue, über PRONASOL strukturierte Klientelnetz konnte die Vermittlungsfunktion zwischen Staat und Gesellschaft nur vorübergehend wahrnehmen - nur bis zur Krise von 1994-95. Sie gefährdete nicht nur auf Grund des geringeren finanziellen Spielraums die Aufrechterhaltung eines neuen Patronagesystems. Ebenso entscheidend war, dass die neue Klientelstruktur schwach institutionalisiert und eng mit der Person von Salinas verbunden war. Zedillo schob seinem Vorgänger die alleinige Verantwortung für die Krise in die Schuhe; so vermochte er sich zwar von ihm zu lösen, machte aber gleichzeitig den Legitimationstransfer von der alten zur neuen Regierung unmöglich. Angesichts des wirtschaftlichen Scherbenhaufens versuchte Präsident Zedillo sich als politischer Reformer zu profilieren. Er ersetzte die Ideologie des sozialen Liberalismus durch die des "politischen Liberalismus".
Die zweite politische Auswirkung der Wirtschaftsreformen waren also politische Liberalisierungsschritte. Tatsächlich kam es erst mit Zedillo zu grundlegenderen Reformen des Wahlsystems. Dazu zählt insbesondere die Wahlrechtsreform von 1996, die unter anderem die vollständige Unabhängigkeit der obersten Wahlbehörde garantierte und die direkte Wahl des Bürgermeisters für die Hauptstadt einführte. Diese Reformen ermöglichten 1997 die Wahlerfolge der Oppositionsparteien. Schließlich hat Zedillo mit der Einführung von parteiinternen Vorwahlen für die Nominierung des Präsidentschaftskandidaten der PRI auch erste Schritte für die Demokratisierung der Staatspartei und für eine Beschränkung des mexikanischen presidencialismo, der Macht des Präsidenten, eingeleitet.
Seit den Wahlen von 1988 zeichnet sich die dritte politische Veränderung ab, die Herausbildung eines Drei-Parteien-Systems anstelle der vormals unangefochtenen Einparteienherrschaft der PRI. Die Staatspartei wird im rechten Parteienspektrum von der PAN (Partei der Nationalen Aktion, Partido Acción Nacional) und auf der Linken von der PRD (Partei der Demokratischen Revolution, Partido de la Revolución Democrática) herausgefordert. Bei den Präsidentschaftswahlen von 1988 und 1994 verringerte sich der Wähleranteil der PRI, der zuvor jeweils bei 80 Prozent gelegen hatte, auf 50 Prozent und bei den Parlamentswahlen von 1997 auf 39 Prozent. Der Stimmenanteil der PAN schwankte bis 1988 zwischen 8 und 16 Prozent und stieg 1994 und 1997 auf 27 Prozent. Die PRD konnte den Achtungserfolg von 1988 (offiziell 31 Prozent) zwar 1994 nicht wiederholen und erreichte lediglich 17 Prozent; 1997 konnte sie sich jedoch wieder auf 26 Prozent steigern und in Mexiko-Stadt das Rennen um den Posten des Bürgermeisters gewinnen.
Detaillierte Analysen der Wahlgänge von 1988 und 1994 zeigen, dass die PRI in urbanen und stärker industrialisierten Regionen sowie bei Bevölkerungsgruppen mit höherem Bildungsniveau besonders stark verloren hat. Angesichts der ungebrochenen Verstädterung und des höheren Bildungsniveaus der jüngeren Generationen ist diese Entwicklung für die PRI fatal. Allerdings hat auch der Anteil von Wechselwählern stark zugenommen; die Parteibindung der Wählerschaft hat sich in den letzten Jahren generell gelockert.
Der Revolutionsmythos hat sich indessen als Grundlage der Herrschaftsideologie aufgelöst – dies ist die vierte Folge der Wirtschaftsreformen. Im nachrevolutionären Mexiko bildete dieser Mythos mit den Grundwerten von Freiheit, wirtschaftlicher Unabhängigkeit, Souveränität sowie sozialer Gerechtigkeit das Kernstück von Partei- und Staatsideologie. Die Mexikanische Revolution ist nicht nur auf Grund der mit ihr verbundenen wirtschaftlichen, sozialen und politischen Umwälzungen, sondern auch wegen ihrer identitätsstiftenden Funktion von großer Bedeutung. Die wirtschaftliche Anpassungs- und Reformstrategie der achtziger Jahre mit ihrer Umorientierung von staatsinterventionistischen zu marktwirtschaftlichen Prinzipien hat jedoch den Revolutionsmythos ausgehöhlt und brüchig werden lassen. Die Kluft zwischen den Grundwerten der Revolutionsideologie und den wirtschaftspolitischen Maßnahmen wurde immer deutlicher. Dieser wachsende Widerspruch bot oppositionellen politischen Kräften einen willkommenen Angriffspunkt, um die Legitimität des Regimes zu untergraben. Die äußerst erfolgreichen Mobilisierungskampagnen von Cárdenas bei den Wahlen von 1988 und 1997 sowie der Aufstandsbewegung in Chiapas, die beide explizit auf den von Regierung und PRI "verratenen" Revolutionsmythos Bezug genommen hatten, offenbaren dessen große Bedeutung.
Die Reformen haben auch eine Mobilisierung von verschiedenen Kräften der Zivilgesellschaft ausgelöst. Die mexikanische Strukturanpassung hat Lohnabhängige, Erwerbstätige mit niedrigem Einkommen und den ländlichen Sektor besonders hart getroffen, während Teile der Unternehmerschaft und die Oberschicht von den wirtschaftspolitischen Umgestaltungen profitierten. Bei den Anpassungsverlierern handelt es sich gerade um jene gesellschaftlichen Gruppen, die dem politischen Regime Massenlegitimität verliehen hatten. Erstaunlicherweise hat das bislang aber nicht zu einem Machtwechsel geführt. Dennoch sind Prozesse der Desintegration und des Regimezerfalls unübersehbar. Das zeigt sich an den Reaktionen der wichtigsten gesellschaftlichen und politischen Gruppen auf den Strukturwandel.
Die mexikanische Gewerkschaftsbewegung ist in der Zeit der Strukturanpassung generell geschwächt worden. Abgesehen von den drastischen Reallohnverlusten zeigt sich dies im Abbau der Lohnnebenleistungen nach Privatisierungen und im niedrigen gewerkschaftlichen Organisationsgrad in der aufstrebenden grenznahen Maquiladora-Industrie (das heißt in Betrieben, oft von transnationalen Unternehmen, die in Mexiko zollbegünstigt Güter für den nordamerikanischen Markt produzieren; Anm. d. Red.).
Ausschlaggebend für den geringen gewerkschaftlichen Widerstand gegen die Strukturanpassungspolitik sind die organisatorische Schwäche der mexikanischen Gewerkschaftsbewegung und die niedrige Konfliktneigung der Gewerkschaftsführung. Die Zersplitterung in konkurrierende Dachverbände und Tausende kleiner Einzelgewerkschaften mit einer entsprechend geringen Mitgliederzahl erschwert einerseits eine breite Mobilisierung und ermöglicht andererseits der Regierung, verschiedene Gruppierungen gegeneinander auszuspielen. Hinzu kommt, dass die traditionelle Gewerkschaftsführung unter Fidel Velázquez, der den offiziellen Gewerkschaftsverband mitbegründete und von 1941 bis 1997 mit starker Hand leitete, sich in hohem Maße mit den korporatistischen Institutionen identifizierte und sich entsprechend loyal gegenüber der Regierung verhielt.
Doch die ursprüngliche korporatistische Einbindung der Gewerkschaften hat sich weitgehend aufgelöst. Dazu beigetragen hat einerseits die mangelhafte Mobilisierung von Stimmen für die PRI unter Arbeitern bei den letzten zwei Präsidentschaftswahlen. Andererseits sind zahlreiche neue regierungsunabhängige Gewerkschaften entstanden, die das Vertretungsmonopol der offiziellen Gewerkschaften faktisch außer Kraft gesetzt haben.
Die mexikanische Studenten- und Jugendbewegung von 1968 und ihre gewaltsame Unterdrückung war ein Schlüsselereignis und Wendepunkt für die Beziehung zwischen Staat und Zivilgesellschaft in Mexiko. Als Folge der schwindenden Integrationskraft und der abnehmenden Kooptationsfähigkeit des politischen Regimes entstanden im Verlaufe der siebziger und achtziger Jahre im städtischen und ländlichen Raum zahlreiche unabhängige soziale Bewegungen, während sich ein kleiner Teil der zerschlagenen Studentenbewegungen für den bewaffneten Kampf im Untergrund entschied. Ihren bisherigen Höhepunkt erreichte diese Mobilisierung mit dem Neujahrsaufstand der Zapatistenbewegung in Chiapas vom 1. Januar 1994.
Die Wirtschaftskrise von 1994-95 löste eine neue Mobilisierungswelle aus. Dazu gehört auch das movimiento barzonista, eine in der Mittelschicht verankerte Bewegung mit über 2 Millionen Mitgliedern, die gegen die hohe Zinsbelastung und die Überschuldung von Kleinunternehmern, Bauern und Konsumenten auftrat. Diese Bewegung ist insofern von besonderer Bedeutung, als sie sich explizit gegen die Strukturanpassungspolitik der mexikanischen Regierung richtet, die für die hohen Realzinsen verantwortlich gemacht wird. Gleichzeitig symbolisiert sie den politischen Aufbruch der sonst eher passiven und systemkonformen Mittelschicht.
Die Kritik am neoliberalen Wirtschaftsmodell steht auch im Mittelpunkt der verschiedenen Gesprächsrunden, nationalen Dialoge, Referenden und internationalen Foren, die die Zapatistische Befreiungsarmee und indigene Bewegungen in den vergangenen zwei Jahren angeregt haben. Aber trotz der beträchtlichen Mobilisierungserfolge sind die sozialen Bewegungen Ende der neunziger Jahre auf Grund ihrer großen Zersplitterung eher als schwächer einzuschätzen als vor den Wahlen von 1988. Während damals Cárdenas bzw. das von ihm repräsentierte Parteienbündnis die verschiedenen oppositionellen Kräfte der Zivilgesellschaft zu sammeln vermochte, hat die PRD heute diese Führungsrolle eingebüßt.
Da die Unternehmerschaft im nachrevolutionären Mexiko im Gegensatz zur Arbeiter- und Bauernschaft formal nicht in die herrschende PRI eingebunden war, gelang es ihr leichter, sich vom Regime zu distanzieren. Bereits Mitte der siebziger Jahre wurde mit dem Consejo Coordinador Empresarial (CCE) ein unabhängiger nationaler Dachverband errichtet, der erstmals die unterschiedlichen Strömungen und Sektoren der Unternehmerschaft vereinigte. Seine Führung lag in den Händen der großen Unternehmen im Finanz- und Exportsektor, während die protektionistisch ausgerichteten, binnenmarktorientierten kleineren Firmen - insbesondere die verarbeitende Industrie - eine Minderheit bildeten.
Die wirtschaftliche Elite hat während der achtziger Jahre erheblich an Einfluss auf die Regierung gewonnen. Die weitgehende Interessenharmonie zwischen den bestimmenden Wirtschaftsinteressen und der Regierung zeigt sich nicht nur darin, dass die Staatsführung die wirtschaftsliberale Interpretation der Krisen und die daraus abgeleiteten Anpassungs- und Reformprogramme übernommen hat. Die Wirtschaftselite profitierte nicht zuletzt von der Privatisierungspolitik - ein großer Teil der privatisierten Unternehmen ist von der neuen mexikanischen Wirtschaftselite erworben worden.
Es ist also während der bald zwanzigjährigen Strukturanpassungsphase zu einer Umgestaltung der Herrschaftsverhältnisse gekommen: "einheimische und ausländische Wirtschaftseliten" sind stärker als zuvor am Herrschaftsbündnis beteiligt, wobei ihre Beziehungen zum Regime weitgehend informeller Natur sind. Die korporatistische Anbindung der Gewerkschaften an die PRI hat sich aufgelöst, ebenso das alte, über die PRI, die Verbände und die Staatsunternehmen aufgebaute klientelistische Verteilsystem. Der Versuch, das Patronagesystem zu reformieren (durch PRONASOL), hat sich als Misserfolg erwiesen.
Die zunehmende Entkoppelung von Staat und Zivilgesellschaft, aber auch von Staat und Partei (PRI), die als Folge der politischen Liberalisierungsschritte eingesetzt hat, scheint auf den ersten Blick die Herrschaftssicherung der PRI in Frage zu stellen. Längerfristig ist jedoch das Überleben der PRI selbst nur garantiert bei einer freieren Organisation der Interessen und wenn Gegenmächte entstehen. Denn aus der Geschichte zum Beispiel des Kommunismus wissen wir, dass die vollständige Überlagerung von Staat, Partei und Zivilgesellschaft noch jedes Regime ausgehöhlt und zum Einsturz gebracht hat.
Hinzu kommt, dass sich die PRI als durchaus lernfähig erwiesen hat. Dies zeigt sich augenfällig bei den ersten Vorwahlen zur Nominierung ihres Präsidentschaftskandidaten. Präsident Zedillo hat damit geschickt eine gefährliche Klippe umschifft: Er hat die drohende Spaltung der Partei verhindert und dem neuen Präsidentschaftskandidaten, Francisco Labastida, eine demokratische Legitimation verschafft - etwas, was den Kandidaten der Opposition, Vincente Fox vom PAN und Cuauhtémoc Cárdenas vom PRD, nicht gelungen ist. Obgleich eine deutliche Mehrheit der Bevölkerung eine Wahlallianz der Opposition wünschte, konnten sich PAN und PRD nicht auf ein Verfahren einigen, mit dem ein gemeinsamer Kandidat hätte bestimmt werden können. Die PRI dürfte deshalb einmal mehr von der Uneinigkeit der Opposition profitieren.
In jedem Fall wird der Sieger der kommenden Wahlen vor einer schweren Aufgabe stehen. Denn die fortschreitende Auflösung der mexikanischen Gesellschaft lässt sich nur mit der Schaffung eines neuen Gesellschaftsvertrags überwinden. Weder die herrschende PRI noch die Parteien der Opposition scheinen derzeit dazu in der Lage zu sein.
aus: der überblick 02/2000, Seite 14
AUTOR(EN):
Dr. Christian Suter:
Dr. Christian Suter ist Assistenzprofessor für Soziologie an der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) Zürich und zur Zeit Gastprofessor für Soziologie in Jena. Er ist unter anderem Autor von "Gute und schlechte Regimes. Staat und Politik Lateinamerikas zwischen globaler Ökonomie und nationaler Gesellschaft", Frankfurt/ Main 1999.