Der UN-Sonderbeauftragte verkörpert in Kabul eine Art Gewissen der Völkergemeinschaft
Lakhdar Brahimi ist gerne der Mann im Hintergrund. Großes Aufhebens macht er selten um seine Person. Eher schon arbeitet er akribisch und mit Ausdauer an einer Sache, ohne sich über die Maßen vor laufenden Fernsehkameras zu präsentieren. Dabei könnte er nach all seinen recht erfolgreichen Jahren im internationalen Geschäft auch selbstbewusst bis eitel auftreten. Anschauungsmaterial fände er für solches Gebaren reichlich unter seinesgleichen. Aber der hagere Algerier zieht es vor, im Stillen zu wirken.
von Friederike Bauer
Genauso hält er es nun auch in Afghanistan, wo er als UN-Sonderbeauftragter vor einigen Wochen Quartier bezogen hat, um die Übergangsregierung unter Ministerpräsident Hamid Karzai zu unterstützen und zu beraten. Da seine Funktion in der Bonner Übereinkunft für Afghanistan nur ungenau beschrieben ist, muss er die Position erst noch ausfüllen. Brahimi verkörpert aber auf jeden Fall so etwas wie das Gewissen der Völkergemeinschaft in Kabul. Als eine Mischung aus Vermittler, Mentor und Mahner ist er zu einer Art Bindeglied zwischen Karzais Kabinett, den Geberländern, dem Sicherheitsrat und den Vereinten Nationen insgesamt geworden. An ihm liegt es, die internationale Gemeinschaft an ihre Versprechen zu erinnern und rechtzeitig um Geld zu bitten, wie im Januar geschehen, oder der unerfahrenen Regierung in vielen, zum Teil ganz praktischen Fragen unter die Arme zu greifen. Er übernimmt aber auch eine Frühwarnfunktion, denn von ihm wird man erwarten, die UN in New York rechtzeitig über neue Schwierigkeiten im Land zu unterrichten. Brahimi ist also zur zentralen internationalen Figur in Afghanistan geworden; er steht für den gesamten Friedensprozess, der sich in den vergangenen Monaten mit atemberaubender Geschwindigkeit entwickelt hat.
Dabei kann Brahimi auf viele Jahre Erfahrung zurückblicken. Er befasst sich auch nicht zum ersten Mal mit Afghanistan. Zwischen 1997 und 1999 war er schon einmal Afghanistan-Beauftragter der Vereinten Nationen. Viel Erfolg war ihm seinerzeit nicht beschieden; die Verhandlungen mit den Taliban gestalteten sich sogar so schwierig, dass UN-Generalsekretär Annan bald beschloss, alle diesbezüglichen Initiativen einzustellen. Dass mit der Entscheidung kein Urteil gegen Brahimi verbunden war, zeigte sich daran, dass dieser weiter an prominenter Stelle im UN-System eingesetzt wurde.
Manche in New York halten Brahimi für übervorsichtig. Aber ohne Wirkung ist er deshalb noch lange nicht. Wo der Eine leidenschaftlich und ungestüm ist, bevorzugt der Andere das leise, vielleicht auch etwas feinere Auftreten, das manchmal fast unsicher wirken mag. Gleichzeitig gilt der Algerier als menschlich und intellektuell überzeugend.
Diese Qualitäten sind es wohl, die den lange Zeit Unbekannten zu einer Art Allzweckwaffe der UN werden ließen. Schon Annans Vorgänger Boutros-Ghali zog ihn immer wieder zu Sonderaufgaben heran. Allein in den neunziger Jahren war er für die Weltorganisation in Zaire, im Jemen, auf Haiti, in Südafrika und natürlich in Afghanistan tätig. Zuletzt leitete er jene Gruppe von Fachleuten, die einen kritischen Blick auf die Abteilung für Friedensoperationen warfen. Daraus entstand ein umfänglicher und vielbeachteter Katalog an Empfehlungen, der kurz und bündig Brahimi-Bericht heißt (vgl. "der überblick" 3/2000). Vieles von dem, was da unter seiner Leitung vorgeschlagen wurde, ist bis heute nicht verwirklicht. Aber die Ende der neunziger Jahre stark ausgedünnte Abteilung für friedenserhaltende Operationen (Peace Keeping Department) des UN-Sekretariats bekam anschließend immerhin wieder etwas mehr Personal und Finanzmittel zugeteilt. Das Bewusstsein, dass viele Fehler bei vergangenen Friedensoperationen auf organisatorischen Mängeln gründeten, ist inzwischen weit verbreitet und sicher zu einem guten Teil auf den Brahimi-Bericht zurückzuführen.
Dass der umsichtige Diplomat formell Afrika zugeordnet wird, spielt bei den stets auf Proporz achtenden Mitgliedstaaten gewiss auch eine Rolle. Er ist 1934 in Algier geboren, hat jedoch den Großteil seines Lebens im Ausland zugebracht. Zwischendurch kehrte der studierte Jurist und Politologe immer wieder nach Algerien zurück. Er war sogar zwei Jahre Außenminister seines Landes. Aber seine Wahlheimat ist wohl Frankreich, wo er seit vielen Jahren ein Domizil hat.
Dass er Muslim ist, merkt man dem sichtbar westlich geprägten Brahimi nicht an. Es hat ihm aber gerade als Afghanistan-Sonderbeauftragtem immer wieder Pluspunkte eingetragen. So hielt er sich während der Verhandlungen afghanischer und internationaler Vertreter über die politische Zukunft Afghanistans, die nach dem Sieg über die Taliban Ende November auf dem Petersberg bei Bonn stattfanden, strikt an die Regeln des Ramadan. Tagsüber fastete er wie seine afghanischen Partner, wodurch ein ganz eigentümlicher Konferenzablauf entstand: Erst nach Sonnenuntergang, so gegen halb sechs, konnten sich die Delegierten nach einem entbehrungsreichen Tag stärken. Dadurch fiel der Nachmittag als produktive Phase weitgehend aus. Dafür dauerten die Gespräche oft bis in den frühen Morgen hinein. Durch seine orientalisch flexible Verhandlungsführung erwarb sich Brahimi bei den Beteiligten schnell Sympathien, die ihm sicher bis heute von Nutzen sind.
Insgesamt aber zeigte sich Brahimi - und damit bleibt er seinem Naturell treu - lange sehr verhalten bis pessimistisch über die Friedensaussichten für das über 22 Jahre vom Krieg gezeichnete Land. Seine ersten Berichte an den Sicherheitsrat im vergangenen Herbst strotzten nur so vor Skepsis. Die Formulierungen "ich weiß noch nicht" oder "das kann man jetzt noch nicht beurteilen" zählten zu seinen am häufigsten gebrauchten. Ein weiteres Fiasko am Hindukusch wollte er seiner Organisation nach all den Pannen im letzten Jahrzehnt offenbar ersparen. Mit einer flächendeckenden UN-Mission, so beschied er sehr bald, seien die Vereinten Nationen schlichtweg überfordert. Deshalb bevorzuge er eine "Koalition der Freiwilligen" zur Sicherung der neuen Regierung. So kam es dann auch: Seit Ende Dezember sorgt eine multinationale Schutztruppe unter Führung Großbritanniens für Ruhe und Ordnung in der Hauptstadt Kabul und ihrer Umgebung.
Seine Vorsicht legte Brahimi auch auf dem Petersberg noch nicht ab, obwohl doch allein schon das Zustandekommen der Verhandlungsrunde einem Wunder glich. Wer hätte auch nur wenige Wochen vorher gewagt, an ein derartiges Treffen zu denken? Der hungrig wartenden Presse stellte Brahimi sich erst, als die Übereinkunft schon unterzeichnet war. Vorher blieb er oben auf dem Petersberg, abgeschirmt von der Öffentlichkeit, wo er geschlagene zehn Tage, zum Schluss fast rund um die Uhr, vermittelnde Gespräche führte. Dass am Ende tatsächlich eine Vereinbarung entstand, mit deren Hilfe in den kommenden zwei Jahren ein Land von der Willkürherrschaft in einen demokratischen Staat überführt werden soll, ist zum allergrößten Teil sein Verdienst.
Eine Übergangsregierung, so sieht es die Übereinkunft vor, bleibt sechs Monate im Amt, bis sie von einer Emergency Loya Jirga, einer Art Versammlung von Stammesführern, nach sechs Monaten gebilligt (oder modifiziert) wird. Danach regiert sie weitere 18 Monate, während die Vorbereitungen für eine verfassungsgebende Loya Jirga beginnen, die schließlich die Voraussetzung für freie und faire Wahlen schaffen soll.
Seit Bonn wirkt Brahimi gelöster, denn nun gibt es einen Fahrplan über die nächsten Stationen in diesem politischen Entwicklungsprozess. Inzwischen stellt sich der UN-Sonderbeauftragte auch häufiger Interviews und äußert sich freimütiger als zu Beginn seiner Mission. Natürlich lässt er nie einen Zweifel über die Schwierigkeiten der bevorstehenden Aufgaben aufkommen. So mahnte er die internationale Gemeinschaft gleich in den ersten Wochen, nun müssten die Mitgliedsländer ihre Zusagen wahr machen und endlich Geld nach Afghanistan überweisen. Ministerpräsident Hamid Karzai und sein Übergangskabinett fanden bei ihrer Ankunft in Kabul nichts als leere Kassen vor. Ein Steuersystem existierte nicht, auch kein intaktes Justiz-oder Bankwesen. Alle wesentlichen Staatsaufgaben müssen aus dem Nichts entwickelt werden. Dass die Geber bei ihrer Konferenz Ende Januar in Tokio mehr als vier Milliarden für die kommenden Jahre in Aussicht stellten, auch daran hat Brahimi als ständiger Bittsteller und Nörgler seinen Anteil.
In Kabul selbst muss sich Brahimi sein Tätigkeitsfeld erst noch zurechtschneidern, denn in der Bonner Übereinkunft sind seine Kompetenzen nur sehr allgemein beschrieben. Ihm kommt eine Art Kontrollfunktion zu, in dem er der Übergangsregierung bei der Schaffung eines "politisch neutralen Umfelds" behilflich sein soll, das der "Abhaltung der außerordentlichen Loya Jirga unter freien und fairen Bedingungen dienlich ist". Außerdem kann er Menschenrechtsverletzungen untersuchen und erforderlichenfalls Abhilfemaßnahmen empfehlen.
Dass die kommenden zwei Jahre kein Kinderspiel werden, braucht man einem Mann wie Brahimi nicht erst beizubringen. Dazu kennt er die UN-Arbeit viel zu genau. Allen Aussagen ist zu entnehmen, für wie groß er die Gefahr des schleichenden Desinteresses hält.
Im Moment kann Brahimi einigermaßen zufrieden auf die Fortschritte der vergangenen Monate zurückblicken, auch wenn das Petersberger Abkommen alles andere als perfekt ist. Er kann auf die 4,5 Milliarden US-Dollar Finanzunterstützung und auf die humanitäre Hilfe verweisen. Die erste Kommission zur Einberufung einer außerordentlichen Loya Jirga ist gebildet, die internationale Schutztruppe trudelt allmählich in Kabul ein. Das Leben in der Hauptstadt normalisiert sich, die ausländischen Botschafter kehren nach und nach zurück.
Aber bis im ganzen Land Frieden herrscht und der Wiederaufbau Form annimmt, werden noch Jahre vergehen. Brahimi hat, so viel steht schon jetzt fest, die Entwicklung mit angeschoben. Ob die Bilanz weiterhin positiv bleibt, hängt auch von seinem Können ab, Afghanistan im Gespräch zu halten. Dafür muss er künftig vor dem Vorhang ebenso geschickt handeln wie dahinter. Ein Spur mehr Raffinesse im Umgang mit der Öffentlichkeit würde dem ansonsten begabten Diplomaten Brahimi keineswegs schaden, auch wenn ihm die Nähe zu den Medien als anbiedernd widerstreben mag.
aus: der überblick 01/2002, Seite 96
AUTOR(EN):
Friederike Bauer :
Friederike Bauer arbeitet als politische Redakteurin bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und ist zuständig für internationale Organisationen.