Wie das Kino das Leben in zwei Kulturen zugleich beschreibt
Jemand kommt in eine fremde Welt. Er wird ausgegrenzt, ausgenutzt und unterdrückt, will sich unsichtbar machen und hofft darauf, nach Hause zurückzukehren, er passt sich an, lebt parallel in zwei Kulturen oder scheitert. Filmemacher beschreiben diesen Balanceakt von Migranten zwischen zwei Welten: klischeebeladen, detailreich, dokumentarisch, tragisch oder komisch.
von Georg Seeßlen
Es gibt eine Geschichte von Menschen, die im Europa der letzten fünfzig Jahre in hundertfachen Variationen und mit unterschiedlichen und doch einander ähnlichen Bildern erzählt werden kann. Es ist die Geschichte des Menschen in der Fremde: Jemand kommt in eine andere Kultur. In der Regel geschieht das nicht freiwillig, sondern nur, wenn seine eigene Kultur ihn weder ernähren noch ihm eine Zukunft bieten kann. Oder wenn die politische Herrschaft ihm nach Freiheit und Leben trachtet.
Selten ist das Verhältnis zwischen Migranten und dem neuen Land historisch und kulturell unbelastet. An einzelnen Orten ist er für den Augenblick willkommen als Arbeitskraft. Manchmal wird ihm das Asyl mit Freundlichkeit gewährt, in der Regel aber erweist sich die neue Kultur als abweisend und gleichgültig. In dieser fremden Kultur arbeitet und lebt er - oft unter Umständen, die noch dem geringsten der Angehörigen seiner "Gastgeber" niemals zuzumuten wäre -, trifft auf neue Ausbeutung und Gewalt und kann nur einen Weg suchen zwischen der Bewahrung der eigenen Kultur, der Hoffnung auf Rückkehr und einer Anpassung im Alltag.
Das Leben in zwei Kulturen stellt die eigene Person in Frage. Hauste man zu Beginn in Lager-Situationen von Baracken, Schlafstellen, Männergruppen, so wurde man in der zweiten Phase, als die "Gastgeber"-Staaten den Zuzug der Familien kontrolliert gestatteten, in eine neuerliche Ghetto-Situation gezwungen: arbeitende Armut. Aber auch kleine Aufstiege in bescheidenstem Rahmen, ein wenig Gespartes, das den Traum nährt, in die Heimat zurückzukehren. Gewalt und Unterdrückung scheinen sich in dieser Phase auf so engem Raum abzuspielen, dass kaum etwas nach außen dringt, höchstens die Scham der Kinder, das Bild einer Dritten Welt inmitten der europäischen Industriegesellschaft.
In deren Krise wandelte sich erneut das Bild. An die Stelle einer umfassenden sozialen Gleichgültigkeit trat nun ein doppelter, rechtlich bekräftigter Druck: Rückwanderung oder volle Integration. Die Barackensiedlungen wurden geschliffen (vor allem in Frankreich ein Bild, das zum ersten Mal die Heftigkeit dieses Prozesses in das öffentliche Licht rückte und in einigen Dokumentarfilmen festgehalten wurde, die nach ersten Aufführungen verboten wurden), nicht zuletzt, weil nun die gesellschaftliche Ressource "Bauplatz" wesentlich bedeutender geworden war als die Ressource "Arbeitskraft".
Die Integration geschah nun, scheinbar human, in neuen sozialen Ghettos an den Peripherien, in denen die Grenzen zwischen rassistischer und sozialer Ausgrenzung verwischt wurden. Nicht mehr so sehr "der Araber" oder "der Schwarze" oder "der Türke" waren Objekt sozialer Gewalt und sozialer Abwertung, sondern der Banlieue-Bewohner an sich, der Mensch in einer Hochhaussiedlung am Rand der Stadt mit unterentwickelter Infrastruktur und einem Durcheinander der Kulturen und Lebensentwürfe, in dem auch die gewalttätige Regelung der Konflikte nicht ausbleiben konnte. Nicht, dass sich die Lage für einen schwarzen Banlieue-Bewohner nicht noch verschlechtern konnte; das Leben in der Banlieue heißt nicht, vom Rassismus aus nächster Nähe verschont zu bleiben.
Der scheinbare soziale Gestus, mit dem der zweiten und dritten Generation der Migranten eine "Heimat" geschaffen wurde, die sich zumindest an der Oberfläche mit dem Leben der "Einheimischen" zur Deckung bringen ließ (den Rest nehmen wir als freundlichen Exotismus in Kauf), produzierte so zusagen automatisch den Konflikt nicht nur zwischen weißen und "gemischten" Ghettos, sondern vor allem den zwischen dem weißen Kleinbürgertum (das seine soziale Abwertung wie nichts auf der Welt fürchten musste) und den Ghettos.
In der rassistischen Reaktion, die in den achtziger Jahren in allen europäischen Ländern mehr oder weniger stark erkennbar wurde, ist nicht nur die Ablehnung des "Fremden" mit all den Stereotypen der traditionellen rassistischen Abwehr (sie nehmen die Arbeit weg, sie haben es auf die Frauen abgesehen, sie sind kriminell und unordentlich ...), sondern auch eine soziale Abwehr zu spüren. Die entstehende Kultur der Mischung - die Metissage - hat unklare Grenzen, sie tendiert eher dazu, zu wachsen, als sich aufzulösen.
Für Konflikte in der Kultur der Metissage sorgen nicht nur die Spannungen zwischen Ghetto und Außenwelt und die Spannungen zwischen den Kulturen im Inneren, sondern auch die zwischen den Generationen. Die Angehörigen der dritten und vierten Generation der Migranten, die in der "neuen" Kultur aufgewachsen waren, mussten, schon weil sie die Muttersprache nicht mehr richtig beherrschten, wesentlich mehr Probleme mit dem Traum von der Rückkehr haben als die Älteren. Bei den Älteren ließen ja ihre Erfahrungen mit Ausbeutung und Gewalt in der Regel gar nichts anderes zu als diesen letzten Traum von der Rückkehr in eine Kultur, in der man nicht "der Fremde" war. Die Jüngeren hingegen wussten nur zu genau, dass eben dies eine Illusion bleiben musste, nicht nur, weil die "alte" Kultur weder Freiheit noch ökonomische Entwicklungsmöglichkeiten für die Rückkehrer zu bieten hatte, sondern auch, weil die Fremdheit hier wie dort nicht aufzuheben war.
Der Konflikt verlagerte sich also bis tief in die Familien hinein und musste sich unter den Bedingungen des Neoliberalismus einerseits (Arbeitslosigkeit ist gleichsam zum Normalzustand geworden) und dem gesellschaftlichen Druck andererseits heftig verschärfen, denn alle europäischen Gesellschaften produzierten ihre faschistischen und rassistischen Gewalt-Gruppen, und überall spielte auch die Politik der "Mitte" mit den - höflich gesagt - "Vorbehalten" des Mainstreams gegenüber den Neuankömmlingen). Die ersten Generationen waren eher mit der Erfahrung von Gleichgültigkeit und Ausbeutung - eine dritte Form des Kolonialismus - konfrontiert gewesen und haben sich durch Unsichtbarkeit in der Öffentlichkeit zu retten versucht.
In seinem Film MEMOIRES D'IMMIGRÉS von 1997 schildert Yamina Benguigui die Angst der Väter unter den Migranten aus dem Maghreb vor jedwedem Auffallen, das die Rückweisung bedeuten könnte, die Gefangenschaft der Mütter, die die Kinder behüten und die Familie zusammenhalten wollen, und die Rebellion der Söhne und Töchter gegen diese Form der akzeptierten Unterdrückung. Was hier in den Lebensgeschichten der Migranten deutlich wird, ist letztlich auch der Stoff der meisten fiktionalen Filme: So viele Formen die Unterdrückung hat, so viele Formen hat auch die Rebellion dagegen.
Natürlich brachten die "Gäste" eine Reihe Probleme ihrer eigenen Kulturen mit. Und manche dieser Probleme, zum Beispiel die Struktur der Familie, das Verhältnis der Geschlechter, der moralische Kodex, nicht selten aber auch das Verhältnis zur Politik, zum Recht und zur individuellen Freiheit mussten sich dabei in der Fremde noch verstärken. Neben den Konflikten etwa zwischen den Türken und den Deutschen mussten Konflikte treten wie die zwischen den Jungen und den Alten, den Frauen und den Männern, den Traditionalisten und den Integrationalisten. Die Dynamik dieser Konflikte macht aus, dass diese keine klaren Fronten haben, dass man ein äußeres und ein inneres Leben führt, dass Demütigungen rasch dazu führen, dass sich liberale und fanatische Einstellungen verwischen.
Seit der dritten Generation müssen sich diese in verschiedenen Kulturen zugleich lebenden Menschen fühlen wie in verschiedenen Transformations-und Verpuppungsstadien. Der Weg bleibt in beide Richtungen offen, es ist eine strategische wie ein seelische Gratwanderung, die nicht nur zwischen den Angehörigen einer Familie, sondern auch zwischen den kulturellen Codes vermittelt.
Das Leben in zwei Kulturen zugleich, das für die Angehörigen der dritten Generation der Migranten bestimmend geworden ist, bietet Konflikte, aber auch Vorteile. Der türkischstämmige deutsche Regisseur Fatih Akin erklärt: "Ich sehe es als Vorteil, in zwei Kulturen aufgewachsen zu sein: Das gibt mir Sicherheit. Ich muss weder eine Botschaft der Toleranz rüberbringen, noch eine meiner Kulturen verleugnen. Ich verbinde sie einfach. In meiner Person und in meinen Filmen." Allerdings: So wie diese kulturelle Offenheit für den einen zu einer Chance werden kann, so kann sie für den anderen auch eine Falle werden.
So wie es unter günstigen Bedingungen eine doppelte Akzeptanz der Kulturen gibt, gibt es unter schlechteren eine doppelte Verneinung oder einen doppelten Verlust. Der Weg aus dem Ghetto der Metissage kann "bürgerlich" sein - Aysun Bademsoy schildert dies in ihrem Film DEUTSCHE POLIZISTEN (1999). Allerdings geht auch das "Bürgerlich-Werden" nicht ohne Konflikte ab: Der türkischstämmige Polizist wird unter seinen alten Freunden schon einmal als "Verräter" bezeichnet. Der Weg aus dem Ghetto kann aber auch in die Kriminalität führen, wie es Fatih Akin in seinem erfolgreichen Gangsterfilm KURZ UND SCHMERZLOS (1998) mit vehementer Kino-Magie, Thomas Arslan in DEALER (1999) dagegen mit einer genauen, ruhigen Beobachtung schildert. Und er kann vergeblich bleiben, immer wieder zurückführen, als mache das Ghetto der Metissage die Menschen auch zu Gefangenen allfälliger Verschwörungen, wie Abdelkrim Bahloul in seinem Detektivfilm LA NUIT DU DESTIN (1998) zeigt.
Zur Kultur der Metissage gehören die Mixturen aus Elementen der Ursprungskulturen, solchen der Gast-und internationalen Pop-Kulturen. Daraus entstehen Kunstformen der Metissage-Kulturen: die Moden, die Hip-Hop-Musik und ihre Texte, schließlich sogar eine eigene Sprachform, die die Vertreter dieser Kunstform in Deutschland abwertend-trotzig Kanak Sprak nennen, und die etwa ERKAN UND STEFAN (1999) in ihren Filmen veralbern.
Jedenfalls ist die Kultur der Metissage spätestens in der dritten Generation prinzipiell offen, beispielsweise auch für deutsche Jugendliche im Ghetto, die sich so fremd und ausgegrenzt fühlen wie die Migranten. Auch von dieser Öffnung handelt das Kino der Metissage, und umgekehrt ist der von der dritten Generation als Ausdrucksmittel eroberte Film ein Instrument der Öffnung.
Das Material der Filme scheint also klar: Zum ersten die (leidvolle) Geschichte der Migration; die Schilderung von Verfolgung, Gefängnis, Lager, Flucht und demütigender Behandlung durch Behörden. Für viele Menschen endet die Migration mit dem Tod. Die Filme erinnern an ihr Schicksal jenseits der sensationellen Schlagzeilen für einen Tag. Ein Beispiel für diese Erzählungen ist David Rühms Film DIE FLUCHT (1991). Näher in der Mitte des Kinogeschmacks liegen Filme, die wenigstens eine wundersame Rettung für einzelne erträumen, wie etwa DE POOLSE BRUID (1998) von Karim B. Traidia, in dem eine flüchtende polnische Migrantin von einem holländischen Bauern vor Zuhältergangstern, Fremdenpolizei und Verzweiflung gerettet wird.
Zum zweiten handeln die Filme vom Leben der Migranten der ersten Generation. Für viele Filmemacher und andere Künstler der Metissage beginnt ein Prozess der Rückbesinnung mit der einfachen Frage, wie ihre Eltern gelebt haben, als sie ins fremde Land gekommen sind. Das führt gelegentlich zu einer neuen Form von Respekt zwischen den Generationen, aber oft wird die Grenze des Erträglichen erreicht. In Deutschland sind es vor allem die Filme von Tevshik Basher, die die Ausweglosigkeit insbesondere für Frauen schildern.
Aber es ist nicht nur die Wirklichkeit der Migration und des Lebens in der Kultur der Metissage, es ist auch der Mythos, den die Filme beschreiben müssen. Wie alle Statistiken ungeachtet der Propaganda belegen, gibt es unter den Angehörigen der "neuen" Kulturen im Durchschnitt nicht mehr Kriminalität als in den Gastkulturen (wenngleich der Kriminalisierungsdruck durchaus hoch sein mag): Es ist nicht wahrscheinlicher, dass ein Angehöriger der doppelten Kulturen kriminell wird, wohl aber, dass er Kriminalität erfährt.
In unserer Vorstellung von einer Einwandererfamilie steht daher neben dem traditionalistischen Vater und dem integrationswilligen Kind, auch der Konflikt zwischen dem "kriminellen" und dem "guten" Sohn. Die Rollenverteilung: der traditionalistisch-gewalttätige oder resigniert-kranke Vater, die duldende, um letzten Zusammenhalt ringende oder an Leib und Seele wunde Mutter, der streetwise boy, die Tochter, die um einen Hauch von persönlicher Freiheit, wenigstens für die Option der eigenen Partnerwahl zu kämpfen hat, ist auch unter den Gutmeinenden zu einem nahezu selbstverständlichen Modell geworden.
Diese Erzählung ist nahe an der Wirklichkeit, sie ist aber auch ebenso nahe am Klischee. Dass die Wirklichkeit oft ganz anders aussieht, kann man allenfalls in Dokumentarfilmen wie MÄDCHEN AM BALL (1995) von Aysun Bademsoy sehen. Umgekehrt gibt es Filme, wie etwa MA 6T VA CRACKER von Jean-Francois Richet (1997), die nur allzu gern der Gangster-Mythologie des Metissage-Ghettos verfallen - die im Übrigen von Fatih Akin in GETÜRKT (1996) lustvoll auf die Schippe genommen wird. Und Filme wie LA HAINE (Der Hass, 1995) lassen wenig Hoffnung aufkommen, dass es friedliche Lösungen in einem nicht erklärten Bürgerkrieg um die Brennpunkte der Metissage geben wird.
Umgekehrt gelingt Merzak Allouache in SALUT COUSIN! (1996) ein wundervoller komischer Parforceritt durch Klischees und Stereotypen. Die Odyssee eines Flüchtlings aus Algerien, der seinen etwas windigen Cousin in Paris aufsucht, gibt Gelegenheit genug, die Bilder (und Selbstbilder) zu hinterfragen, die diesen Bürgerkrieg erst in Gang setzen. Allouache sieht das Leben in der Metissage-Kultur der Banlieue gewiss nicht in rosigen Farben, aber er weigert sich schlicht, die Hoffnung aufzugeben. Zwischen diesen beiden Extremen, dem ohnmächtigen Zorn bei der Beobachtung des nicht erklärten Bürgerkrieges, und der Hoffnung auf eine würdige Zukunft, die nirgendwo anders als in den einzelnen Menschen und ihren Entscheidungen begründet sein kann, entwickelt sich das Kino der Metissage.
Der Mainstream macht es sich mit den Metissage-Bilder wesentlich leichter: In deutschen Fernsehserien und Modefilmen wie MANTA MANTA (1991) sind türkische Männer über vierzig immer Gemüsehändler, türkische Mädchen sind stets selbstbewusste, ruhige Einser-Schülerinnen, türkische Frauen sieht man selten irgendwo anders als in der Küche, und türkische Jungs sind immer in Gefahr, kriminell zu werden. Ganz ähnliche Modelle haben sich auch im französischen oder im britischen Metissage-Film gebildet, in denen die Familie weniger als Unterdrückungsinstanz erscheint, als vielmehr in einem Zustand der Auflösung.
Das Kino der Metissage hat also immer neben der Aufgabe, die eigene Lebenswirklichkeit widerzuspiegeln, auch die, sich mit der eigenen Mythologie und mit den Klischees der Mainstream-Medien auseinandersetzen. Dabei entsteht ein Kino, das zugleich sehr direkt und sehr reflektiert ist. Ein Kino, das aus der Mischung von Fremdheit und Vertrautheit das genaueste Bild einer Gesellschaft entwirft, die sich gerne mit bequemeren Bildern einrichtet, mit jammernden Kopftuchtürkinnen zum Beispiel, wie es die Protagonisten von LOLA UND BILIDIKID (1999) parodieren.
Wir erinnern uns an Bilder der Ankunft, an den 100.000 Gastarbeiter, Amando Sa Rodriguez, der mit einem Moped belohnt wird, und wenn wir uns genauer erinnern an Bilder von notdürftig mit Kordeln zusammengehaltenen Koffern, an hoffnungsfroh-verzweifelte Gesichter, an Gruppen von Menschen, die in den Bahnhöfen herumstehen, als könnte der nächste Zug derjenige sein, der sie aus dieser kalten Gesellschaft zurück in die eigene Kultur befördert. Nach einer langen Phase der Gleichgültigkeit "kümmerte" sich schließlich gerade einmal jener linksliberale Zweig der europäischen Medien um das Thema, der freilich eher das "Symptom" sah und in den Angehörigen der zweiten Generation eine Art des Opfers zelebrierte, das oft genug erkennen ließ, wie sehr es Projektion und nicht Erfahrung war.
In den siebziger Jahre erfolgte die erste Beschäftigung des deutschen Films mit der neuen Minderheit im Land. Das geschah aus einem humanistisch-pädagogischen Impuls heraus im post-politischen Kino. Noch gab es keine Filmemacher, die selbst aus den Familien von Gastarbeitern kamen und einen Ton des Authentischen ins Genre hätten bringen können. Zum einen waren die Personen daher nach dem Strickmuster des traditionellen Außenseiters konstruiert. Im neuen deutschen Film kümmerte man sich einerseits um den schönen Verlierer in einer gewissen sozialarbeiterischen Geste. Zum anderen diente er als Unterdrückungs-Metapher.
Helma Sanders erzählt in SHIRINS HOCHZEIT (1975) von einem Dorf in Anatolien, wo die junge Shirin (Ayten Erten) mit dem Gutsbesitzer verheiratet werden soll, weil dies die einzige Möglichkeit ist, ihr und ihrer Familie den Lebensunterhalt zu sichern. Doch Shirin flieht nach Deutschland zu Mahmud (Aras Ören), dem sie als Kind versprochen war und der hier als Gastarbeiter lebt. Shirin erfährt die klassische Falle: Sie bekommt ohne Arbeit keine Aufenthaltserlaubnis und umgekehrt ohne Aufenthaltserlaubnis keine legale Arbeit. Zurück in die Türkei aber kann sie auch nicht mehr, schon deswegen nicht, weil mittlerweile ihre Familie nur noch dank ihres Geldes überleben kann. Schließlich trifft sie in Köln auf den Zuhälter Aida (Jürgen Prochnow) und willigt ein, für ihn zu arbeiten. Der Film ist nicht vollständig frei von den Kopftuch-und Gangster-Klischees, und am Ende ist er vor allem eine Geste gegen männliche Gewalt, eine Passionsgeschichte der dritten Unterdrückung. Er ist weniger eine Annäherung an die zweite Kultur als vielmehr eine Anklage gegen beide.
Und dies war die Geste einer Reihe von deutschen Filmen zu dieser Zeit, bis hin zur Romeo-und-Julia-Paraphrase etwa in Hark Bohms YASEMIN (1988). Dabei mussten freilich beide Kulturen mehr oder weniger unsichtbar bleiben, waren nur als Maschinen verschiedener Arten von Gewalt zu erfahren und konstruierten erneut den Blick eines sensiblen Kleinbürgers, der sich selbst in seiner Parteinahme die Larmoyanz nicht nehmen ließ. Während es in Frankreich bereits ein cinéma beure - ein Kino zwischen den Kulturen gab - und Regisseure wie Rachid Bouchareb und einige Jahre später Mehdi Charef ihre Filme erfolgreich auf Festivals präsentieren konnten, dauerte es in Deutschland noch einige Zeit, bis die dritte Generation der "Gastarbeiterfamilien" ihre eigenen Filme drehen konnte.
Davor gibt es das Kino der Fremdheit, den Gastarbeiter als existenziellen Helden wie in Rainer Werner Fassbinders KATZELMACHER (1969) oder in Sohrab Shahid Saless' IN DER FREMDE (1974). Saless erzählt die Geschichte des türkischen Gastarbeiters Husseyin, der wie viele andere in einer heruntergekommenen Gemeinschaftswohnung in Kreuzberg lebt und mit der deutschen Kultur zwar in Kontakt aber zu keiner Verständigung kommt. Es ist das Bild einer radikalen Entfremdung, die eigentlich nur das Verlöschen übrig lässt, das Verschwinden des Traums von der Rückkehr. Und es ist, wie der Regisseur sagt, ein Film "über das Wort Elend, das ursprünglich einfach bedeutete, im anderen Land zu leben, dann 'in der Fremde' hieß, und einen immer schlechteren Klang bekam". Beide Filme sehen in dem elenden Leben in der Fremde keine Hoffnung, so wenig wie Fassbinder in ANGST ESSEN SEELE AUF (1973).
Fremdheit bleibt das Thema der Filme, die eben deswegen das Gegenteil von Metissage-Filmen sind; jede Vermischung, so scheint es, kann nur Missverständnis sein. Bei Saless dehnt sich die Zeit unendlich. Es sind Filme eines Menschen, der selbst die Erfahrung hat, von Abschiebung bedroht zu sein, und der seinerseits von der Kultur seines Gastlandes nur das Fremde in sich selber sieht, dieses aber umso genauer.
Bevor es ein Kino der Metissage gibt, gibt es ein Kino der Fremdheit und der Emigration, ein Kino der Geschichte von radikaler Einsamkeit und von radikaler Verzweiflung. Das Kino der Metissage dagegen, das Kino der dritten Generation, ist selbst noch dort, wo es nur Drama, Verrat und Tod beschreibt, ein menschlicheres Kino, weil darin vor allem die Motive Freundschaft und Liebe verhandelt werden - als vielleicht scheiternde, aber nicht mehr als unmögliche. Und das Kino der Metissage, so seltsam das bei den manchmal gewalttätigen, manchmal trostlosen und manchmal absurden Sujets auch ist, ist eine neue Form des Heimatfilms.
Das Problem der nächsten Generation wird etwas ganz anderes sein: Man versteht einander nur zu gut. Längst sind die Bilder konvertibel. In der dritten Generation weiß der Einwanderer sogar, was in den Köpfen jener vorgeht, die ihn hassen - und in der letzten, schrecklichen Umkehrung, kann er das sogar übernehmen, indem er sich nur noch eine nächste Gruppe der Hass-Objekte, seine eigene Anti-Kultur erschafft.
In den achtziger Jahren muss sich das Kino der Emigration, das Kino der Fremdheit, vom Kino der Metissage lösen: Es muss von der Unumkehrbarkeit der kulturellen Verschmelzung, vom Leben in mindestens zwei Kulturen erzählen. Und nicht wie etwa der schweizerische Film DAS KALTE PARADIES (1986) von Bernard Safarik, von der Aufnahme und (vor allem) der Zurückweisung der geflohenen Menschen. Das Kino der Metissage kann, ohne sich zu verraten, aus der Fremdheit selbst keine große Sache mehr machen; sein Thema ist gerade das Alltägliche im Leben in zwei Kulturen - was nicht heißen soll, dass nicht gerade diese Art des Alltäglichen zur Katastrophe führen kann.
Aber erst wenn der Migrant zum Archetyp einer neuen Subkultur geworden ist, wird aus dem Kino von Fremdheit und Elend das Kino der Metissage, das sich in ganz enger Verbindung mit einem Kino des Ghettos entwickelt, wie wir es aus den USA kennen. So liegt es auf das Hand, dass sich eine Anzahl von Metissage-Filmen auf Martin Scorsese, vor allem auf MEAN STREETS (1973) beziehen - manchmal direkter als es ihnen gut tut. Auch Scorsese erzählt vom Leben in zwei Kulturen, von der magischen Schizophrenie der Italo-Amerikaner. Nur reichen hier die Wurzeln der Metissage drei, vier Generationen tiefer.
Vielleicht ist aus diesem Grund auch verständlich, warum sich das Kino der Metissage ungleich problemloser an amerikanischen Vorbildern orientieren kann als etwa das Kino der Fremdheit. Wie der "Schmelztiegel" Amerika so sind auch die postindustriellen europäischen Gesellschaften darauf angewiesen, diese ethnisch-sozialen Konflikte in der Produktion von Mythen einerseits, der Produktion des "neuen Menschen" andererseits (und nicht zuletzt der neuen Sprache) zu beantworten. Das unlösbare Problem, dass die ngste des weißen Mittelstandes zugleich die einzige Hoffnung auf das Überleben seiner Gesellschaft sind (dass, um es genauer zu sagen, der weiße Mittelstand erst recht verloren wäre, wenn es keine Einwanderer gäbe), reflektiert sich in der Produktion eines neuen Straßenmenschen im Ghetto, der hier eine neue bewohnbare Welt erschafft, die es in seiner wie in der anderen Familie nicht mehr gibt.
Hier ist die Rasse nur noch dritter oder vierter Diskurs, genauer gesagt, es beginnt eine völlig neue Form jenes Diskurses von Haut und Maske, von dem Frantz Fanon sprach, der nun vielleicht neu und als Theoretiker der Metissage wieder entdeckt wird.
In diesem Jahrzehnt entwickelte sich auch in Deutschland ein Kino der Metissage, das mit einigen besonderen Problemen zu kämpfen hat. Anders als in den Metissage-Filmen aus Frankreich oder Großbritannien trifft in Deutschland das Motiv zusätzlich auf ein schwieriges Filmelement: die Sprache. Wann wird nur die Originalsprache verwendet (in den französischen und britischen Beispielen dient die Originalsprache als Barriere) und wann mit Untertiteln übersetzt? Was ist mit jener heiklen Verwendung eines gebrochenen Deutsch, das zwischen archaischer Konsequenz und Denunziation changiert. Wenn es in SHIRINS HOCHZEIT heißt, Deutschland sei "viel schlimmes Land", ist die Grenze zwischen emotionaler Berührung und Klischee nur vom Zuschauer selbst zu ziehen.
Das moralische und ideologische Problem der Repräsentierung entwickelt sich aus der klassischen filmischen Grammatik: Letztendlich erzählt da immer noch ein Ich über ein anderes, einen imaginären Dritten, und die Rollen verteilen sich melodramatisch im Blick der Kamera. Metissage als Vielstimmigkeit zu zeigen - wie es sich im Vorbild Scorsese abzeichnet - gelingt wohl am ehesten Fatih Akin, während Thomas Arslans Filme die genauesten sozialen Ortsbestimmungen abgeben.
Wohin kann der Mensch aus der Kultur der Metissage gehen? Das ist die Frage, die sich nun in den neunziger Jahren stellt. Beinahe überall hin, sagen die Filme von Fatih Akin. Beinahe nirgendwo hin, sagen die Filme von Thomas Arslan.
Außerdem entwickelt der Film selbst, auch wenn er es geradezu panisch vermeiden will, seine Bilder gerade aus dieser Grammatik heraus zum Klischee. In den Metissage-Filmen stehen keineswegs nur die Einwanderer der verschiedenen Generationen in der Gefahr, zum Klischee zu erstarren (oder freundlicher gesagt: zum Rollen-Modell), sondern umgekehrt auch die "Ureinwohner": der "hässliche Deutsche", der "gute Deutsche" oder der "komische Deutsche".
Aus dieser doppelten Falle der filmischen Repräsentierung versuchen sich Filmemacher wie Med Hondo zu befreien, indem sie Verfremdungen und Satire verwenden, die eine Repräsentierung selbst in Frage stellen. Wenn das Kino der Metissage in verschiedenen Teilen Elemente der beiden Kulturen und Elemente der amerikanischen Pop-Mythologie (vom Gangsta-Rap zum Road Movie) enthält, dann entdeckt es doch auch immer wieder Elemente des rebellischen und politischen Kinos und des postkolonialen Kinos der Dritten Welt. Denn einerseits ist die Metissage ein so verflucht konkreter Ort, dass er zum Gefängnis werden kann, andererseits aber beherbergt sie als Utopie eine Antwort auf die ökonomische Globalisierung.
Ansonsten muss auch der Blickwechsel als Antrieb dienen; immer wieder entstehen neue Zusammenhänge von Unterdrückung und Befreiung. In Filmen wie LOLA UND BILIDIKID von Kutlug Ataman rückt sogar eine Subkultur der Subkultur ins Bild, für die türkischdeutschen Transvestiten in diesem Film gilt, dass sie nicht in zwei Kulturen leben, sondern von zwei Kulturen ausgestoßen sind. Für sie kann nur die Errichtung einer eigenen, dritten Kultur (vorübergehend) ein "Zuhause" sein. Hier löst sich freilich das Kino der Metissage auch wieder auf; das Elend, die Fremdheit ist ein Zustand, dem kein Mensch mehr entgehen kann.
Die Frau ist die doppelt Fremde in der Kultur der Metissage. Und sie hat den längsten Weg zur Selbstbestimmung zurückzulegen. "Frau immer Angst" sagt die Heldin von SHIRINS HOCHZEIT, die von den Männern der eigenen Kultur ebenso wie von denen der neuen bedroht ist. In Bashers 40 m2 DEUTSCHLAND (1985) wird sie buchstäblich eingesperrt von ihrem Mann, der weniger ein Bösewicht ist als selbst besinnungslos ängstlich.
Filme wie YASEMIN (1988) oder DIE KÜMMELTÜRKIN GEHT (1985) handeln von der unfreiwilligen Rückkehr türkischer Frauen in die Heimat, die keine mehr ist (oder handeln wenigstens davon, dass sie als Drohung über dem Leben der Migranten-Frauen liegt). In den Filmen von Fatih Akin und Thomas Arslan gibt es jedoch Frauen, die den Kampf um ihre Eigenständigkeit gewonnen haben.
Aber wehe, wenn sich die unterdrückenden Kräfte beider Kulturen insgeheim verbrüdern: YARA (1998) von Yilmaz Arslan erzählt die Geschichte einer Flucht zurück. Seine Heldin will zurück nach Deutschland, wo sie aufgewachsen ist, fort von dem kleinen türkischen Dorf, mit dessen Leben sie sich nicht mehr identifizieren kann. Am Ende aber ist Hülya wieder eingesperrt, in der Psychiatrie.
So wie das cinema beure in Frankreich, und die Filme von Hanif Kureishi in England, erlebte das Kino der dritten Generation mit einer Verzögerung von einem Jahrzehnt in den neunziger Jahren auch in Deutschland eine Blüte. Dabei vernetzten sich die Filmemacher und Filmemacherinnen miteinander. So gelang es einer Reihe von Filmen, auch in der Mainstream-Kinokultur Aufmerksamkeit zu erringen.
Aber der Mainstream schlug zurück, vor allem mit den Mitteln der Fernsehserie und der Comedy Show, in denen Repräsentanten der dritten Generation ihre Klischeebildung erfuhren. Die Söhne der Gemüsehändler waren Gangsta Rapper, Dealer oder, schlimmer noch, mitteilsame WG-Bewohner.
Würde man die Gesamtproduktion der Medien als Maßstab verwenden, so wäre wohl Metissage gar kein wirkliches Problem mehr. Talkshows und Unterhaltung indes repräsentieren vor allem Menschen, die zum einen den Vorgaben des Mainstreams nur zu sehr entsprechen und zum anderen den Transformationsvorgang vollständig hinter sich gebracht, sich vollständig verpuppt haben und in ihrer neuen Kultur wiedergeboren worden sind. Der Rest muss sich eine sozialdemokratische Problematisierung gefallen lassen wie in der LINDENSTRASSE.
Sogar aus dem Kino der Fremdheit ist in den neunziger Jahren eine Art Mainstream-Variante entwickelt worden, die wie in EINE UNMÖGLICHE HOCHZEIT (1996) von Horst Johann Sczerba Elemente der Beziehungskomödie mit solchen der Asylgewährung verbindet oder in amüsanten Komödien wie LUPO UND DER MUEZZIN (1998) kleine Kultur-Zusammenstöße in der deutschen Provinz beschreiben.
Diese Mainstream-Metissage freilich verweigert sich vollständig dem Blick in die neuen Ghettos, verweigert sich auch der Mehrschichtigkeit der kulturellen Transformation, die nur aus vorläufigen und fragmentarischen Akten bestehen kann, solange kein Projekt für eine in der Tat offene Gesellschaft existiert. Sie favorisiert (wie übrigens auch der amerikanische Konsens) die doppelte Transformation der Verwandlung vom Fremden in das Eingemeindete, und vom Ghetto-Bewohner in den Kleinbürger.
Selbst die durchaus nicht luxuriöse LINDENSTRASSE kann nur eine Minderheit und nicht eine Mehrheit von Menschen zeigen, die in zwei Kulturen der Armut leben. So etwas ist offenbar weiterhin ein Tabu. So wird das Ghetto nach wie vor als jener exotisch-dramatische Ort beschrieben, den der "glückliche" unter den Metissage-Menschen verlässt. Freilich ist die Aufnahme in das neue Bürgertum so begrenzt und der Hass des alten Bürgertums so einflussreich, dass das Ghetto der Metissage auch in der Zukunft wachsen wird.
So müssen sich Filme, die wie Christian Wagners GHETTOKIDS (2002) in den ersten Jahren des neuen Jahrtausends entstehen, erneut in diese terra incognita, in dieses unbekannte Land begeben, um vielleicht einzelne zu retten, wohl wissend, dass die Mehrzahl der Kinder in der Kultur der Metissage am Rande der Stadt keine der wenigen Chancen nutzen kann, die sich ihnen bieten, wie es ein Sozialarbeiter in diesem Film ausdrückt.
Für die Filmemacher der dritten und vierten Generation ist die Gefahr groß, sich strukturell zur Reaktion (oder zur Nostalgie) zu wenden. Metissage - um nicht das dumme deutsche Wort Multikultur zu verwenden - ist letzten Endes ein Projekt zur Re-Urbanisierung der Welt. Die Stadt, das hat schon Aristoteles gewusst, lebt, weil sie aus verschiedenen Menschen besteht, und sie ist umso größer und bedeutender, je verschiedener die Menschen in ihr sind.
Die spätindustrielle, post-kolonialistische Gesellschaft indes hat energisch ihre eigene Provinzialisierung betrieben. Ihre neuen Kommunikationsmittel machen - da ist man sehr ehrlich - die Welt eben nicht zur großen Stadt, sondern zum global village. In der Metissage darf sich der virtuelle Mainstream der traditionellen Gesellschaft vor allem in der eigenen Provinzialität bedroht sehen. Aber auch in der Metissage-Kultur selbst bestehen ja solche Bilder der trauten Provinz, entwickelt sich der Konflikt zwischen der Rekonstruktion des alten Dorfes und den neuen öffentlichen Räumen.
Das Kino der Metissage fragt nach der Geschichte der Migration, fragt dann nach den einzelnen Geschichten, nach den Biografien, die nicht mehr als Gleichnisse und nicht mehr als moralische Parabeln herhalten müssen, wie in den gut gemeinten Filmen, sondern ihr Recht als unvergleichliche Lebenswege beanspruchen. Das Kino der Metissage fragt nach den Bedingungen des Lebens in zwei Kulturen im Ghetto der Metissage (oder, so einzelne Filme, in der Boheme - und warum nicht?). Aber ganz nebenbei fragt es auch nach der Zukunft des Zusammenlebens. Nach den Bedingungen von Freiheit. Und es fragt nach einer neuen Bestimmung dessen, worauf jeder Mensch überall ein Recht hat, und was so schwer zu finden ist: Heimat.
aus: der überblick 03/2002, Seite 73
AUTOR(EN):
Georg Seeßlen:
Georg Seeßlen ist Filmkritiker. Er hat in München Malerei, Kunstgeschichte und Semiologie studiert und schreibt für eine Reihe von Zeitungen Kritiken, Aufsätze und Bücher, und dreht Dokumentarfilme fürs Fernsehen.