Tschetschenien heute
Es hatte ein Tag werden sollen, über den die Republik noch lange sprechen würde, und so wie es aussieht, wurde er es. Monate hatten die Vorbereitungen für den 55. Geburtstag Achmad Kadyrows gedauert, hatte man Trümmer geräumt, renoviert und gestrichen.
von Sonja Zekri
Schafe wurden geopfert, der Journalistenwettbewerb "Goldene Feder" (erster Preis: ein Auto) bat um Einsendungen von Beiträgen aus Presse, Funk oder Fernsehen, die das Leben des "herausragenden Sohnes des tschetschenischen Volkes", Achmad-Hadschi Kadyrow würdigten, Lyrik-Wettbewerbe hatten das heldenhafte Leben des einstigen Präsidenten gepriesen. Der war vor zwei Jahren von Rebellen mit einer Bombe ermordet worden, als er im Fußballstadion von Grosny die Feierlichkeiten zum Siegestag am 9. Mai besuchte. In der Tribüne klafft bis heute ein Loch, aber davor kicken schon wieder Jugendliche. Am Jubeltag selbst beteten Verwandte und Regierungsmitglieder in seiner Heimatstadt Tsentero. In Gudermes stieg eine eindrucksvolle Show mit Prominenten aus der ganzen Republik. Babys, die an diesem Tag geboren wurden, erhielten Geschenke. Den Höhepunkt bildete aber wohl die Aufführung im Nuradilow-Theater in Grosny: Ein eigens für diesen Tag verfasstes Stück mit dem Titel "Der Eid" ließ die historischen Verdienste des "herausragenden Sohnes des tschetschenischen Volkes" noch einmal Revue passieren. Ramsan Kadyrow, Sohn Achmad-Hadschi Kadyrows und allmächtiger Ministerpräsident der Republik, hatte die Inszenierung durch die Kadyrow-Stiftung mit einer halben Million Rubel (14.500 Euro) finanziert. Natürlich wurde dafür das Theater, vor zwei Jahren noch ein Trümmerhaufen, wieder aufgebaut und strahlt nun wie eine andalusische Villa.
Dabei war es ein durchaus beabsichtigter Nebeneffekt, dass ein wenig von dem Glanz dieses fantasievollen Personenkultes auf dessen Sohn fiel, Ramsan Kadyrow, den nur noch wenige Monate von seinem 30. Geburtstag trennen und damit von der Möglichkeit, selbst der nächste Präsident Tschetscheniens zu werden. Schon heute säumen eindrucksvolle Porträts die Kreuzungen der Republik, auf denen Kadyrow senior, Kadyrow junior, und oft auch der russische Präsident Wladimir Putin als meterhohes Triptychon über die Geschicke Tschetscheniens wachen.
Suleichan Bagalowa ist eine der wenigen, die sich auch nur andeutungsweise kritisch über die großartigen Fortschritte Äußern. Vor dem Krieg war sie eine gefeierte Diva am tschetschenischen Theater, und noch heute ahnt man, wie atemberaubend schön sie gewesen sein muss. Als Tschetschenien aber seine Unabhängigkeit erklärte, nach dem Zerfall der Sowjetunion, machte sie kein Geheimnis aus ihrer Missbilligung und wurde hinausgeworfen. Heute gibt sie die Kulturzeitschrift Lam heraus und sagt: "Ja, Kadyrow tut etwas für die Leute. Es wäre undankbar, das nicht zuzugeben. Aber muss er dafür die Menschen zu Sklaven machen, die vor ihm im Staub kriechen?"
Dass Ramsan Kadyrow zum Wiegenfest seines Vaters noch ein wenig mehr getan hat als sonst, Ändert nichts daran, dass der Wiederaufbau der zerstörten Republik seit eineinhalb Jahren im Akkord-Tempo läuft. Fanden sich in Grosny vor zwei Jahren nur winzige intakte Inseln in einem Ozean von Trümmern, so leuchten heute ganze Alleen und Boulevards wieder so schön wie vor dem Krieg, mit Pizzerien, teuren Boutiquen und Werbebannern für "Die Welt der Klimatisierung". Einen großen Teil dieser Anstrengungen finanziert wie das Jubelstück im Nuradilow-Theater die Achmad-Kadyrow-Stiftung, deren Budget der allmächtige Ramsan Kadyrow nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen offenbar einfach aus der Staatskasse abzweigt.
Gewiss, der allergrößte Teil Grosnys ist nach wie vor eine Leiche von einer Stadt, kein Haus, das keine Einschusslöcher trägt, Kilometer um Kilometer ziehen sich die Ruinen hin. Andere Bauten wie der Präsidentenpalast sind ganz abgetragen. Wo sie standen, wächst Gras, und für Momente bricht da eine trügerisch idyllische Vormoderne in eine Stadt ein, die einst vom Öl lebte und zu den fortschrittlichsten der Region zählte.
Und doch, es wird gebaut, Wasser- und Stromleitungen werden gelegt selbst in einsamen Bergdörfern, Straßen gepflastert und gefegt, in Grosny, der geschundenen Hauptstadt, entstehen Schulen und Krankenhäuser, Kirchen und Moscheen, deren größte konsequenterweise den Namen Achmad-Hadscha Kadyrows trägt: ein gigantischer Bau mit einem 54 hohen Minarett und Platz für 10.000 Gläubige. Die Moschee wird 20 Millionen Dollar kosten. überhaupt ist das Verhältnis Ramsan Kadyrows zum Islam ein wenig erratisch. Zwar umwirbt er mit dem religiösen Prunkbau ebenso wie mit gelegentlichen Forderungen nach einer "föderalen Scharia" die religiös gesinnten Kräfte und demonstriert zugleich, dass sich Loyalität zu Russland und Islam nicht ausschließen. Andererseits kennt er wenig Schwellenängste gegenüber allerlei weltlichen Vergnügungen, solange sie nur das fantastische Aufblühen Tschetscheniens beglaubigen, Rockkonzerte zum Beispiel oder ein Schönheitswettbewerb.
Es sind solche Umarmungsversuche, die mit dazu beitragen, dass selbst Gegner Ramsan Kadyrows ein instinktives Geschick im Umgang mit seinen Feinden attestieren, die im Augenblick gerade auch die Feinde Russlands sind. Seit Monaten erleben die Rebellen die Dezimierung ihrer Kader und die Eliminierung ihrer Anführer, wobei ihr größter Verlust zugleich einer der größten Triumphe Russlands war: Der Tod des Terroristen Schamil Bassajew, Russlands Staatsfeind Nummer eins. Bassajew war verantwortlich für die Geiselnahmen im Moskauer Musical-Theater Nord-Ost und in der Schule Nr. 1 in Beslan, vor allem für jüngere Tschetschenen aber verkörperte er den ungebrochenen Widerstand gegen Russland. Nach über einem Jahrzehnt des Krieges und wenigen Jahren eines unruhigen Friedens sind die Rebellen orientierungslos, zermürbt. Manche laufen freiwillig über und finden Aufnahme in den Reihen der Kadyrowschen Bataillone. Andere werden zur Kapitulation gezwungen, weil ihre Familienangehörigen entführt werden.
Menschenrechtler wie Alexander Tscherkassow von der Organisation Memorial verzeichnen Geiselnahmen inzwischen als die häufigste Menschenrechtsverletzung. Dagegen sinkt die Zahl derjenigen, die vor allem von russischen Truppen willkürlich verschleppt werden und nie wieder auftauchen. Prozentual zur Bevölkerung, so hatte Tscherkassow vor wenigen Jahren erklärt, verschwinden in Tschetschenien so viele Menschen wie in der Sowjetunion zur Zeit des Großen Terrors Anfang der dreißiger Jahre. "Wenn Sie so wollen, befinden wir uns in Tschetschenien inzwischen im Jahr 1939." Verantwortlich für die meisten Menschenrechtsverletzungen sind die Kadyrowtzy, die Leibbataillone Kadyrows, des Wohltäters.
Je zurückhaltender aber die Russen auftreten, je mehr Truppen sie abziehen, je glaubwürdiger sie den Kampf gegen die Rebellen in die Hände der tschetschenischen Regierung und das heißt vor allem: in die Hände Kadyrows legen, desto zersetzender ist die Wirkung auf die Tschetschenen. Selbst Freunde reden nicht mehr offen miteinander. Denunziation und Misstrauen zerfressen eine Gesellschaft, die der Hass auf den russischen Unterdrücker geeint hatte. In Tschetschenien herrscht das Gesetz der Blutrache, die Zeit der Abrechnung hat gerade erst begonnen.
Dass Tschetschenien drauf und dran ist, eine normale Kaukasusrepublik zu werden, hat allerdings auch mit der wachsenden Spannung in den Nachbarrepubliken zu tun. Wie in Grosny herrschen auch in Dagestan, Kabardino-Balkarien oder Inguschetien Statthalter des Kreml. Wie hier gibt es inzwischen fast täglich Zwischenfälle zwischen Staatsmacht und Rebellen oder entlang alter Fronten, die nie befriedet wurden.
In der inguschetischen Stadt Nasran, keine zwei Stunden Autofahrt von Grosny entfernt, versammeln sich die Männer in einem Haus am Rande der Stadt zum Zikr, zum rituellen Tanz. Ein Milizionär ist erschossen worden. Er stand an der Grenze zwischen Inguschetien und dem christlichen Ossetien. Ein Krieg in den Neunzigern, ein ungelöstes Flüchtlingsproblem und die Geiselnahme im ossetischen Beslan, für welche die Osseten auch Inguschen verantwortlich machen obwohl auch inguschetische Kinder in der Schule starben haben einen historischen Konflikt bis heute schwelen lassen. Vielleicht haben Osseten den Milizionär erschossen, vielleicht Rebellen, wer weiß? Die Zikr-Tänzer stampfen im Kreis, dass der Boden vibriert, sie raunen mit tiefer Stimme. Es ist ein uralter Rhythmus, tschetschenische Kämpfer tanzten den Zikr vor der Schlacht, Inguschen nur zum Begräbnis. Und so stampfen und raunen Männer, stampfen und raunen sich in Trance, ein archaisch vibrierender Zirkel, der den Magnetismus wie eine Spirale entwickelt, Greise sind darunter und Kinder. Und sie stampfen und raunen, dass man den Zikr bis in die Stadt hinein hört, bis tief in die Nacht, ein leises, unaufhörliches Beben.
aus: der überblick 03/2006, Seite 89
AUTOR(EN):
Sonja Zekri
Sonja Zekri ist Feuilletonredakteurin der Süddeutschen Zeitung.