Ohne Geld und Medikamente beschreiten afrikanische Kulturen neue Wege, die Katastrophe zu bewältigen.
Distrikt Insiza, Simbabwe. Bei Wilson fiel es ihr am schwersten. Er war ein so charmanter Mann gewesen, ein richtiger Schwarm. Aber dann nahm Aids ihm jede Ausstrahlung und machte ihn bettlägerig. Von da an kam Sibongile Ndlovu jeden Tag zum Krankenbesuch.
von Mark Schoofs
Sie brachte ihm Essen und behandelte die wund gelegenen Partien seines Körpers, die sich so ausdehnten, dass selbst der liebe Gott das Leiden kaum hätte ertragen können. "Auf einer Seite löste sich die ganze Haut", erzählt sie, und die ganze Hütte war von Fäulnisgeruch erfüllt. Ndlovu überzeugte die Klinik, ihr Arznei zu geben, und rieb seine offenen Wunden während der zwei Monate, die es dauerte, bis er starb, jeden Tag mit Salbe ein.
Vier Jahre sind seitdem vergangen. Aber trotz der leidvollen Zeit mit Wilson kümmert sich Ndlovu weiterhin um Patienten. Wie vielen hat sie Beistand geleistet? "Zweiundvierzig", sagt sie, während sie ein abgegriffenes Notizbuch mit sorgfältigen, handgeschriebenen Eintragungen durchgeht. Wie viele sind davon gestorben? "Sechzehn."
Ndlovu ist keine Krankenschwester oder jemand, der aus der Gesundheitspflege kommt. Sie ist Bäuerin, die als Freiwillige für den Insiza Godlwayo AIDS Council (IGAC) arbeitet, einer Art örtlicher Aids-Hilfe. Das monatliche Einkommen von Ndlovus Familie beträgt ungefähr 300 Simbabwe-Dollar, umgerechnet nicht einmal 20 Mark. An drei Tagen in der Woche – und wenn einer ihrer Patienten besonders krank ist, auch öfter – sucht sie die Kranken zu Hause auf, wäscht die Bettwäsche, holt Wasser, beackert das kleine Stück Land, von dessen Erträgen alle hier leben, und gibt sogar einen Teil ihres eigenen spärlichen Einkommens für Dinge aus, welche ihre Patienten dringend benötigen. Wilson hatte einen Heißhunger auf Orangen, die in dieser Gegend purer Luxus sind. Aber Ndlovu kaufte trotzdem welche.
Die Reaktion Afrikas auf die Aids-Krise wird oft als genauso katastrophal beschrieben wie die wirtschaftlichen Verhältnisse des Kontinents. Das ist insofern ein weiteres Beispiel für das, was einige Gesundheitsarbeiter und AIDS-Aktivisten "Afro-Pessimismus" nennen – das Phänomen, dass über Afrika nur Schlechtes berichtet wird. In der Tat hat nur eine kleine Anzahl afrikanischer Regierungen Maßnahmen eingeleitet, die wenigstens annähernd dem Ausmaß einer Epidemie angemessen sind, durch die jetzt schon in einigen Ländern die Lebenserwartung um bis zu 20 Jahre gesunken ist. Zudem hat das Stigma dieser Krankheit einen großen Teil der Bevölkerung davor zurückschrecken lassen, sich mit den Folgen der Epidemie auseinanderzusetzen. "Ich bin nirgendwo soviel schädlicher Verleugnung und Apathie begegnet wie in Afrika", sagt Elhadj Sy, der die UNAIDS-Abteilung für das südliche und östliche Afrika leitet. "Aber andererseits haben sich hier auch die unglaublichsten Strategien entwickelt, dem HIV-Problem entgegenzutreten. Wir leben mitten in diesem Widerspruch der Extreme."
Nirgendwo sind die Extreme deutlicher sichtbar als in Simbabwe, dem früheren Rhodesien, das bis 1980 von Weißen regiert wurde. Als es schließlich die Unabhängigkeit erlangte, war Simbabwe eine Art Südafrika – relativ wohlhabend, ohne Auslandsschulden und mit einer Währung, die den US-Dollar an Stärke übertraf. Heute befindet sich die Wirtschaft im freien Fall, und ein Viertel der Erwachsenen im besten Alter zwischen 15 und 49 Jahren ist HIV-infiziert. Mehr als 65.000 Menschen sterben jährlich an dem Virus.
Trotzdem, so sagt der Direktor von Simbabwes Nationalem Aids-Koordinationsprogramm, Everisto Marowa, hat die Regierung die Ausgaben für Aids-Prävention inflationsbereinigt in den letzten fünf Jahren "mit Sicherheit nicht erhöht, wahrscheinlich sogar gesenkt". Im Oktober 1999 kündigte die Regierung eine spezielle Aids-Steuer an, aber selbst Aids-Aktivisten kritisierten diese Maßnahme, weil die Regierung keinerlei Pläne vorlegte, wie das Geld ausgegeben werden soll. Korruption und Missmanagement sind in Simbabwe weit verbreitet, und es wäre nicht das erste Mal, dass eine Sonderabgabe spurlos verschwände.
Unterdessen hat die Regierung zugegeben, dass sie mehr als den siebzigfachen Betrag ihres Aids-Präventionsprogramms für die unpopuläre Intervention in der Demokratischen Republik Kongo ausgibt. Unabhängige Beobachter gehen jedoch davon aus, dass dieser Krieg um ein Vielfaches teurer ist. Nur wenige Bürger des Landes verstehen, warum ein Drittel der Armee in dem Bürgerkrieg eines Staates eingesetzt wird, der mit ihrem eigenen Land nicht einmal eine gemeinsame Grenze hat, und das, obwohl die Raten der Inflation wie der Arbeitslosigkeit in Simbabwe mehr als 50 Prozent betragen. Viele vermuten allerdings, dass bestimmte Leute von der Intervention im Kongo profitieren: Der Armeechef von Simbabwe ist zugleich Direktor einer Firma, die im rohstoffreichen Kongo Schürfrechte besitzt, und einer anderen, die dort über Transportkonzessionen verfügt.
Weit unterhalb der Ebene der Zentralregierung jedoch haben Menschen in einzelnen Gemeinden beeindruckende Initiativen als Reaktion auf die Aids-Krise auf die Beine gestellt. "Wir haben in jeder Provinz mitgliederstarke Organisationen", sagt Thembeni Mahlangu, der Leiter des Simbabwe AIDS Network. "In vielen Fällen ging die Initiative von einer Kirche oder einer nichtstaatlichen Organisation aus, manchmal auch von Einzelpersonen." Auxilia Chimusoro beispielsweise gründete die erste Aids-Hilfe Simbabwes und reiste unermüdlich durchs Land, um weitere Initiativen ins Leben zu rufen. Als sie 1998 starb, hatte Chimusoro mehr als 50 Hilfsinitiativen gegründet, vor allem in armen ländlichen Gemeinden. In der Hauptstadt Harare wiederum gibt es das Musasa-Projekt, das sich um misshandelte Frauen kümmert und ihnen hilft, sich von Partnern zu trennen, die sie oftmals zum Geschlechtsverkehr zwingen, fast immer ohne Kondom.
Der IGAC, die Gruppe, die Wilson half, hat sich auf häusliche Krankenpflege und auf die Versorgung von Waisenkindern spezialisiert. Außerdem startete die Initiative vor kurzer Zeit eine Präventionskampagne, die vor allem Jugendliche ansprechen soll. In den meisten Fällen besteht die Leitung der Aids-Programme "aus qualifizierten Kräften", sagt Lucia Malemane, eine Krankenschwester, die für den Matabeleland AIDS Council in Simbabwe arbeitet und den Leuten der Schwesterorganisation in Insiza früher Unterricht in Sachen Aids gegeben hat. "Aber beim IGAC sind es ganz einfach normale Bauern."
So heroisch diese Anstrengungen zur Selbsthilfe auch sein mögen, sie sind von Bitterkeit gezeichnet. Nicht allein weil die Regierung sich ihrer Pflicht entzogen hat, die diese vereinzelten Initiativen zu einer wirksamen, landesweiten Reaktion auf die Aids-Krise zusammenführen könnte.
Hinzu kommt, dass den meisten dieser lokalen Hilfsinitiativen gerade einmal die einfachsten Arzneien zur Verfügung stehen. Es ist überhaupt nicht daran zu denken, dass sie sich die teuren Medikamente-Kombinationen leisten können, welche die Zahl der Aids-bedingten Todesfälle in den wohlhabenden Ländern deutlich reduziert haben. Ohne wirksame Medikamente jedoch kann ambulante Krankenpflege oft nicht viel mehr als ambulante Sterbebegleitung sein. Angesichts der vielen Menschen, die von der Krankheit dahingerafft werden, und der Armut, die den Einsatz der freiwilligen Helfer so ungeheuer mühsam macht, wird sich erst noch zeigen müssen, ob diese Selbsthilfe mit einfachsten Mitteln über die Jahrzehnte hinweg aufrechterhalten werden kann, die vermutlich noch vergehen werden, bevor es einen Aids-Impfstoff gibt.
Gegenwärtig jedenfalls bemühen sich Tausende einfacher Menschen in Afrika allen Widrigkeiten zum Trotz, ihre Kranken zu pflegen, die Waisenkinder großzuziehen und die weitere Ausbreitung des Virus zu verlangsamen. Wenn die Regierungen der betroffenen Länder sich endlich dazu aufraffen, der Epidemie entgegenzutreten, dann werden die Kabinettsmitglieder einige der besten und wirksamsten Strategien zur Bekämpfung von Aids direkt vor ihrer Nase finden.
Und sie würden vielleicht auch noch etwas Anderes entdecken. Auf Grund ihrer Tradition sind die Afrikaner darauf eingestellt, Unbill und Schwierigkeiten im Kreise der Familie und mit Hilfe festgefügter Gemeinschaften zu bewältigen. Doch schon vor dem Ausbruch von Aids haben Kolonialismus, Urbanisierung und Vereinzelung der Menschen die Bindekräfte der afrikanischen Gesellschaft geschwächt. Die Epidemie droht nun das traditionelle soziale Geflecht vollends zu zerstören – doch möglicherweise wirkt sie sich auch gegenteilig aus. "Aids ist schrecklich, aber in Zeiten besonders großer Belastung zeigt sich auch, ob eine Gesellschaft auseinander fällt oder den Zusammenhalt stärkt", sagt Alan Whiteside, der an der Universität von Natal in Südafrika die Auswirkungen von Aids auf Bevölkerungsstrukturen erforscht. Er verweist auf das Beispiel der schwulen Gemeinschaft in den USA, der es gelungen ist, einflussreiche Institutionen aufzubauen und eine neue Kultur der Solidarität hervorzubringen. "Mit ein bisschen Hilfe", sagt er, "könnte sich der IGAC zu einem Musterbeispiel für alternative Formen des gemeinschaftlichen Zusammenlebens in Afrika entwickeln."
Es gibt kaum einen Ort, an dem die Hindernisse, auf Aids zu reagieren, größer sein könnten als hier im Insiza-Distrikt. Er besteht aus trockenem Flachland im südlichen Simbabwe, das von großartigen Felsformationen durchsetzt ist und wo die meisten Menschen in imi zi leben, ländlichen Wohnanlagen, die aus einer regelmäßigen Anordnung von runden Hütten bestehen. Die Bewohner dieser Dörfer sind so arm, dass die meisten ihre Toten nicht in einem Sarg begraben, sondern sie in Decken wickeln. Bei einer Beerdigung in dieser Gegend, die zu Beginn des letzten Winters stattfand, war die trauernde Familie so erschreckend arm, dass sie die Decke, in die der Tote eingewickelt war, nach dem Herunterlassen ins Grab wieder herausholte, damit die Kinder nicht frieren mussten. Die von Mitleid und Entsetzen ergriffene Koordinatorin des IGAC, Japhet Gwebu, gab der Familie daraufhin eine neue Decke.
Nur ungefähr die Hälfte der Bevölkerung in Insiza kann Lesen und Schreiben, und die wenigen Schulen, die es gibt, haben oft nicht einmal Möbel, sodass die Schüler auf dem Boden arbeiten müssen. Das Krankenhaus des Distrikts sollte eigentlich fünf Ärzte haben, aber bei einem Besuch neulich gab es nur einen einzigen Mediziner. Der Operationssaal war geschlossen, weil dem Hospital die Narkosemittel ausgegangen waren. Auch an Krankenschwestern und -pflegern mangelt es – an Patienten hingegen nicht; die strömen in weit größeren Mengen herein, als das Krankenhaus bewältigen kann.
Häufige Dürren führen dazu, dass Menschen und Tiere hungern müssen. Die Dürre von 1992 hat den größten Teil des Viehs umgebracht. Das hat zur Folge gehabt, dass in diesem Jahr trotz ausreichenden Niederschlags viele der fruchtbarsten Felder brach liegen, weil es immer noch keine Zugtiere gibt, die die Pflüge ziehen könnten. Natürlich hat niemand einen Traktor oder ein Auto. Wie viele Bewohner haben elektrischen Strom oder fließendes Wasser? Fidres Manombe, der Leiter der Distriktverwaltung, lacht über die Frage: "Ach, kaum der Rede wert".
Damals in den späten achtziger Jahren, als eine neue Krankheit die Menschen zu Haut und Knochen abmagern ließ, glaubten die meisten Bewohner, das Leiden sei ein Werk böser Zauberei. Erst 1994 wurden sie über die medizinische Sachlage aufgeklärt, woraufhin eine Ältesten-Gruppe sofort beschloss, dass etwas für die Scharen von Kranken und die wachsende Zahl von Waisenkindern getan werden müsse. Wie aber ließ sich das organisatorisch bewerkstelligen?
Die Hüttensiedlungen sind weit verstreut. Auf dem gesamten Gebiet des 7500 Quadratkilometer umfassenden Distrikts – er ist knapp dreimal so groß wie das Saarland – gibt es nur eine asphaltierte Straße. Niemand hat ein Telefon. Isaiah Ndlovu, einer der Gründer und engagiertesten Leiter des IGAC, hat noch nie etwas von E-mail gehört. Dafür verschickt er manchmal Nachrichten durch Weitersagen. Eine Mitteilung wird mündlich von Bewohner zu Bewohner weitergegeben, bis sie zum Ende des Tages die Weiten des Ackerlandes überwunden und den gewünschten Empfänger erreicht hat – vorausgesetzt, dass niemand die Mitteilung missverstanden oder völlig vergessen hat. Zur Mobilisierung der Mitglieder muss Ndlovu zu den Hüttensiedlungen hinreisen. Tatsächlich hält er seine Aids-Hilfe am Leben, indem er die freiwilligen Mitarbeiter und die Sterbenden, um die sie sich kümmern, persönlich aufsucht.
Zu allen Orten, die weniger als 15 Kilometer entfernt sind, geht Ndlovu zu Fuß. Wenn er den einzigen Bus bekommen will, der sein Dorf täglich ansteuert, steht der 56-Jährige um Viertel vor vier Uhr am Morgen auf und stapft 45 Minuten durch die Dunkelheit zur Bushaltestelle, einem unscheinbaren Grasfleck neben der unbefestigten Hauptstraße. Verspätungen des Busses von bis zu acht Stunden sind nicht ungewöhnlich. "Aber", sagt Ndlovu an einem Wintermorgen, während er im Nieselregen steht und der Bus schon längst hätte da sein müssen, "es ist besser, der Bus ist spät dran, als dass man selbst zu spät zum Bus kommt."
Heute, fünf Jahre nach der Gründung, hat der IGAC 500 aktive Mitarbeiter und weitere 500, die je nach Bedarf aushelfen. Zum Vergleich: Die größte Aids-Organisation von New York, Gay Men’s Health Crisis (GMHC), hatte 1994, kurz bevor neue Medikamente die Sterberate zu senken begannen, ebenfalls 500 freiwillige Mitarbeiter, die bei der häuslichen Pflege halfen. Bei einem Budget von 24 Millionen US-Dollar kann die amerikanische Organisation GMHC ihre ehrenamtlichen Helfer mit Parties und anderen Anreizen belohnen. Das Jahresbudget des IGAC liegt umgerechnet bei knapp 35.000 Mark. Die Mitarbeiter müssen, auch wenn es ihnen selbst am Nötigsten fehlt, Mitgliedsgebühren zahlen. Außerdem spenden die freiwilligen Helfer direkt an ihre Patienten, indem sie ihnen Tomaten oder Seife, Kerzen oder den gemahlenen Mais bringen, den die Simbabwer zu fast jeder Mahlzeit essen. "Es ist nicht immer möglich, etwas mitzubringen", erklärt Kelina Ncube, eine der Helferinnen. "Wir geben ihnen einfach etwas von dem ab, was wir an dem jeweiligen Tag selbst zu essen haben."
Die Kosten für alle die kleinen Gaben sind inzwischen für die Helfer eine ziemliche Belastung. "Am Anfang war es noch einfach", sagt Ndlovu. "Aber nach einer Weile begannen einige zu sagen, 'Wir haben zu viel gespendet.' Bei einem Treffen fragt eine Frau, ob man ihr und den anderen Helfern die Auslagen erstatten kann. In einigen Fällen mag es sich dabei nur um Meckerei handeln – "Es gibt bei uns solche und solche", sagt Ndlovu trocken -, aber den meisten Beschwerden liegt die eigene nackte Armut zugrunde. "Wir müssen kranke Menschen pflegen und Essen für sie zubereiten, also brauchen wir Seife zum Waschen", erklärt er. "Seife ist jedoch sehr, sehr teuer." Ein Stück kostet in Simbabwe umgerechnet 40 Pfennige.
"In den USA gibt es jede Menge freiwillige Helfer, aber die brauchen sich nie darum zu sorgen, dass sie etwas zu essen auf den Tisch bekommen", sagt Noerine Kaleeba, die mit der AIDS Support Organisation of Uganda Afrikas erste Hilfsorganisation für HIV-Positive ins Leben gerufen hat. Um ihre Mitglieder bei der Stange zu halten, sagt Kaleeba, haben einige der afrikanischen Intiativen einen besonderen Garten angelegt, in dem nur die freiwilligen Helfer ernten dürfen, oder sie haben einen speziellen Fonds eingerichtet, aus dem die Schulgebühren für ihre Kinder bezahlt werden. (Wie in den meisten afrikanischen Staaten ist auch in Simbabwe der Schulbesuch nicht kostenlos.)
Es wird oft behauptet, die Afrikaner würden gegenüber dem Tod und dem menschlichen Leiden eine passive Haltung einnehmen. Das Leben sei hier nicht viel wert, heißt es. In Wahrheit ist das Leben auf diesem Kontinent sehr hart. Die Menschen sind so arm, dass, selbst wenn sie einen großen Teil ihres Einkommens spenden – wie die meisten IGAC-Mitglieder es tun -, die Beträge in der Summe sehr klein sind – so klein, dass sich oft nicht einmal die einfachsten Hilfeleistungen damit bewerkstelligen und aufrechterhalten lassen. Bei Organisationen wie dem IGAC handelt es sich, wie Kaleeba es ausdrückt, um "einzelne und weit verstreute Blüten"; dann fügt sie hinzu: "Ich wünschte, diese Blüten würden sich in einen Blumengarten verwandeln."
Sikhangele Ndiwenis Mutter hat die Initiative gestartet, in einem Gemeinschaftsgarten Gemüse zu züchten und mit dessen Verkauf Geld für die Aids-Hilfe zu verdienen. Das Grundstück war jedoch klein und der Erlös entsprechend mager. Die folgenden Projekte des IGAC zur Erzielung von Einkommen erlebte Ndiwenis Mutter nicht mehr; sie starb im März 1997 an Aids, ihr Mann erlag der Krankheit drei Monate später. Ndiweni selbst – als ältestes Kind der Familie – hatte die Schule verlassen müssen, um ihre Eltern zu pflegen. "Ich musste meine Mutter waschen und die Leute begrüßen, die sie besuchen kamen", sagt sie. Mittlerweile ist sie 20 Jahre alt und zieht ihre Schwester und vier Brüder auf. Für Nahrung und Schulgebühren ist sie auf die Hilfe des IGAC angewiesen, aber sie gehört nicht nur zu den Nehmenden. Wie ihre Mutter hilft sie dem IGAC, Gelder aufzutreiben.
Zusätzlich zur Hausarbeit kümmert Ndiweni sich um eine Herde Ziegen. Diese ist Teil einer Spende, die der IGAC von Help Age erhalten hat, einer Organisation zur Unterstützung alter Menschen. In kleinere Herden aufgeteilt und hauptsächlich von Waisenkindern gehütet, stellen die Ziegen eine der beiden wichtigen Einnahmequellen des IGAC dar. Das andere Projekt, welches der Organisation Einkünfte bringt, ist eine Maismühle. Die Gewinne werden aufgeteilt und an Komitees im gesamten Distrikt verteilt. Diese wiederum entscheiden, welche Familien in den jeweiligen Dörfern am dringendsten Decken, Schulgebühren sowie Lebensmittel für Notfälle benötigen – nach dem Verfahren der Triage (der Begriff stammt aus der Militärmedizin: Wenn es zuviele Verletzte gab, um alle zu behandeln, wurde von jeweils dreien – deshalb Triage – derjenige erst behandelt, dessen Überlebenschancen am besten standen; Anm. der Redaktion).
Margaret Nkomo, Mitglied eines der örtlichen Komitees des IGAC, erzählt, dass es in ihrer Gegend 46 Kinder gibt, die mindestens ein Elternteil verloren haben. Ungefähr ein Drittel dieser Waisen sind – abgesehen von der Unterstützung durch den IGAC – völlig mittellos. Die Ziegenherde und die Maismühle werfen jedoch nicht genug ab, um allen Waisen den Besuch der Grundschule zu ermöglichen. Nkomo und andere Helfer begleichen die fehlenden Beträge, indem sie in die eigene, nicht gerade prall gefüllte Tasche greifen. Die höhere Schule ist jedoch teurer, deshalb mussten einige der älteren Waisen auf den Schulbesuch verzichten.
Ndiweni würde am liebsten an der höheren Schule ihren Abschluss machen – sie ist gerne zum Unterricht gegangen und war eine gute Schülerin. Aber es fehlt das nötige Geld, und die Umstände haben sie ins Erwachsenenalter katapultiert. Mittlerweile hat sie angefangen, Hausbesuche bei Kranken zu machen, und hilft so anderen, während ihr selbst geholfen wird. "Ich kann nichts zu essen mitbringen", sagt sie, "aber ich kann kochen und waschen und auf diese Weise behilflich sein."
Eliot Magunje, ein Aktivist in Harare, ist davon nicht beeindruckt. "Das ist keine ambulante Krankenpflege, das ist ambulante Vernachlässigung", beklagt er sich. Magunje ist HIV-positiv, und seine Wut geht zu einem großen Teil auf den unbarmherzigen Tatbestand zurück, dass die Medikamente, die sein Leben verlängern könnten, hier zu teuer sind. Mit seiner Kritik entlarvt er die entscheidende Schwäche, die in Afrika auf praktisch jede Initiative zur häuslichen Pflege von Aids-Kranken zutrifft: Es wird keine oder kaum medizinische Behandlung geboten. Die Salbe für Wilsons wund gelegene Seite war bereits eine Ausnahme. Normalerweise, sagt Isaiah Ndlovu, "besteht unsere Medizin aus Gebeten."
Auch die emotionale Belastung nimmt ständig zu. Moddie Nkomo, eine weitere Helferin, hat den Sohn ihrer Schwester gepflegt, der an häufigen Durchfällen litt, bis er starb. An einem "besonders schwierigen Tag" im letzten November wollte Nkomo drei Kranke besuchen, "aber alle waren schon gestorben. Heute haben wir schon wieder jemanden begraben", einen 35 Jahre alten Mann. Dessen Frau ist letztes Jahr gestorben. Auch um sie hatte Nkomo sich gekümmert.
Viele Aids-Aktivisten sind der Meinung, dass Initiativen wie der IGAC sich nicht aufrechterhalten lassen, vor allem angesichts des Mangels an staatlicher Hilfe. In der Tat muss man sich vor Augen halten, dass Aids in Afrika einen Kontinent getroffen hat, der ohnehin schon von einer schlimmen Geschichte in Mitleidenschaft gezogen war. Die meisten in ländlichen Gebieten lebenden Simbabwer haben mit Nahrungsmittelknappheit zu kämpfen, denn das fruchtbare Land, von dem sie vertrieben worden sind, ist nach wie vor in den Händen von Weißen. Die Männer sind oft gezwungen, zwischen einer Stadt, wo es Arbeit gibt, und der ländlichen Heimat, wo die Angehörigen leben, hin- und herzuwandern. Nicht nur räumlich, sondern auch psychologisch leben viele Afrikaner in zwei Welten. Sie befinden sich im Zwiespalt zwischen traditionellen Kulturen, die sich nicht wiederbeleben lassen, und einem westlichen Materialismus, der oft sinnentleert scheint. Eine Katastrophe von den Ausmaßen der Aids-Epidemie könnte diesen fragilen Gemeinschaften das Rückgrat brechen.
Und doch findet in Insiza das Gegenteil statt. Aids hat die Gemeinschaft zweifellos großen Belastungen ausgesetzt – aber das ist auch der Grund, weshalb so viele Dorfbewohner sich an Hilfsleistungen beteiligen. Gerade in ländlichen Gegenden geht es vielen Mitarbeitern von Aids-Hilfen "nicht so sehr darum, die Krankheit zu bekämpfen, als vielmehr die Gemeinschaft zu unterstützen und zu stärken", sagt Sy von UNAIDS. "Erfolg und Misserfolg sollten nicht automatisch an der Zahl der Leute, die sterben, gemessen werden, sondern an der Menge derjenigen, die aktiv zum Zusammenhalt beitragen."
Hier liegt auch die Problematik fremder Unterstützung. Armut kann zwar bedeuten, dass die eigenen Hilfeleistungen sehr begrenzt bleiben, umgekehrt aber wollen ausländische Geldgeber oft ihre eigenen Prioritäten durchsetzen, oder sie untergraben das Selbstvertrauen der Hilfsempfänger. Der IGAC ist gerade deshalb erfolgreich, weil die Dorfbewohner die Organisation selbst auf die Beine gestellt haben.
Ezekiel Sibanda, ein großer, schlanker Mann, ist sobhuku oder Vorsteher in einem der Dörfer in Insiza. Er sagt, der IGAC habe einen Präzedenzfall geschaffen. Frauen haben sich zusammengetan, um Grasmatten zu flechten und zu verkaufen. Die Gewinne werden geteilt, und ein kleiner Prozentsatz geht an die Bedürftigen. Eine andere Gruppe züchtet Hühner, wieder eine andere hat angefangen, einen Garten zu bebauen, und eine Gruppe von Jugendlichen bäckt Lehmziegel. Solche gemeinschaftlichen Unternehmungen gab es nicht, bevor der IGAC entstand, sagt Sibanda. "Vorher haben die Leute nicht soviel gegeben und geholfen. Der IGAC hat uns zusammengebracht."
Und zwar in einer Weise, die an das erinnert, "was unsere traditionellen Gemeinschaften einmal waren", sagt Marowa von der nationalen Aids-Organisation. Präkoloniale afrikanische Zivilisationen bestanden oftmals aus kleineren Einheiten als europäische Nationalstaaten. "Der eindeutig afrikanischste Beitrag zur Geschichte der Menschheit", schreibt John Reader in seinem viel gepriesenen Buch Africa: A Biography of the Continent, "besteht gerade in der hohen Kunst, auf relativ friedliche Weise zusammenzuleben, die nicht durch einen Staat geprägt ist." Kaleeba sieht das so: "Auch wenn es einen Staat gibt, liegt die Hauptverantwortung bei der Familie, den Nachbarn und der Gemeinde. Das ist kein geschriebenes Gesetz, aber es wird weitergegeben und verstanden."
Traditionelle afrikanische Gesellschaften bestanden in der Regel aus flexiblen Netzwerken, innerhalb derer es tabu war, individuelle Vorteile auf Kosten der Gemeinschaft zu ziehen – praktisch das genaue Gegenteil des Kapitalismus. Dabei handelte es sich nicht um eine Utopie, sondern vielmehr um eine Anpassung an die harten Realitäten des Kontinents. Afrika war schon immer dünn besiedelt, deshalb waren soziale Gemeinschaften auf jedes einsatzfähige Mitglied angewiesen und mussten von diesem verlangen, dass es seinen Beitrag für die Gemeinschaft leistet. Afrikanische Gesellschaften, behauptet Reader, entwickelten sich unter dem Druck, "das Überleben in einer unwirtlichen natürlichen Umgebung zu sichern, die nicht nur mit kargen Böden und unberechenbarem Klima geschlagen ist, sondern zudem mit Horden von Schädlingen und einer größeren Vielfalt an Krankheiten übertragenden Parasiten – mehr als in jeder anderen Gegend der Welt."
Die Antwort des IGAC auf die Aids-Krise stellt gewissermaßen eine Wiederbesinnung auf jene uralten Traditionen sozialen Verhaltens dar, mit Hilfe derer afrikanische Gemeinschaften schon früheren Geißeln widerstanden haben. Die Selbstlosigkeit der Helfer geht auf tief verwurzelte Rollenbilder zurück, die durch den Kolonialismus zwar verwässert, aber nicht ausgelöscht wurden. Die gewinnorientierten unternehmerischen Projekte des IGAC sind eine Anpassung dieser Traditionen an die gegenwärtige Krise. Dasselbe gilt für die offenen Gespräche über Sexualität in dem neuen Präventionsprogramm für Jugendliche, wo auch Kondome verteilt und die Mädchen vor "liebenswürdigen" älteren Herren gewarnt werden.
Trotz allem sitzt die Armut diesen Menschen zu dicht im Nacken, als dass die Zukunft des IGAC gesichert wäre. Ein Beispiel liefert eine Seuche, die sich unter den der Organisation gehörenden Ziegen ausbreitete und viele von ihnen sterben ließ. Der IGAC konnte sich selbstverständlich keine Medikamente leisten, um die Ziegen zu behandeln. Die nächste Dürre schon könnte die Ziegenherde endgültig vernichten, den Gemeinschaftsgarten vertrocknen lassen und der Organisation ihre Kraft rauben. Und natürlich gibt es noch immer eine nicht nachlassende Flut von Aids-Kranken.
Isaiah Ndlovu ist mit seinen freiwilligen Helfern auf dem Weg zu einer weiteren betroffenen Familie. Macht ihn die endlose Zahl der Toten allmählich mutlos oder wütend? "Nein", sagt er, "überhaupt nicht. Wir akzeptieren das, und wenn man das tut, wird es zu einem Teil des alltäglichen Lebens. Okay, der Tod ist immer da. Aber das ist kein Grund, nicht für die Kranken und die Waisenkinder zu sorgen. So einfach ist das für mich."
Tabeth Nkome und ihr Mann sitzen in Decken gehüllt in ihrer Hütte. Tabeth weiß, dass sie beide bald sterben werden, sie weiß, dass ihre Mutter zu alt und zu schwach ist, um die Felder zu bestellen, und sie weiß auch, dass ihre vier Kinder bald Waisen sein werden. "Ich habe Angst um meinen Jüngsten", sagt sie. "Er ist noch zu klein, um Wasser und Feuerholz zu holen." Der größte Trost, den ihr die Leute vom IGAC geben können, ist nicht, dass sie Essen bringen oder ihren schwachen Körper waschen, sondern dass sie sich um die Kinder kümmern, für sie kochen und sie zur Ordnung rufen, wenn sie Unsinn machen. "Sie helfen mir jetzt, wo ich noch lebe", sagt sie, "also vertraue ich darauf, dass sie auch helfen werden, wenn ich gehe."
aus: der überblick 03/2000, Seite 19
AUTOR(EN):
Mark Schoofs:
Der amerikanische Journalist Mark Schoofs hat für seine achtteilige Serie über Aids in Afrika im Jahr 2000 den Pulitzer-Preis erhalten, einen der bedeutendsten Journalistenpreise. Die Reportagen sind das Ergebnis Hunderter von Interviews, die über einen Zeitraum von sechs Monaten in neun Ländern geführt wurden. Die Reportagen wurden von Michael Wachholz für den überblick übersetzt. Sie sind erstmals auf Englisch in der in der New Yorker Zeitung Village Voice erschienen.