Zum zweiten Mal im Exil
Nicht viele Balten, die im westlichen Exil gelebt haben, sind nach der erneuten Unabhängigkeit von Estland, Lettland und Litauen Anfang der neunziger Jahre in ihre Herkunftsländer zurückgekehrt. Aber viele der Rückkehrer erlangten schnell führende Posten in Politik und Wirtschaft. Dabei waren gewisse Spannungen zwischen den zurückgekehrten »Westbalten« und den im Baltikum gebliebenen »Örtlichen« unvermeidlich. Aber mit der Anpassung der Westbalten an die neuen Lebensverhältnisse normalisieren sich die Beziehungen, und das Baltikum wird wieder europäisch.
von Ainars Dimants
Ojars Kalnins macht es deutlich: »Es geht um die Rückkehr Europas nach Lettland und nicht um die Rückkehr Lettlands nach Europa.« Kalnins ist nach dem Zweiten Weltkrieg als Flüchtlingskind in Deutschland geboren worden und in Amerika aufgewachsen. Er war Botschafter Lettlands in Washington und ist jetzt Direktor des renommierten Lettischen Instituts in Riga.
Geografisch und kulturell ist Lettland immer Teil Europas gewesen. Aber 50 Jahre lang, während der sowjetischen Besatzungszeit, war Europa nicht im Baltikum präsent, und viele Balten verließen angesichts der sowjetischen Fremdherrschaft ihre Heimat.
Nur die alten Leute – ob im Baltikum selbst oder in der Diaspora – können sich noch an die europäische Zeit vor der sowjetischen Besatzung erinnern. In Lettland etwa haben sie noch die Zeit des eigenen gut funktionierenden Nationalstaates bis 1940 erlebt und damit wenigstens einige Vorstellungen davon behalten, was eine freie Wirtschaft und ein (wenngleich autoritär geprägter) Rechtsstaat ist.
Am Ende des Zweiten Weltkriegs flohen nicht weniger als 64.000 Litauer, 120.000 Letten und 80.000 Esten vor den Sowjets in den Westen. Große estnische Exilgemeinden entstanden in Schweden (20.000), Kanada (19.000), den USA (16.000) und Australien (6500). Die meisten Letten gingen in die USA (45.000), nach Australien (21.000), Großbritannien (18.000) und Kanada (13.000). 9000 siedelten in Deutschland und 4000 in Schweden. Zur größten lettischen Stadt außerhalb Lettlands wurde Toronto mit mehr als 10.000 lettischen Einwohnern. Das dortige »Lettische Haus« ist das weltgrößte lettische Zentrum im Ausland. Mindestens 2000 Letten leben seit längerem auch in Brasilien. Die Litauer hatten schon seit Anfang des 20. Jahrhunderts eine große Kolonie in den Vereinigten Staaten. Dorthin sind aus wirtschaftlichen Gründen 250.000 Menschen emigriert.
Seit dem Ende der achtziger und dem Beginn der neunziger Jahre – nach der Wiederherstellung der Unabhängigkeit der baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen – sind eine Reihe von Esten, Letten und Litauer aus ihrem Exil im Westen in ihr Vaterland zurückgekehrt.
Aber noch heute leben 500.000 Litauer, 175.000 Letten und 150.000 Esten außerhalb ihrer jeweiligen Herkunftsländer. Nicht alle von ihnen befinden sich im Westen: Nach verschiedenen Schätzungen gibt es z. B. zwischen 47.000 und 87.000 sogenannter Russlandletten, die meistens schon seit der Zarenzeit dort leben. Da in Estland nur eine Million Esten, in Lettland nur anderthalb Millionen Letten und in Litauen etwa drei Millionen Litauer leben, ist im Vergleich dazu die Zahl der sogenannten Westbalten relativ groß. Die Zahl der tatsächlich Zurückgekehrten bleibt dagegen relativ niedrig: In Lettland sind es schätzungsweise weniger als 1000, im übrigen Baltikum relativ gesehen auch nicht mehr.
Für viele der Rückkehrer war das Baltikum nicht mehr ihre eigentliche Heimat, nicht ihr Vaterland im direkten Sinne des Wortes, es war vielmehr ihre ethnische Heimat. Denn wie Ojars Kalnins sind sie schon im Westen geboren und aufgewachsen, und vor allem hat sie der Westen geprägt. Diese Leute machen heute in allen drei Ländern den aktivsten und einflussreichsten Kern der sogenannten Bekehrten aus. Einige von ihnen haben als Aktivisten der ersten Stunde schon Ende der achtziger Jahre im Baltikum selbst mit den demokratischen Unabhängigkeitsbewegungen zusammengearbeitet. Vor allem halfen sie als Dolmetscher für die westlichen Medien.
Viele aus dieser jungen Generation der »Rückkehrer« aus der Diaspora haben jetzt wichtige Posten in der Politik und Wirtschaft ihres neuen Heimatlandes und alten Abstammungslandes. So in Lettland Peteris Elferts, der parlamentarische Sekretär im Außenministerium, Karlis Streips, ein führender Fernsehmoderator, Pauls Raudseps, bis vor kurzem der Geschäftsführende Redakteur der Zeitung Diena und Direktor von deren Internetausgabe Diena.net, Egils Levits, ein ehemaliger Minister, Botschafter und jetzt lettischer Richter im Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, Inese Birzniece, ein Abgeordneter im Parlament, Vita Terauda, eine ehemalige Ministerin und jetzt Direktorin der Soros-Stiftung in Lettland, Baiba Rubesa, Direktorin von Statoil Latvia, um nur ein paar zu nennen.
Die meisten von ihnen sind aus aus Amerika und Kanada zurückgekommen, weniger aus dem westlichen Europa. Viele waren aber zuvor Schüler am lettischen Gymnasium in Münster gewesen (es war das einzige lettische Gymnasium in der Welt außerhalb Lettlands) und hatten dann Sozialwissenschaften an westlichen Universitäten studiert. Gunars Meierovics, der Sohn des ersten lettischen Außenministers und ehemaliger Vorsitzender der Dachorganisation der Exil-Letten »Weltbund der Freien Letten«, spricht von etwa 200 jungen Letten, die aus dem Westen ins Vaterland zurückgekehrt sind und hier politisch tätig sind. In Estland ist Außenminister Toomas Hendrik Ilves der bekannteste Fall von dieser zweiter Exilgeneration. Die Staatspräsidentin Lettlands, Vaira Vike-Freiberga aus Kanada, die früher das Institut Lettlands geleitet hat, sowie der litauische Präsident Valdas Adamkus aus den Vereinigten Staaten von Amerika sind zwar jeweils noch in Lettland und Litauen geboren, aber im Westen groß geworden und lehnen sich in der Tat an das Weltbild der jüngeren Generation an.
Persönlichkeiten, die wie der oben genannte Meierovics als Rückkehrer die erste Exilgeneration verkörpern, waren vorwiegend in den frühen neunziger Jahren im Parlament und in der Regierung gut vertreten. Bald aber wurden sie von jüngeren verdrängt. So wurde 1993 in der 5. Saeima, dem ersten freigewählten Parlament Lettlands nach der Wiederherstellung der Unabhängkeit, eine Rekordzahl der sogenannten Westletten gewählt: fast ein Fünftel der hundert Abgeordneten.
Nicht immer waren diese unter den neuen Umständen erfolgreich. Es ist nämlich eine Sache, die politische Lobbyarbeit im heimischen Westen sehr gut zu organisieren, aber eine ganz andere, unpopuläre Reformen in einem für sie noch recht fremden Transformationsland einzuleiten und zu verwirklichen, wo sie auf harten Widerstand von Bremsern stoßen, die sich mit den Landesbedingungen weit besser auskennen. Erfolgreicher waren die Rückkehrer oft bei der Bewirtschaftung des eigenen wiedergewonnenen (denationalisierten) Familieneigentums an Mietshäusern in den Städten und an Bauernhöfen auf dem Lande.
Insgesamt halfen aber die politische, kulturelle und wirtschaftliche Kompetenz der Rückkehrer aus dem Westen sowie ihre persönlichen Verbindungen den baltischen Staaten enorm. Besonders am Anfang der wiederhergestellten Unabhängigkeit hatten die im Lande gebliebenen »Örtlichen« weit weniger Englisch-, Deutsch-, oder Französischkenntnisse und weniger Wissen über den Westen, als das heute der Fall ist. Während der Herrschaft der Sowjetunion wurden ja alle privaten Kontakte mit den Verwandten im Westen möglichst streng von den Behörden kontrolliert, weil der Staat den westlichen politischen Einfluss fürchtete.
Aber anders als etwa im benachbarten Russland seit 1917, dessen ältere Geschichte im Unterschied zu der der protestantischen und katholischen baltischen Nationen auch nicht im westlichen Kulturraum verlief, gab es immerhin noch die Erinnerung der alten Leute an die »Westzeit« und ihre Kenntnis von Rechtsstaat und privater Wirtschaft. Das war für das Baltikum eine gute Grundlage für die Transformation und weitere Entwicklung der Demokratie und Marktwirtschaft. In Estland kam noch die wichtige Rolle des finnischen Fernsehens als Informationsquelle hinzu, das wegen der engen Sprachverwandtschaft gut verstanden wird und das auch in der Sowjetzeit im Norden Estlands zu empfangen war.
Gleichwohl gab und gibt es noch in den Beziehungen zwischen den »Westbalten« und den im Baltikum gebliebenen »Örtlichen« gewisse Missverständnisse und Spannungen. Man kann die Situation allerdings nicht direkt mit dem Verhältnis zwischen »Ossis« und »Wessis« in Deutschland vergleichen. Die baltische Diaspora war nicht mit dem mächtigen Westdeutschland vergleichbar, dessen Fernsehen der größte Teil der DDR-Bevölkerung täglich empfing. Im Unterschied zu Deutschland lebte die Mehrheit und nicht eine Minderheit der baltischen Bevölkerung im real existierenden Sozialismus – zudem in einem von stark sowjetrussischer Prägung. Besonders in Lettland und Estland, die im Vergleich zu Litauen besser entwickelt und höher industrialisiert waren, war die Sowjetisierung mit der Deportation zahlreicher Menschen, mit Einwanderung und Russifizierung verbunden. So machen die Letten im eigenen Land nur knapp 60 Prozent der Bevölkerung aus (unter den Staatsbürgern sind es etwa 75 Prozent). In allen größeren Städten des Landes bilden die Russen sogar die Mehrheit der Einwohner, was vor der Sowjetisierung nicht der Fall war.
Die zurückgekehrten Westbalten sind deshalb mit vielen realen und nicht nur psychologisch bedingten Problemen konfrontiert. Da gilt es nicht zuletzt, eine neue nationale Identität zu entwickeln, die sich weniger auf das Ethnische bezieht, sondern mehr auf den demokratischen Staat und auf ein Volk, das – wie die wieder in kraft gesetzte Verfassung der Republik Lettland es klug formuliert – alle Staatsbürger unter Einschluss der ethnischen Minderheiten umfasst. Gleichzeitig muss man aber noch für eine gemeinsame lettische Verkehrssprache kämpfen.
Der schon erwähnte Kalnins brachte es in einer Polemik mit dem Journalisten Juris Kaza, der auch ein nach Lettland umgesiedelter Exil-Lette ist, auf den Punkt. Kaza hatte den lettischen Samstagsschulen im Exil eine Täuschung vorgeworfen. Sie hätten das Leben in Lettland zu idyllisch geschildert. Kalnins antwortete darauf: Diese Vision vom Vorkriegs-Lettland sei von der Realität des heutigen Lettlands ebenso weit entfernt wie die gegnerische Version der zynischen Sowjetideologie. »Lettland kann nie mehr so aussehen, wie unsere Eltern es kannten«, schrieb er. Im Gegensatz zu Kaza, der von der zehnjährigen Entwicklung in Lettland nach der zweiten Unabhängigkeit tief enttäuscht ist und hier vor allem »verirrte und erstarrte Menschen« sieht, setzt Kalnins optimistisch auf die Jugend, die in ihrem Auftreten eine gesunde nationale Identität mit der Beherrschung des technischen Fortschritts wie modernen Informationstechnologien vereinigt.
Dieses Beispiel ist übrigens sehr charakteristisch für den öffentlichen Diskurs zum Verhältnis der Westbalten zu den heutigen baltischen Staaten. Vor allem beklagen die Örtlichen – oft nicht ganz ohne Grund, obwohl auch nicht ganz fair -, dass die Westbalten gar nicht so große Patrioten sind, wie sie sich selbst darstellten, weil sie mehr von außen belehren als selbst mitmachen.
Für die erste Generation der Exilbalten ist es gewiss auch ein Problem, dass sie immer nur mit den Erinnerungen an die dreißiger Jahre gelebt haben, als Lettland zwar unabhängig, aber nicht demokratisch, sondern autoritär und nationalistisch geprägt war. Solche – oft verklärten – Erinnerungen an die Jugendzeit und Wunschvorstellungen von ihrer Heimat, die – so fürchten manche vielleicht unbewusst – bei einer Rückkehr und einem Leben im heutigen Baltikum zerstört würden, sind ein wichtiger Grund, warum viele von der älteren Generation nicht wieder ins Baltikum gezogen sind – abgesehen von materiellen und ganz persönlichen Gründen.
Es wird deshalb wahrscheinlich keine große Umsiedlung der Balten vom Westen in ihr Vaterland mehr geben, obwohl vor der neuen Unabhängigkeit in den Propagandareden in den Exilzentren seit Jahrzehnten immer unterstrichen worden ist: Wenn zum nächsten nationalen Feiertag das Land frei wird, werden alle wieder zurückkehren. Selbst wenn die staatliche Unterstützung dafür größer werden könnte, wenn mit wirtschaftlichem Wachstum auch die Haushaltsmittel zunehmen, wird es kaum eine Rückkehrwelle geben. Die Exilzeit ist offensichtlich zu lang gewesen, die Wurzeln in den jeweiligen Aufenthaltsländern sind zu tief, und auch, um ganz ehrlich zu sein: Der Lebensstandard ist dort viel höher.
Die meisten Westbalten werden im Westen bleiben und die baltischen Staaten werden mehr und mehr im Westen integriert sein, in der Europäischen Union und in der NATO. Mit jedem Tag, mit jedem Jahr gibt es einen mentalen Annährungsprozess in Richtung gemeinsamer Werte. Im Baltikum betrifft dies insbesondere die Jugendlichen, aber auch alle anderen sozialen Gruppen.
Die Exilbalten, die zurückgekehrt sind, spüren am ehesten noch die »unterschiedlichen Wellenlängen«. Manche sagen: Wir waren das ganze Leben im Exil und sind es auch jetzt. Denn vieles im Baltikum ist ihnen nicht vertraut. Mit dem Westen hingegen befinden sie sich auf derselben Wellenlänge. Das ist ein Grund, warum die ins Baltikum zurückgekehrten Exilbalten sehr zusammenhalten und sich gegenseitig privat und dienstlich stark unterstützen. Der andere Grund ist, dass die Örtlichen mehr oder weniger verdeckt eine Front gegen diese neue Konkurrenz bilden und auch nicht ganz ohne Grund beklagen, dass die Westbalten die örtlichen Verhältnisse nicht genügend kennen.
In Lettland allerdings ist insbesondere nach der Wahl der Exil-Lettin Vike-Freiberga zu einer recht erfolgreichen Staatspräsidentin die gegenseitige Akzeptanz und das Zusammenwachsen enorm gewachsen. Die Westletten beklagen sich immer weniger, dass sie in Lettland nicht anerkannt werden. Und die Örtlichen sehen in der Gestalt der Präsidentin symbolhaft die wichtige und positive Rolle der Westletten für das Land.
Aber es wird noch für eine Weile die Aufgabe bleiben, die Arbeits- und Lebensverhältnisse im Baltikum zu ändern und westlichen Standards anzunähern, damit Europa ins Baltikum zurückkehrt und nicht die Jugend nach Europa wegläuft.
Auch die dritte Generation der Exilbalten im Westen wird sich allmählich in ihrer Umgebung assimilieren. Die Frage lautet: Wird sie ihre ethnische Identität im Exil auch ohne die jeweils estnische, lettische und litauische Sprache beibehalten? Wahrscheinlich nicht. Die Zukunft für alle, die ethnisch Esten, Letten und Litauer bleiben wollen, liegt in Estland, Lettland und Litauen. Das aber wird bald bedeuten: im vertrauten Westen.
aus: der überblick 02/2001, Seite 38
AUTOR(EN):
Ainars Dimants:
Ainars Dimants arbeitet als freier Journalist in Lettland. Nach dem Journalistikstudium in Riga und Moskau war er zuerst Moskauer Korrespondent und Kommentator der größten lettischen Tageszeitung "Diena", dann stellvertretender Chefredakteur der größten lettischen Wochenzeitung "Lauku Avize" und Chefredakteur des Wochenblattes "Fokuss". Seit 1998 hat er den Lehrstuhl für Kommunikationsstudien an der Rigaer Stradins-Universität inne. Er ist ferner Präsident der Europäischen Bewegung in Lettland.