Begegnungen mit Christen in China
von Leslie Hook
Als Chinas Kommunistische Partei 1949 an die Macht kam, waren etwas weniger als 0,8 Prozent der Chinesen getaufte Christen. Heute gibt es nach offizieller Zählung der Regierung 21 Millionen Katholiken und Protestanten; das sind 1,6 Prozent der Bevölkerung. Aber tatsächlich sind es sehr viel mehr, denn die Mehrzahl der Christen in China ist nicht Mitglied in einer offiziellen Kirche. Ein 85 Jahre alter Pastor im Ruhestand in Peking, der bat, nicht namentlich genannt zu werden, meint, dass jeder zehnte Chinese Christ sei. David Aikman schreibt in seinem 2003 erschienenen Buch Jesus in Peking , dass es etwa 80 Millionen Katholiken und Protestanten geben könnte, das wären 6 Prozent der Bevölkerung.
Wichtiger noch als das nominelle Wachstum ist die Tatsache, dass das Christentum zum ersten Mal in nennenswertem Umfang in die Mittelschichten und in intellektuelle Kreise in kleinen und größeren Städten vorgedrungen ist. "Vor dem Jahr 2000 lebten die meisten Gläubigen auf dem Lande", schreibt Yu Lie, ein Autor aus Peking, der 2003 zum Christentum bekehrt wurde. "Nach dem Jahr 2000 begannen Christen, in städtische Zentren zu ziehen, in Städte wie Peking, Schanghai und Guangzhou. Dort fand der Glaube auch unter den Intellektuellen Anhänger." Wenn auch die meisten chinesischen Christen Glauben und Politik voneinander trennen, so hat die Ausbreitung des christlichen Glaubens weitreichende Folgen für die politische und soziale Entwicklung des Landes. Nach konventioneller Auffassung füllt das Christentum ein Vakuum, das der Verlust des Glaubens an die kommunistische Ideologie zurückgelassen hat. Aber wenn man diesen Wandel einfach nur in dem Sinne interpretiert, dass ein Glaube den anderen ersetzt, dann unterschätzt man seine Bedeutung. Das Christentum ist anziehend für gebildete Chinesen, die nicht unbedingt nach einem allumfassenden Dogma suchen, das ihr Leben beherrscht, sondern nach einem humanistischen Rahmen, innerhalb dessen sie ein hohes Maß an intellektueller Freiheit haben. Außerdem bietet das Christentum ein alternatives System von gesellschaftlichen Werten, die geeignet sind, den Problemen zu begegnen, die seit dem Übergang Chinas zu einer freien Marktwirtschaft entstanden sind.
Die Kirche wächst trotz oder vielleicht sogar wegen der Versuche, Kontrolle über sie auszuüben, welche die Regierung in den vergangenen Jahrzehnten unternommen hat. In den frühen 1950er Jahren wurden die führenden Protestanten und Katholiken gezwungen, der "Protestantischen Patriotischen Drei-Selbst-Bewegung" oder der "Katholischen Patriotischen Vereinigung" beizutreten. Das sind Organe des "Büros für Religiöse Angelegenheiten", dem es darum ging, zu gewährleisten, dass das Christentum unter Kontrolle blieb. Viele Christen kamen ins Gefängnis, wenn sie sich weigerten, dem nachzukommen.
Der 85 Jahre alte Pastor vergleicht das Wachstum der Kirche in China trotz aller Regierungseinschränkungen mit der Zeit vor fast 2000 Jahren, als die frühen Christen durch die römischen Machthaber verfolgt wurden und sich das Christentum dennoch stark ausbreitete. Wie vergeblich diese Reaktion der Regierung sei, zeige sich heute deutlich. Das "Büro für Religiöse Angelegenheiten" habe kein Rezept für den Umgang mit diesem Wachstum gefunden. Obwohl die Regierung zunächst versucht habe, die Kirchen durch Festnahmen und Schikanen einzuengen, habe sie jetzt erkannt, dass das ein Fehlschlag gewesen sei. "Wenn sie den Leiter einer Hauskirche festnahmen, teilte sich diese einfach auf in fünf, sechs oder sogar zehn neue Hauskirchen."
Im 20. Jahrhundert blieb das Christentum in China weitgehend auf dem Lande angesiedelt, wo westliche Missionare ärmere und ungebildetere Bevölkerungsschichten bekehrt hatten. Der Pekinger Pastor berichtet, dass in den Jahrzehnten vor 1949 die Menschen, die gebildet und gut situiert waren, kein Interesse am Christentum gehabt hätten. "Die Gebildeten lehnten diese fremden Dinge grundsätzlich ab."
Was hat sich heute verändert? Erstaunlicherweise sagen viele Christen, die in der Stadt leben, dass die Religion eine Kraft sei, die zur intellektuellen, wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung Chinas beitrage. Mit anderen Worten: Obwohl der Glaube der meisten persönlich und unpolitisch ist, herrscht die feste Überzeugung, dass Glaube und Fortschritt zusammenhängen. Das Christentum, so glauben sie, könne China helfen, groß zu werden, sich zu modernisieren und weiterzuentwickeln.
"Glaube und Politik hängen eindeutig zusammen", sagt ein bekannter Dissident, der auch nicht mit Namen genannt werden möchte, da es ihm verboten ist, mit Journalisten zu sprechen. Während wir um die Teiche am Westeingang der Pekinger Universität herumschlendern, sinniert er: "Wie könnte China aussehen, wenn seine Führer Christen wären? Wenn sogar 50 Prozent der Polizisten Christen wären? Das vermag man sich kaum vorzustellen ... würde aber viele Dinge ändern."
Selbst diejenigen, die eine direkte Verbindung zwischen Christentum und Politik ablehnen, sprechen von den möglichen Vorzügen des Christentums für eine Demokratie. "Ich glaube, dass Demokratie und Christentum einander etwas zu sagen haben. Doch man kann nicht das eine benutzen, um zu dem anderen zu kommen", sagt der Schriftsteller Yu. Er glaubt, dass es ein Irrtum sei, Demokratie und Christentum als eine vereinte Front des Denkens zu betrachten, dass aber der Glaube für die Gesellschaft von Vorteil sein könne. "Eine demokratische Gesellschaft hat natürlich viele Probleme", kommentiert er. "Doch wenn mehr Menschen Christen wären, wäre das gut für die Gesellschaft. Die Menschen würden einander mehr lieben. Eine Gesellschaft ohne Religion kann keine gute Demokratie sein."
Unter chinesischen christlichen Rechtsanwälten herrscht in jüngster Zeit die Tendenz, Menschenrechtsfälle unentgeltlich zu übernehmen, weil sie sich durch ihren Glauben dazu berufen fühlen. Als Herr Yu sich im Mai 2006 mit US-Präsident George W. Bush traf, wurde er von zwei chinesischen christlichen Rechtsanwälten begleitet, Wang Yi und Li Baiguang, die sich wie er in den letzten Jahren zum Christentum bekehrt hatten. Herr Yu erläutert, dass dieser Arbeitsbereich ein einzigartiger Aspekt der Kirche sei, der er angehöre, nämlich der Fangcheng, auch als Ark-Kirche in Peking bekannt. "Unsere Kirche", sagt er, "setzt sich für soziale Gleichberechtigung ein"; und dann beschreibt er einige ihrer Sozialdienst-Programme. "Und es hat sich so ergeben, dass wir viele Rechtsanwälte haben, die unentgeltlich Menschen helfen können, die Unrecht erlitten haben, seien sie nun Christen oder nicht."
In jüngster Zeit ist die Verbindung zwischen Christentum und Kapitalismus auch zu einem hart umstrittenen Thema geworden. Einer der profiliertesten Christen, der sich offen dazu bekennt, ist Zhao Xiao, ein junger Ökonom, der nach seiner Promotion jetzt an der Management School der Pekinger Universität für Wissenschaft und Technologie lehrt. Zu Beginn dieses Jahres veröffentlichte er einen elfseitigen Artikel in der chinesischen Ausgabe des Esquire mit der einem Buchtitel entlehnten Schlagzeile "Gott ist mein Generaldirektor". Zhao beginnt mit der zentralen Rolle des christlichen Glaubens in den Vereinigten Staaten und führt dann aus, worin er einige der Vor- und Nachteile der Marktwirtschaft sieht: "Eine Marktwirtschaft hat den großen Vorteil, dass sie die Menschen lehrt, nicht faul zu sein. Doch eine Marktwirtschaft kann die Menschen nicht lehren, nicht zu lügen oder anderen kein Unrecht anzutun. Hierin liegt die Gefahr einer Marktwirtschaft."
Auf Max Webers "Die Protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus" Bezug nehmend führte er kurz aus, wie die Präsenz der Kirche in einer Marktwirtschaft den Menschen helfen kann, einander zu trauen, und wie sie ihnen eine Basis für gegenseitige Achtung geben kann. Ein weiterer Vorteil der Präsenz der Kirche in einer Marktwirtschaft sei der, dass sie "den Weg weisen kann für den Gebrauch von Besitztümern und die Spannungen zwischen Armen und Reichen verringern kann", indem sie die Abgabe des Zehnten fördere und Wohltätigkeitsarbeit unterstütze. Schließlich charakterisiert er kurz einige erfolgreiche christliche Geschäftsleute, darunter Richard Chang, Generaldirektor von Schanghais Semiconductor Manufacturing International Corporation, Shi Dakun, Präsident von Motorola China, und Chan Kei Thong, Gründer und Generaldirektor von Leadership Development International, ein christlich orientiertes Trainings-Unternehmen mit Hauptsitz in Atlanta und einer Reihe von Ausbildungs-und Management-Trainings-Instituten in China.
Ein Nebeneffekt der Tätigkeit christlicher Kapitalisten in China ist der, dass arbeitssuchende Bauern, die in die Städte abwandern, manchmal auf ihrem Weg zu Gott finden. Wenzhou, eine berühmte Industriestadt in der Provinz Zhejiang mit einem großen und aktiven christlichen Bevölkerungsanteil hat das Evangelium im Zuge der Ausdehnung ihres Handels verbreitet. Christliche Fabrikbesitzer geben ihren Arbeitern oft sonntags und an kirchlichen Feiertagen frei, eine Praxis, die im Gegensatz zu den rund-um-die- Uhr Schichten an sieben Tagen die Woche vieler Konkurrenten steht.
Die verschiedenen Generationen in China erfahren das Christentum auf jeweils eigene Weise. Die Beschäftigung mit religiösen Fragen verbinden junge Menschen in den Zwanzigern mit der Freiheit, die ein Eintritt ins College eröffnet. "Auf der höheren Schule lernt man den ganzen Tag, doch an der Universität hat man mehr Freiheit, trifft mehr Leute", sagt eine 21-jährige Medizinstudentin am Zentrum für Gesundheitswissenschaft der Universität Peking. Auch sie hatte gebeten, nicht namentlich genannt zu werden. Für sie war es das soziale Leben, das sie zur Kirche führte. Doch für andere ist es das intellektuelle Leben an der Universität, das sie dazu bringt, sich mit Religion zu befassen. "Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich Zeit zu lesen", erinnert sich ein freiberuflicher Journalist an seine Zeit an der Universität für Kommunikationstechnik in Peking, in der er zum Christentum bekehrt wurde.
Ein Absolvent der Tsinghua Universität erläutert, dass das Christentum für ihn zu einem Ausdruck von intellektueller Freiheit wurde. Studenten, die das Schulsystem meistern und denen es dann gelingt, an die Universität zu kommen, mussten ihr ganzes Leben lang ideologische Hürden nehmen, um ihr Ziel zu erreichen, fährt er fort. Der Kommunistischen Partei beizutreten, sei ein Schritt auf diesem konventionellen Pfad, selbst für die, die mit der Ideologie nicht einverstanden seien. Wer vor der Entscheidung für den christlichen Glauben stehe, zeige damit eventuell auch ein Stück persönlicher Rebellion.
Hochschulabsolventen aller Glaubensrichtungen sehen in der Offenheit für religiöses Experimentieren ein Merkmal ihrer Generation. "Es ist leichter für meine Generation, einen neuen Glauben anzunehmen, weil unsere Welt sich so stark verändert, vor allem im Vergleich zur Generation unserer Eltern", sagt Raymond, der ein Gespräch mit uns anfing, während er in der Abteilung Religion in einem Buchladen in der Nähe der Tsinghua Universität herumstöberte.
Seit China sich in den 1980er Jahren zu öffnen begann, ist die Zahl der Intellektuellen, die für einen Teil ihrer Ausbildung ins Ausland reisen, ständig gewachsen. In der Zeit, in der sich die Studenten der fremden Umgebung anpassen, werden viele von ihnen eingeladen, mit in die Kirche zu gehen, wo sie auf freundliche Gesichter und Gemeinschaftssinn stoßen. "Heute sind viele der Chinesen, die im Ausland leben, vor allem in Nordamerika, Christen", sagt Lie, der Autor aus Peking. Außerdem seien viele dieser Menschen, die sich im Ausland zum Christentum bekehrt hätten, in den letzten Jahren nach China zurückgekommen.
Doch noch sehen sich christliche Studenten an den Universitäten in China harten Herausforderungen ausgesetzt. Bibelarbeiten und gottesdienstliche Feiern unterliegen in vielen Universitäten starken Beschränkungen; und so behalten christliche Studenten oft ihren Glauben für sich aus Angst vor Anschuldigungen. "Es wäre schlecht, wenn die Professoren wüssten, dass ich Christin bin", sagt die Medizinstudentin an der Universität Peking. Gebeten, das ein wenig zu erläutern, wird sie verlegen und gesteht, dass sie kürzlich der Kommunistischen Partei beigetreten sei, die ihren Mitgliedern verbietet, an irgendeine religiöse Lehre zu glauben.
Ihre Mitgliedschaft in der Kommunistischen Partei, so erklärt sie uns, sei nur ein Schritt auf dem Weg zu dem Leben, das Gott für sie wolle. "Ich lebe in China, und ich möchte eine gute Stellung im Leben haben: so ist es das Beste, Parteimitglied zu werden." Sie verweist auf das Buch The Purpose Driven Life von Rick Warren, das in den Vereinigten Staaten weit verbreitet ist. "Der Zweck, den Gott für mich bestimmt hat, ist es, das Leiden anderer zu lindern und sie zu heilen." Und Parteimitglied zu werden, ist ein Schritt auf diesem Weg.
Man trifft nicht selten auf Christen, die auch Parteimitglieder sind; und viele Menschen in Peking erklären die Tendenz unter Intellektuellen, sich zum Christentum zu bekehren, mit der Enttäuschung über den Kommunismus. Der 85-jährige Pastor in Peking sagt, dass die Zweifel am Kommunismus begannen, als die Leute ins Ausland reisen durften. Das typischste Beispiel, sagt er, ist Yuan Zhiming. Er und andere wie er widmeten sich dem Studium des Kommunismus, bis es ihnen zum Halse heraushing. Yuan promovierte über das Denken von Marx und Engels, wurde Universitätsprofessor und lehrte das Denken von Marx und Engels. Doch als er und andere in die USA kamen, sahen sie, dass das alles so nicht stimmte. Sie suchten nach der Wahrheit und entdeckten, dass sie hinters Licht geführt worden waren. Einem Glauben anzuhängen, könnte nützlich sein, war ihre Schlussfolgerung.
Yuan Zhiming wurde Christ, nachdem er wegen seiner Rolle bei den Demonstrationen auf dem Platz des Himmlischen Friedens in die Vereinigten Staaten ausgewiesen worden war. Er hat berühmte Dokumentarfilme gedreht, darunter River Elegy (1988), der nahelegt, sich anderen Kulturen zu öffnen, und The Cross (2003), ein Film, der sich mit den Untergrundkirchen in China befasst.
Andere führen die Enttäuschung über die Demokratiebewegung als Erklärung dafür an, dass sie zum Glauben gekommen sind. Herr Yu meint, dass die jüngste Tendenz unter Intellektuellen, sich zum Christentum zu bekehren, von den Fehlschlägen der Tiananmen-Demokratiebewegung 1989 herkomme. "Als die Bewegung im Juni 1989 unterdrückt wurde und ihre Anführer zerstreut waren und im Exil lebten", so erklärt Herr Yu, "begannen die Anführer der Tiananmen-Bewegung sich zu fragen, ob sie nicht noch etwas darüber hinaus brauchten einen religiösen Glauben. So bekehrten sich viele zum christlichen Glauben." Er listet die Anführer von Tiananmen auf, die seitdem Christen geworden sind. Fünf oder sechs von ihnen sind heute Christen, was eine ganze Menge ist, wenn man bedenkt, dass es insgesamt etwa 30 waren. Und er fährt fort: "Als diese jungen Leute (die im Ausland waren) Christen wurden, begannen die jungen Intellektuellen, die noch in China waren, aufzuhorchen. Zu dieser Zeit waren viele von ihnen ohne Hoffnung."
Diese Tendenz unter Demokratieanhängern, die sich zum Christentum bekehrt haben, wirft ein Licht auf die unbequeme Verbindung von Religion und politischem Handeln. Unbequem, weil es tiefgreifende Meinungsverschiedenheiten im christlichen Lager gibt zwischen denen, die im Christentum einen notwendigen Hintergrund für eine zukünftige demokratische Gesellschaft sehen, und denen, die sich energisch gegen eine solche Verbindung wenden.
Wenn man Menschen in China direkt nach den politischen Auswirkungen ihres christlichen Glaubens fragt, dann antworten die meisten, dass es keine gäbe. Die Politik ist sehr, sehr weit entfernt vom Durchschnittschristen, meint der freiberufliche christliche Schriftsteller. Dem Kaiser geben, was des Kaisers ist, sagt er mit den Worten Jesu, als man ihn fragt, ob Christen nicht-christlichen politischen Führern gehorchen sollen.
Herr Yu sagt, dass die Beziehung zwischen Christentum und Demokratie in seiner Kirche eine Frage gewesen sei, an der die Geister sich geschieden hätten. "Für mich ist es klar. Zunächst bin ich Christ, dann bin ich Schriftsteller. Ich bin kein Politiker. Mir ist es gleich, ob China eine Demokratie wird. Ich bin ein Intellektueller, und so kritisiere ich die Gesellschaft. Doch ich habe kein heimliches Programm."
Zweihundertsiebzig Kilometer vom Geburtsort von Mao Zedong entfernt, beschreibt Tan Chuanto mit glänzenden Augen ihre Erfahrung des nahen Todes, die sie dazu führte, für zwei Jahre ein Seminar zu besuchen. "Als sie mich im achten Stock des Krankenhauses operierten, hörte ich unablässig dieses Lied, das mir nicht aus dem Kopf ging. Es war das Kirchenlied Nr. 250"; und dann beginnt sie, es zu singen. "Ich hatte dieses Lied nie zuvor gehört, aber es ging mir dauernd durch den Kopf. Dann brachte ich es später der Gemeinde bei."
Mit ihrer saftig-grünen Mao-Jacke, ihrer aufrechten Haltung und der Leidenschaft in ihren Gesichtszügen hätte Frau Tan eine Darstellerin in einem Propagandafilm sein können, wäre da nicht die Tatsache gewesen, dass sie ein Kirchenlied sang. Wir befinden uns in der verschlafenen Ortschaft Xinqiao in der nördlichen Provinz Hunan, wo Frau Tan als Ehefrau des örtlichen Parteisekretärs lebt. Um uns sind Gärten mit Laubbäumen und Reisfeldern, die während des Winters brach liegen. Mit zwei gepflasterten Straßen und einem zweistöckigen Schulgebäude ist Xinqiaozhen gut dran im Vergleich zu einem Großteil der ländlichen Gebiete. Noch eindrucksvoller aber ist die brandneue Dorfkirche, die gerade erst im April mit Hilfe von Spenden einer Gemeinde in den USA fertiggestellt worden ist.
Die Provinz Hunan ist wohl eher bekannt durch Maos Geburtsort Shaoshan, und nicht gerade als ein Pflanzgarten des Christentums. Diese Ehre gebührt Provinzen wie Henan, Zhejiang, Hubei und Anhui. Doch Frau Tan sagt, dass alle Gemeinden in diesem Gebiet wachsen. Das Christentum, erklärt sie, habe sich sehr schnell in ihrem Heimatort Xinqiao ausgebreitet, der heute vier offizielle Kirchen und zwei Hauskirchen hat mit etwa 1000 Christen bei einer Bevölkerung von 90.000 Einwohnern. Die meisten Christen hier sind Frauen, ein Trend, der für ganz China gilt, doch vor allem für die ländlichen Gebiete. In der nahe gelegenen Stadt Zhangjiajie ist die Trennung zwischen den Geschlechtern in dieser Beziehung sehr krass. Die Kirche der Stadt, ein stattlicher pink- und cremefarbiger Steinbau, der 1905 von einem finnischen Missionar errichtet worden war, fasst etwa 600 Personen. Doch selbst wenn die Kirchenbänke am Sonntagmorgen übervoll sind, sieht man doch nur eine Handvoll Männer. Darüber hinaus nähert sich das Durchschnittsalter der Gemeindeglieder der 70er Marke. Die Zusammensetzung dieser Gemeinde ist nicht ungewöhnlich in den ländlichen Gebieten; doch sie steht in starkem Gegensatz zu den städtischen Gemeinden, in denen ein ausgewogeneres Verhältnis zwischen Männern und Frauen, Alten und Jungen besteht. Diese demographische Unterscheidung indes trägt zu einer tiefgreifenden ideologischen Spaltung zwischen ländlichen und städtischen Gemeinden in China bei.
Christen in der Stadt mögen die Stirn runzeln oder seufzen, wenn sie von den Erfahrungen hören, die Frau Tan beschreibt, Erfahrungen, die sie als übertrieben emotional oder abergläubisch empfinden. Herr Yu fasst einige der ideologischen Unterschiede zusammen: "Der Glaube an Christus sollte einen Ausgleich schaffen zwischen Vernunft und Emotion. Doch auf dem Land neigt er mehr zur emotionalen Seite. Sonntags kommt es vor, dass die Gottesdienstbesucher laut schreien oder weinen. Manchmal geht das zu weit. Sie meinen, sie brauchten nicht ins Krankenhaus zu gehen, um geheilt zu werden wie bei Falun Gong. Das beunruhigt mich wirklich."
Doch ob man es mag oder nicht die Städter leugnen nicht, dass der derzeitige Aufschwung des Christentums in den Städten weitgehend den starken ländlichen Wurzeln der Religion zu verdanken ist. Mit wenigen Ausnahmen hatten Christen, denen ich in Peking begegnet bin, einen Verwandten oder zwei auf dem Lande, die vor ihnen bekehrt worden waren. Ein Beispiel dafür ist der Dissident aus Peking, der kürzlich zum christlichen Glauben bekehrt wurde. Fast alle aus seiner Familie, die auf dem Lande, in der Provinz Henan, leben, sind Christen. Doch er zögert ein wenig, wenn man ihn fragt, ob sein Glaube der gleiche sei wie der seiner Verwandten. "Es gibt einen großen Unterschied in der Art und Weise, wie der Sonntagsgottesdienst gefeiert wird, doch nicht in den grundlegenden Glaubensüberzeugungen." Ein Student in Peking meint, wenn man eine Großmutter zu Hause hat, die Christin ist und mit einem über Dinge wie diese sprechen kann, dann ist es sehr viel wahrscheinlicher, dass man sich auch mit dem Christentum beschäftigt, wenn man im College ist. Und der 85-jährige Pastor sagt, dass jeder echte Missionar, den er kenne, einen armen, ländlichen Hintergrund habe.
Was bedeutet nun dieser demographische Wandel hin zur Stadt für die Zukunft des Christentums in China? Viele Menschen in Peking sind optimistisch und glauben, dass die Präsenz von mehr, gebildeteren Christen in China den Weg ebnen würde für eine größere religiöse Freiheit in der Zukunft. "Wir sind nicht weit entfernt von einer Ära religiöser Freiheit in China", meint ein christlicher Intellektueller, als wir in einer Pagode auf dem Campus der Universität Peking zusammensitzen. "Früher hatten die Bauern eine raue, ungehobelte Art, ihren Glauben auszudrücken. Doch heute gibt es mehr gebildete Christen; da wird es leichter sein, mehr Freiheit zu haben."
Dies mag eine grobe Vereinfachung sein, doch ich habe noch andere getroffen, die das in erstaunlicher Weise bestätigen. Einige Tage später und tausend Kilometer entfernt teile ich ein Schlafwagenabteil mit drei Parteifunktionären mittleren Alters aus verschiedenen Teilen der Provinz Hunan. Um das Eis zu brechen, fragten sie mich ziemlich ernst nach meiner Meinung über den Vorsitzenden Mao. Als ich ihnen erzählte, dass ich an einem Artikel über das Christentum arbeite, bezeugten sie fast Unterstützung. "Wenn man Parteimitglied ist wie wir, dann kann man an keine andere Religion glauben, weil der Kommunismus unsere Religion ist", sagte Herr Peng, ein kahlköpfiger 33-jähriger Rektor einer höheren Schule. "Doch Religion ist durchaus recht für Nicht-Parteimitglieder." In seiner Stadt sei gerade eine kleine Kirche gebaut worden, fügte er hinzu und bot an, mich einigen Christen in seiner Stadt vorzustellen, wenn ich einmal vorbei käme. Die drei erklärten mir einer nach dem anderen, dass Religion wirklich eine gute Sache sein könnte, weil sie das Motto von Präsident Hu Jintao aufnehmend dazu beitragen könne, eine harmonischere Gesellschaft aufzubauen.
aus: der überblick 03/2007, Seite 104
AUTOR(EN):
Leslie Hook
Leslie Hook hat kürzlich ihr Examen an der Universität Princeton
bestanden und ist "Princeton in Asia fellow" bei der
Zeitschrift "Far Eastern Economic Review" in Hongkong.
Ein längerer Artikel zu diesem Thema von Leslie
Hook ist in der Dezemberausgabe 2006 der "Far Eastern
Economic Review" (Bd. 169, Nr. 10) erschienen.