Der Drache schärft die Klauen. China ist zum weltgrößten Rüstungsimporteur aufgestiegen
Die Volksrepublik China hat in den vergangenen Jahren ihren Verteidigungshaushalt stark erhöht. Zum Teil werden die Streitkräfte damit für den Verlust ihrer Wirtschaftsunternehmen entschädigt, die sie 1998 abgeben mussten, und der Sold wird erhöht, um den Offiziersberuf attraktiver zu machen. Dennoch nimmt die militärische Schlagkraft Chinas zu - nicht zuletzt durch den Import von moderner Waffentechnik, vor allem aus Russland. Zwar können Chinas Streitkräfte bisher weder Taiwan besetzen noch hoffen, den USA Paroli bieten zu können. Aber seine Nachbarn haben Grund, China als mögliche Bedrohung wahrzunehmen.
von Frank Umbach
Die Volksrepublik China hat im Laufe der vergangenen 25 Jahre einen fundamentalen wirtschaftlichen Transformationsprozess durchlaufen. Das chinesische Bruttosozialprodukt wurde mehr als verdreifacht und die Wirtschaft erheblich modernisiert. China könnte eine der führenden Wirtschaftsnationen im 21. Jahrhundert werden - allerdings nur, wenn es sich erfolgreich in die internationalen Strukturen und Regelwerke eingliedert, insbesondere in die Welthandelsorganisation (WTO), und zugleich die politische Stabilität im Inneren sowie in seinem regionalen Umfeld bewahrt.
Der wirtschaftliche Aufschwung hat vor allem in den neunziger Jahren auch die Basis für eine Modernisierung der Streitkräfte gelegt, die inzwischen zu einem zunehmend selbstbewussten, zuweilen auch militanten Auftreten Chinas in der Außenpolitik beigetragen hat. Als am 1. April 2001 ein amerikanisches Aufklärungsflugzeug über dem Südchinesischen Meer mit einem chinesischen Jagdflugzeug kollidierte und auf der chinesischen Insel Hainan notlanden musste, wurde die Besatzung entgegen völkerrechtlichen Regeln zunächst festgehalten, ohne Kontakt zur US-Botschaft in Peking aufnehmen zu können. Der Vorfall bestätigte auch, dass sich China zunehmend von einer klassischen Kontinentalmacht hin zu einer echten See- und Luftmacht orientiert. Dies ist bereits seit einem Jahrzehnt in den Rüstungsanstrengungen der Volksbefreiungsarmee (VBA) zu erkennen.
Der Konflikt signalisierte zugleich das ambivalente und oft überhöhte chinesische Souveränitätsverständnis. Es zeigt sich vor allem am Streben nach einer baldigen Wiedervereinigung mit Taiwan unter Pekinger Führung - gegen den mehrheitlichen Willen der taiwanischen Bevölkerung - und an Chinas umstrittenen Ansprüchen auf fast 90 Prozent des Südchinesischen Meeres, einschließlich der Kontrolle über die internationalen Schifffahrtsrouten und den darüber befindlichen Luftraum. China erscheint deshalb vielen seiner asiatischen Nachbarstaaten, Teilen der russischen politischen Elite und vor allem in den USA als ein janusköpfiger Drache: Auf der einen Seite bemüht sich Peking um freien Handel und internationale Kooperation, auf der anderen Seite verhält es sich zuweilen auftrumpfend wie eine zu spät gekommene Großmacht und ein regionaler Hegemon.
Das macht es westlichen Staaten sehr schwer, die chinesische Politik zu bewerten, zumal auch die komplizierte innenpolitische Situation in China zu berücksichtigen ist. Im Inneren ist das Land vielfach gespalten. Die wirtschaftliche Transformation geht mit zunehmender sozialer Ungleichheit einher, und das hat bereits zu sozialen und politischen Spannungen geführt - auch zwischen unterschiedlichen Regionen. Zudem ist laut westlichen Chinaexperten der politische Einfluss der militärischen Elite der VBA in den neunziger Jahren in dem Maße gewachsen, wie die kommunistische Ideologie erodierte und ein politisch-ideologisches Vakuum entstand, welches zum Teil durch einen neuen chinesischen Nationalismus gefüllt wurde.
Laut Bedrohungsszenarien hat China begonnen, das von den USA hinterlassene Machtvakuum in Asien auszufüllen. Die USA haben dort in den neunziger Jahren ihr politisches und militärisches Engagement vermindert; ihre Militärbasen auf den Philippinen wurden 1992 geschlossen. Die Pekinger Führung nutzte militärische Mittel zur Durchsetzung politischer Ziele - etwa 1988 bei der Versenkung von zwei vietnamesischen Schiffen nach der Inbesitznahme von sechs Spratly-Inseln, Anfang 1995 mit der Errichtung einer militärischen Infrastruktur auf dem Mischief Reef und bei der Kanonenboot- und Raketendiplomatie während der Taiwankrise 1995/96. Die Nachbarstaaten betrachten China daher nicht länger als eine dem Status quo verpflichtete Macht. Vor diesem Hintergrund kommt der Analyse der chinesischen Streitkräfte, der rüstungspolitischen Strategien und der Bereitschaft Pekings zu Rüstungskontroll- und Abrüstungsschritten eine Schlüsselrolle für das Verständnis der Sicherheitslage in Ost-, Süd- und Zentralasien zu.
China hat in den letzten Jahren der weiteren Modernisierung seiner Streitkräfte hohe Priorität eingeräumt. Seit nunmehr 14 Jahren ist der Verteidigungshaushalt stets zweistellig gewachsen. Im Jahr 2001 ist die VR China mit Waffenimporten von mehr als 3 Milliarden US-Dollar zum größten Rüstungsimporteur der Welt aufgestiegen. Hierbei sind aber noch nicht die zahlreichen Güter berücksichtigt, die aus dem Ausland importiert und sowohl zivil als auch militärisch genutzt werden können (dual use). Demnach dürften die tatsächlichen Rüstungsimporte noch sehr viel größer sein. So kam eine neuere Untersuchung eines unabhängigen amerikanischen Forschungsprojektes zum Ergebnis, dass in den neunziger Jahren derartige Dual-Use-Technologien und -Produkte im Wert von nicht weniger als 15 Milliarden US-Dollar nach China exportiert wurden und dort vor allem der Modernisierung der chinesischen Streitkräfte zugute kamen.
Gleichzeitig versichert Peking jedoch, China stelle keine Gefahr für andere Staaten dar und werde sich nicht am Wettrüsten beteiligen. Aber die Streitkräfte Chinas verstehen sich traditionell als der eigentliche Beschützer der staatlichen Souveränität - als die treibende Kraft bei der Wiedervereinigung Chinas, die den Zusammenhalt des Landes bewahrt, separatische Tendenzen in Taiwan, Tibet, der Provinz Innere Mongolei, der Mandschurei und in Grenzregionen im Keim erstickt und die territorialen Ansprüche im Ost- und Südchinesischen Meer gegen andere Staaten verteidigt. Berücksichtigt man zudem die bis heute große wirtschaftliche Bedeutung des chinesischen Militärs - es besaß 1998, dem Jahr der offiziellen Auflösung des Wirtschaftsimperium der VBA, rund 20.000 Firmen mit einem jährlichen Umsatz von mindestens 4 Milliarden Euro -, so wird die innen- und außenpolitische Rolle der chinesischen Streitkräfte für die zukünftige Politik des "Reichs der Mitte" verständlich.
Die ambivalente Politik Pekings hat während der neunziger Jahre zu einer beschleunigten Rüstungskonkurrenz in Ostasien wesentlich beigetragen (ein Rüstungswettlauf in der ganzen Region ist laut den meisten Experten noch nicht im Gang). Außerdem hat sie Unsicherheit über die zukünftige Stabilität und Friedenswahrung in der asiatisch-pazifischen Region erzeugt. Zumindest bilaterale Rüstungswettläufe können sowohl im Verhältnis der VR China zu Taiwan als auch zwischen Peking und Tokio ausgemacht werden.
Die chinesischen Streitkräfte sind zwar noch keine militärische Groß- oder gar Supermacht, welche mittelfristig die USA herausfordern könnten, aber inzwischen auch nicht mehr "das größte militärische Museum" für veraltete Waffensysteme. Eine realistische Einschätzung der derzeitigen militärischen Fähigkeiten der Volksbefreiungsarmee muss sowohl die Modernisierungsanstrengungen der letzten zehn Jahre berücksichtigen als auch die zahlreichen Militärreformen und die Einbettung der neuen Waffensysteme in die Militär- und Verteidigungsplanungen. Militärische Fähigkeiten sind jedoch nicht nur das Resultat neuer Waffensysteme. Wie die VR China jedoch in 15 bis 20 Jahren politisch aussehen und auftreten wird, ist heute höchst ungewiss.
Zudem hängen die Optionen der chinesischen Streitkräfte nicht allein von diesen selbst ab, sondern auch von den militärischen Fähigkeiten der Nachbarstaaten Chinas sowie von den USA. Daher muss auch das regionale militärische Gleichgewicht in Nord- und Südostasien für mögliche Optionen der VR China berücksichtigt werden. Aus Sicht der USA und der asiatischen Staaten einschließlich der VR China wird die regionale Stabilität vor allem von folgenden potenziellen Konflikten abhängen: vom Taiwan-Konflikt; von den ungelösten Territorialkonflikten im Südchinesischen Meer; von der Politik Chinas bezüglich der Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen, Trägersystemen und Dual-Use-Technologien; sowie von Chinas Streit mit den USA über deren Pläne, einen Raketenabwehrschirm in Kooperation mit Japan und Taiwan aufzubauen.
In welchem Zustand sind die chinesischen Streitkräfte zu Beginn des 21. Jahrhunderts? Unter Präsident Jiang Zemin ist deren Modernisierung in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre wesentlich beschleunigt worden. Dazu gehörte eine weitere Reduzierung um 500.000 Mann auf 2,6 Millionen Soldaten im Zeitraum von 1997 bis 2000. Zudem hatten die militärische Ausbildung und das Training der Streitkräfte sowie die Moral und die Einsatzbereitschaft unter der Wirtschaftstätigkeit der Armee gelitten. Daher hat der chinesische Generalstab seit 1992 Reformen auch am Trainings- und Übungsprogramm der Streitkräfte vorgenommen. Der Zusammenarbeit der Teilstreitkräfte und Waffengattungen wird nun mehr Aufmerksamkeit geschenkt. Westliche Analytiker machen in den letzten beiden Jahren einen deutlichen Fortschritt bei Teilstreitkräfte übergreifenden Manövern aus, auch wenn diese noch nicht mit US-amerikanischen oder NATO-Manövern verglichen werden können.
Die Wirtschafts- und Finanzkrise in Asien ab 1997 hat zu einschneidenden Kürzungen der Verteidigungshaushalte zahlreicher ostasiatischer Staaten geführt und das Gefühl der Bedrohung aufseiten der südostasiatischen Staaten eher noch gestärkt, da Chinas Wirtschaft und militärische Aufrüstung von der Krise kaum betroffen waren. Stattdessen hat China seinen Verteidigungshaushalt in den letzten beiden Jahren um insgesamt 35 Prozent erhöht. Offiziell beziffert ihn Peking auf umgerechnet etwa 20 Milliarden US-Dollar und erklärt dazu stets, dies liege deutlich unter dem amerikanischen Verteidigungshaushalt von derzeit 379 Milliarden US-Dollar und auch unter den Militärhaushalten Japans, Indiens oder europäischer NATO-Staaten wie Deutschlands und Frankreichs. Dies ist jedoch nicht glaubhaft. Denn erhebliche verteidigungsrelevante Ausgaben, die nach UN- oder NATO-Kriterien im Verteidigungshaushalt auftauchen müssten, sind anderswo versteckt. Westliche und asiatische Militärexperten beziffern die tatsächlichen Kosten der chinesischen Streitkräfte auf das Drei- bis Fünffache des offiziellen Militärhaushalts. Von chinesischer Seite wird vereinzelt bestätigt, dass im offiziellen Verteidigungsbudget keine Pensionen und nur ein Teil der Forschungs- und Entwicklungsausgaben für Rüstungstechnologie sowie der Rüstungsproduktion enthalten sind. Demnach dürften die tatsächlichen Verteidigungsausgaben der VR China heute bei etwa 50 bis 60 Milliarden US-Dollar liegen und übertreffen damit deutlich auch jene Japans (40,4 Milliarden US-Dollar), die bis zum Jahr 2000 nominal die zweithöchsten Verteidigungsausgaben der Welt waren.
Damit scheint der Verteidigungshaushalt in den letzten Jahren - auch unter Berücksichtigung der Inflationsrate - schneller zu wachsen als das Sozialprodukt und der Staatshaushalt. Die wirtschaftliche Belastung durch die Verteidigungsausgaben steigt also tendenziell, zumal das Haushaltsdefizit dieses Jahr auf eine neue Rekordhöhe gestiegen ist.
Allerdings ist ein Teil des Anstiegs darauf zurückzuführen, dass die Streitkräfte während der letzten Jahre für den Verlust ihrer profitablen Wirtschaftsunternehmen entschädigt wurden. Deren Schließung wurde am 22. Juli 1998 offiziell verkündet; sie war innenpolitisch und in den Streitkräften umstritten. Darüber hinaus wurde der Sold vor allem der Offiziere mehrfach angehoben, weil die VBA große Rekrutierungsprobleme hat: Kaum ein Universitätsabgänger entscheidet sich für die Offizierslaufbahn, zumal der Sold ein Bruchteil dessen ausmacht, was die meisten von ihnen in der boomenden Wirtschaft verdienen können. Ein Oberst der VBA verdient umgerechet weniger als 350 US-Dollar, ein einfacher Soldat weniger als 100 US-Dollar im Monat.
Aus Sicht vieler Offiziere der unteren und mittleren Ränge ist die Erhöhung des Verteidigungshaushaltes als Kompensation für die Schließung der Armee-Unternehmen jedoch völlig ungenügend, zumal der Wert der Betriebe selbst offiziell auf etwa 9,7 Milliarden US-Dollar geschätzt wird, tatsächlich aber um ein Vielfaches höher lag. Die VBA hatte kein Interesse daran, die Profite aus ihrem Wirtschaftsimperium offen zu legen, und bezifferte sie mit 3,5 Milliarden Renminbi (rund 425.000 US-Dollar) künstlich niedrig. Westliche Expertenschätzungen gingen vom Zehnfachen dieser Summe aus. Tatsächlich sind aber noch 2001 keineswegs alle Wirtschaftstätigkeiten der Streitkräfte beendet worden, zumal die Militärführung weitgehend selbst über die Schließung ihrer jeweiligen Unternehmen entscheidet.
Sollen zudem die Wirtschaftsreformen weiter vorangetrieben werden, so könnte es zunehmend zu einem Wettlauf um Macht und Ressourcen zwischen Partei und Militärelite und zu größeren Interessengegensätzen zwischen ihnen kommen ("Butter oder Kanonen?"). Daher steht zu befürchten, dass das Militär nicht nur auf eine noch kräftigere Erhöhung des Verteidigungshaushaltes drängen wird, wie dies auch bei den jüngsten Haushaltsberatungen im chinesischen Volkskongress beobachtet werden konnte, sondern auch auf die Wahrung aller "lebenswichtigen Sicherheitsinteressen Chinas", wie die Führung der Volksbefreiungsarmee sie versteht. Sie zählt dazu namentlich die Vereinigung mit Taiwan und die Ansprüche im Südchinesischen Meer.
Der zunehmende Waffen- und Technologieimport Chinas spiegelt die strukturellen und technologischen Schwierigkeiten der chinesischen Rüstungsindustrie wider. Nur mit Hilfe westlicher und anderer internationaler Rüstungsfirmen scheint es möglich, die klaffende Lücke zwischen moderner westlicher Militärtechnologie - damit auch gegenüber Taiwan, Japan und einigen südostasiatischen Staaten - und der rückständigen Technik Chinas zu schließen. Die blutigen Ereignisse auf dem Platz des Himmlischen Friedens vom Juni 1989 haben diese Rüstungsanstrengungen Chinas aber zunächst behindert. Peking versuchte in der Folge, so schnell wie möglich eine Lockerung des westlichen Verbots für Waffen- und Technologieexporte nach China zu erreichen. In der ersten Hälfte der neunziger Jahre galten vor allem die EU und besonders Frankreich als Zielscheibe chinesischer Einflussnahme, um Exportverbote anderer Staaten aufzuheben.
Da der Import westlicher Rüstungs- und Dual-use-Technologien jedoch aufgrund der eher restriktiven Rüstungsexportpolitik der EU-Staaten gegenüber China begrenzt blieb, war Peking gezwungen, die frühere Rüstungszusammenarbeit mit Russland wieder aufzunehmen. Für Russland war der Export von Hochtechnologie zu einer Frage des Überlebens für die eigene Rüstungsindustrie geworden. Daher war Russland schließlich seit 1992 trotz kontroverser innenpolitischer Debatten wiederholt bereit, modernste Militärtechnologie an den traditionellen Erzfeind China zu verkaufen, darunter Kampfflugzeuge, Kriegsschiffe, U-Boote, Marschflugkörper und Raketen. Spektakulär war unter anderem der Kauf von zwei hochmodernen Flugkörperzerstörern, die mit jeweils acht Marschflugkörpern von 120 km Reichweite ausgerüstet sind und
allein 8 bis 10 Milliarden Mark gekostet haben sollen. Beide Seiten sollen im Jahr 2000 einen militär-technologischen Kooperationsvertrag im Rahmen des nächsten Fünfjahres-Verteidigungsplans Chinas (für die Jahre 2001 bis 2005) über 20 Milliarden US-Dollar abgeschlossen haben; das könnte eine erhebliche Steigerung des russischen Rüstungsexports und Technologietransfers zur Folge haben.
Die Flugkörperzerstörer schaffen mit ihren Marschflugkörpern eine Bedrohung für die US-Flugzeugträger und AEGIS-Zerstörer. Der Kauf moderner russischer Kampfflugzeuge mit einer Reichweite von 1600 km und einer Luftbetankungsmöglichkeit ist darauf gerichtet, die strategische Luftüberlegenheit zu erringen, die eine wesentliche Voraussetzung für erfolgreiche Operationen zur See im Südchinesischen Meer oder eine glaubwürdige Invasionsdrohung gegenüber Taiwan bildet. Gegenwärtig besitzt Peking diese Luftüberlegenheit auch gegenüber Taiwan nicht. Es könnte aber bis zum Jahr 2010 oder 2015 über 1000 bis 1350 moderne Kampfflugzeuge sowie eine entsprechende Anzahl von Tankflugzeugen, Luftüberwachungs- und Kommandoflugzeugen und maritimen Patrouillenflugzeugen verfügen. Damit könnte sich das militärische Kräftegleichgewicht insbesondere gegenüber Taiwan und den südostasiatischen Staaten allmählich zu Pekings Gunsten verändern.
Mehr noch als der eigentliche Rüstungsexport nach China ist jedoch der Transfer von russischer Technologie von langfristiger strategischer Bedeutung für Peking. Denn dies könnte für die chinesische Rüstungsindustrie und die Programme der Entwicklung und Produktion eigener Waffensysteme einen erheblichen Schub bedeuten. Nach nicht überprüfbaren Berichten sollen mehrere tausend hoch qualifizierte russische Rüstungstechniker in Chinas Verteidigungsindustrie arbeiten.
Dennoch werden die Diskussionen in Russland über die Aufrüstung des ehemaligen Erzfeindes auch weiterhin einem völlig unbegrenzten Rüstungsexport und Technologietransfer nach China einen Riegel vorschieben. Dies haben bereits die russisch-chinesischen Verhandlungen über den Rüstungsexport während der letzten Jahre gezeigt. Inzwischen hat der russische Präsident Putin den Hightech-Rüstungsexport nach China eingeschränkt und stattdessen eine enge militär-technologische Partnerschaft mit Indien begonnen, die auch die gemeinsame Entwicklung neuer konventioneller Waffensysteme vorsieht. Dagegen ist Moskau nur noch in Ausnahmefällen bereit, sein modernstes Militärgerät an China zu liefern. Modernste Kampfflugzeuge wie die SU-35, einen Flugzeugträger und andere sensible Rüstungstechnologie möchte Peking gern erwerben, bekommt sie aber von Russland nicht geliefert. Da Moskau gegenüber Indien - einem Erzfeind Chinas - keine vergleichbaren Restriktionen anwendet, sondern den Rüstungs- und Technologietransfer über die letzten beiden Jahre sogar ausgebaut hat, ist in den russisch-chinesischen Verhandlungen inzwischen eine Verstimmung Pekings unverkennbar.
Neben Russland spielt vor allem Israel eine wichtige Rolle beim Rüstungs- und Technologietransfer nach China. Dies wird in Washington zunehmend argwöhnisch betrachtet. So musste Israel ein lukratives Geschäft mit China über die Lieferung modernster Luftraumüberwachungs- und Kommandoflugzeuge auf starken Druck Washingtons wieder aufgeben, weil diese Flugzeuge zu einer erheblichen Kampfkraftsteigerung der chinesischen Streitkräfte hätten beitragen können.
Da jedoch die Bedeutung der sogenannten Dual-use-Technologien weiter zugenommen hat, war Peking in den neunziger Jahren wiederholt in der Lage, modernste Technologie sogar aus den USA und Europa zu erwerben: Es gab vor, sie für zivile Zwecke zu verwenden. Dies gilt beispielsweise für Satellitentechnologie, für Flugzeugturbinen, Schiffsantriebe, elektronische Steuerteile und sonstige Mikroelektronik. Heute entwickeln westliche Rüstungsfirmen kaum noch Techniken und Bauteile, die ausschließlich für militärische Zwecke nutzbar sind. Dies ist ein besonderes Problem bei der Luft- und Raumfahrt, aber auch in anderen Hightech-Bereichen. Es erschwert erheblich die internationalen Anstrengungen, den Export von konventionellen Hightech-Waffensystemen und die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen sowie ballistischen Raketen einzudämmen.
Dennoch dürfen die Schwierigkeiten nicht übersehen werden, denen sich China mittelfristig auch weiter gegenübersieht. Es ist abhängig vom Import moderner Rüstungstechnologie aus Russland oder dem Westen, und die Fähigkeiten der eigenen Rüstungsindustrie, aus dem Ausland erworbene moderne Rüstungstechnologie zu beherrschen und für die Entwicklung eigener Waffensysteme und Munition zu nutzen, sind bisher begrenzt. Noch immer mangelt es auch an gut ausgebildeten Soldaten und Offizieren, welche die teuren importierten Waffensysteme angemessen bedienen oder einzelne technisch hochentwickelte Bauteile auf dem Weg der Systemintegration in chinesische Rüstungsprodukte einbinden können.
Chinas Bemühungen um eine Modernisierung des Militärs beruhen letztlich auf außenpolitischen Strategien unilateraler Sicherheit. Das heißt das Land versucht, einseitig und durch Rüstung Sicherheit vor allen angenommenen Bedrohungen seitens anderer Staaten zu schaffen. Solche Strategien führen aber bei diesen anderen Staaten zu zusätzlicher Unsicherheit, da deren Sicherheitsperzeptionen von China kaum berücksichtigt werden. Die Alternative dazu sind Konzepte gemeinsamer Sicherheit wie beispielsweise Verträge über gemeinsame Rüstungsbegrenzungen. Doch diesen stehen vor allem verteidigungspolitische Experten der VBA nach wie vor skeptisch bis ablehnend gegenüber.
Vor diesem Hintergrund überrascht es wenig, dass Peking die Stärkung der Streitkräfte seiner Nachbarstaaten - allen voran Taiwans, Japans und Indiens - scharf kritisiert und wenig Verständnis für deren Sicherheitsbedürfnisse aufbringt. Dies zeigt sich besonders augenfällig bei den gegenwärtigen Debatten in Japan und Taiwan zur Schaffung eines Raketenabwehrsystems, das China mit seinen Raketen und Atomwaffen wesentlich provoziert hat, zumal Japan und Taiwan bisher beide auf die Entwicklung von Atomwaffen verzichtet haben. China hat gegenwärtig etwa 350 Kurz- und Mittelstreckenraketen gegenüber Taiwan in Stellung gebracht, die jährlich um etwa 50 Systeme aufgestockt werden. Hält dieses Aufrüstungstempo weiterhin an, dann werden bis zum Jahr 2005 mehr als 500 Raketen auf Taiwan zielen. Zudem beschleunigt Peking die Entwicklung land- und seegestützter Marschflugkörper, die der VBA schon innerhalb der nächsten Jahre in größerer Anzahl zur Verfügung stehen sollen. Darüber hinaus ist Peking nicht bereit, seine eigene Atom- und Raketenrüstung einzuschränken oder gar einzufrieren. Vor diesem Hintergrund hätte Peking von der indischen Atombewaffnung wenig überrascht sein dürfen. Die hat Indien weniger mit der atomaren Bedrohung aus Pakistan gerechtfertigt als vielmehr mit der aus China. So kann es nicht verwundern, dass sich gerade in den letzten beiden Jahren die strategische Rivalität nicht nur zwischen China und den USA, sondern auch zwischen China und Indien sowie China und Japan weiter verschärft hat.
Auch auf globaler Ebene versucht China, das militärstrategische Gleichgewicht in den nächsten Jahren und Jahrzehnten zu verändern. Peking hat seit Anfang der neunziger Jahre dem Ausbau seiner Kernwaffen Priorität eingeräumt. China verfügt gegenwärtig über 300 strategische Atomsprengköpfe, das heißt solche, die über Entfernungen von mehr als 5000 Kilometer verschossen werden und so andere Atommächte treffen können; von diesen können aber nur 20 die USA erreichen. Außerdem besitzt das Land 150 taktische Sprengköpfe. Doch die Anzahl seiner strategischen Atomsprengköpfe könnte bis zum Jahr 2015 theoretisch auf 600 bis 900 steigen, wenn die Programme zur Entwicklung von Mehrfachsprengköpfen sowie neuen Interkontinentalraketen und Marschflugkörpern abgeschlossen sein werden. China hat große Fortschritte bei der Entwicklung insbesondere landgestützter Marschflugkörper für mittlere und größere Reichweiten gemacht. Sie können sowohl konventionelle als auch atomare Sprengköpfe tragen und sollen in den nächsten Jahren in die Streitkräfte Chinas eingeführt werden.
Die anderen vier anerkannten Kernwaffenstaaten haben die Anzahl ihrer Atomwaffen entweder auf dem jetzigen Stand eingefroren - so Großbritannien und Frankreich - oder sich wie die USA und Russland mit dem START-III-Vertrag verpflichtet, sie auf weniger als 1500 bis 2000 Sprengköpfe abzubauen (START steht für Strategic Arms Reduction Talks, Gespräche über den Abbau strategischer Waffen; Anm. d. Red.). Dagegen ist China bisher von keinem Rüstungskontrollvertrag erfasst und kann so fast ungehindert sein Atomwaffenarsenal ausbauen. Mit einer Erhöhung auf 600 bis 900 Sprengköpfe würde sich das Verhältnis der Sprengkopfanzahl Chinas gegenüber dem Arsenal von Russland und den USA bis spätestens zum Jahr 2010 dramatisch verändern: von 70 zu 1 auf 7 zu 1 gegenüber beiden gemeinsam und auf 3,5 zu 1 gegenüber einer einzelnen der beiden größten Nuklearmächte. Da Russland ab dem Jahr 2007 voraussichtlich nur über etwa 900 Sprengköpfe verfügen wird, ist eine strategische Parität bei den Atomwaffenarsenalen zwischen beiden Staaten nur noch eine Frage der Zeit.
Da China zugleich im Rahmen seiner eigenen flexiblen Abschreckungsdoktrin atomare und konventionelle Kriegführungsoptionen zunehmend miteinander verschränkt, kommt seinen Kernwaffen in regionalen Kriegen unter Hightech-Bedingungen vor allem eine Abschreckungsfunktion zu: Sie sollen äußere Mächte wie die USA von einer militärischen Intervention abschrecken, während China, wenn erforderlich, seine überlegenen konventionellen Streitkräfte zur Durchsetzung politischer Ziele wirkungsvoll einsetzen könnte. Daher hat die Entwicklung des Atomwaffenarsenals Chinas auch für die kleineren Nachbarstaaten eine hohe sicherheitspolitische Bedeutung. China ist weniger daran interessiert, mittelfristig ein wirkliches militärisches Gleichgewicht mit den USA zu erreichen, als daran, wirkungsvolle militärische Abschreckungskapazitäten aufzubauen, um für die USA die Verwundbarkeit und damit die Interventionsschwelle signifikant anzuheben. Hierfür benötigt China keine mit den USA auf globaler Ebene vergleichbaren militärischen Fähigkeiten.
Die Pläne des chinesischen Verteidigungsministeriums, schnelle Eingreiftruppen aufzustellen und Einheiten eines neu geschaffenen Marinekorps auf der Insel Hainan zu stationieren sowie den dafür notwendigen strategischen Lufttransport bereitzustellen, unterstreichen die strategischen Ambitionen der chinesischen Außen- und Sicherheitspolitik in diesem Raum. Aber militärpolitische Absichten dürfen nicht mit militärischen Fähigkeiten gleichgesetzt werden. China besitzt gegenwärtig ebenso wenig die militärischen Fähigkeiten für eine langfristige Besetzung und effektive Kontrolle der Südchinesischen See wie die für eine erfolgreiche Invasion Taiwans.
Die Modernisierungsanstrengungen der chinesischen Streitkräfte sind unverkennbar, und China ist zum weltgrößten Rüstungsimporteur des Jahres 2001 aufgestiegen. Dies wird unweigerlich rüstungspolitische Gegenreaktionen bei seinen asiatischen Nachbarstaaten auslösen - allen voran Japan, Indien und Taiwan - und das amerikanische sicherheitspolitische Engagement in der asiatisch-pazifischen Region sowie die militärische Zusammenarbeit der USA mit Taiwan weiter stärken.
Die chinesische Militärführung hat in den letzten Jahren auch erhebliche Anstrengungen unternommen, die Auswirkungen der globalen "Revolution in militärischen Angelegenheiten" (Revolution of Military Affairs bzw. RMA) detailliert zu untersuchen und daraus Schlüsse für die eigenen zukünftigen Militärreformen zu ziehen. Gleichwohl spricht vieles dafür, dass die USA ihren Vorsprung auf diesem Gebiet gegenüber allen anderen Mächten (einschließlich der europäischen Verbündeten) eher noch ausbauen werden. Sie verfügen nicht nur über die fortgeschrittensten Technologien, sondern auch über die Software und die Fähigkeiten, diese für eine effektive Systemintegration zu nutzen. Gerade darin aber mangelt es den meisten anderen Streitkräften in der Welt, einschließlich jener Chinas. Das Interesse chinesischer Militärexperten an derartigen Formen zukünftiger Kriegsführung beruht allerdings nicht so sehr auf der Erwartung, die USA auf diesem Gebiet besiegen zu können, sondern eher auf der Absicht, die Verwundbarkeit der amerikanischen Streitkräfte drastisch zu erhöhen und auszunutzen, um dann - wenn notwendig - die zahlenmäßige Überlegenheit der eigenen Truppen auszuspielen. Die Abschreckungswirkung der modernisierten Atomwaffen soll dabei Rückendeckung geben.
Die Tendenzen zu solchen "asymmetrischen Kriegführungsstrategien" werden inzwischen von den USA sehr viel ernster genommen als früher, da sie die Risikobereitschaft im Konfliktfall mindern könnten. Die Bereitschaft der USA, einen längeren und verlustreichen Krieg innenpolitisch durchzustehen, galt seit den Ereignissen in Somalia bis zur Intervention im Kosovo 1999 in Ostasien als fragwürdig, da die USA sich weitgehend auf den Einsatz ihrer Luftstreitkräfte stützten und aus Angst vor Opfern unter den eigenen Soldaten vor einem Einsatz ihrer Landstreitkräfte zurückschreckten.
Inwieweit die Ereignisse des 11. September 2001 sowie der Einsatz amerikanischer Spezialkräfte für Bodenoperationen in Asien etwas an der zunehmenden strategischen Rivalität Chinas mit den USA ändern werden, muss abgewartet werden. Doch darf eine gewiss
E Abschreckungswirkung auf Peking und seine eigenen militärischen Optionen unterstellt werden. Das könnte in Verbindung mit der wachsenden gegenseitigen wirtschaftlichen Abhängigkeit zwischen China und den USA sowie China und anderen Staaten langfristig zu einer Stabilisierung der Außenbeziehungen Chinas führen. Bis dahin wird allerdings die Frage nach der politischen Reformfähigkeit und der Zukunft des politischen Systems entscheidend für die weitere Außen- und Verteidigungspolitik Chinas sowie die regionale Stabilität sein. Europa kann und muss durch den Ausbau seiner sicherheitspolitischen Beziehungen und militärpolitischen Kontakte zur VBA sowie durch die Förderung von Transparenz und vertrauensbildenden Maßnahmen seinen Anteil an der regionalen Stabilität in Asien im Zuge der "Globalisierung der Sicherheitspolitik" leisten.
aus: der überblick 02/2002, Seite 76
AUTOR(EN):
Frank Umbach :
Frank Umbach ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Forschungsinstitut der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik in Berlin und unter anderem Autor des Buches "Kooperation oder Konflikt in Asien-Pazifik? Chinas Einbindung in regionale Sicherheitsstrukturen und die Auswirkungen für Europa" (Oldenbourg Verlag, München 2002). Die Analyse ist im Rahmen eines Forschungsprojektes der Fritz-Thyssen-Stiftung entstanden.