Memuna Mansaray ist gerade drei Jahre alt und hat schon entsetzlich viel erlebt. Im Januar 1999 wurde ihr die linke Hand abgehackt, am gleichen Tag wurde ihre Mutter erschossen, auch der Vater ist tot. Damals waren die Kämpfer der Revolutionären Vereinigten Front (RUF) in Freetown einmarschiert und hatten die Stadt in Angst und Schrecken versetzt.
Renate Wilke-Launer
Ein halbes Jahr später steht das kleine Mädchen im Mittelpunkt des nationalen und internationalen Interesses. Die Hauptstadt von Sierra Leone ist inzwischen von nigerianischen Soldaten wieder freigekämpft worden, der 1996 gewählte Präsident, Ahmed Tejan Kabbah, ins Land zurückgekehrt. Man hat ihn überredet, mit der RUF "Frieden" zu schließen, ihre Anführer in die Regierung aufzunehmen. Bei der Zeremonie zur Unterzeichnung des Abkommens im togoischen Lomé hat Kabbah Memuna auf dem Arm. Er streckt das Mädchen den Fernsehkameras entgegen und verkündet der Welt, dass er dieses Abkommen ihr widme.
Doch der Vertrag ist das Papier nicht wert, auf dem er geschrieben wurde - für kaum ein Abkommen paßt dieses geflügelte Wort so wie auf den am 7. Juli 1999 unterzeichneten Friedensplan für Sierra Leone. Tatsächlich handelt es sich eher um eine Kapitulation vor den Plünderern Sierra Leones und eine Sanktionierung der Gewalttaten an seiner Bevölkerung.
Die Architekten dieses hastigen Versuches, zu einem billigen Frieden zu kommen, sind in London und Washington zu Hause. Weil Nigeria unter dem neuen zivilen Präsidenten nicht länger allein die Hauptlast dieser internationalen Intervention tragen und niemand anders sie übernehmen wollte, musste schnell ein Friedensvertrag her. Die alte Kolonialmacht Großbritannien, die schon so viel in die Stärkung der Armee und die Demobilisierung von allerlei Kombattanten gesteckt hatte, war des Konfliktes überdrüssig, und die USA waren an Sierra Leone nicht interessiert, wollten aber nach Clintons feierlicher Abbitte in Ruanda auch nicht so erscheinen, als legten sie im Angesicht des Leides der Menschen in Afrika erneut die Hände in den Schoß. Deshalb durfte Jesse Jackson als Sonderberater Clintons diesen Vertrag durchpauken.
Der schwache und vom Ausland abhängige Präsident Kabbah gab dem Druck nach und unterzeichnete das Abkommen. Das hat ihn bei den Bürgern seines Landes nicht beliebter gemacht. Als Hawa Bansura, eine jener unerschrockenen Streiterinnen für Frieden und eine verantwortliche Regierung, Jesse Jackson darauf aufmerksam macht, wie zutiefst unpopulär die RUF sei, wurde sie arrogant beschieden, dass es Aufgabe von Führungskräften sei, die öffentliche Meinung zu formen, nicht ihr hinterherzulaufen. Kein Wunder, dass Jesse Jackson heute in Freetown als Hauptschuldiger an der gegenwärtigen Misere gilt.
Sierra Leone wurde ein einfaches Rezept verordnet: Vergesst die Vergangenheit und teilt euch die Macht! So ist auch der Vertrag ausgefallen. Nach der Niederschrift der Präambel, so ein bitterer Kommentar aus Freetown, waren den Autoren offenbar die Tinte und die Ideen ausgegangen. "Machtteilung" - das hört sich in Washington und London gut an, in Afrika gibt es aber nur sehr wenige gelungene Beispiele dafür. Und in Sierra Leone war damit die Fortsetzung des Konfliktes programmiert.
Dass die RUF sich - wie in Artikel 3 des Abkommens vorgesehen - in eine politische Partei umwandeln würde und verantwortlich mitregieren könnte, war von Anfang an unwahrscheinlich. Warum soll die RUF für Frieden (= Recht und Ordnung) sein, wenn dessen Abwesenheit doch viel bessere Geschäfte möglich macht? Warum soll sie internationale Truppen im Land dulden, die Waffen einsammeln und mit ihrer Präsenz die Bewegungsfreiheit der eigenen Leute einschränken? Warum soll sich die RUF Wahlen stellen und eine Niederlage riskieren, wenn sie den Leuten mit Gewalt ihren Willen aufzwingen kann? Und was für eine Partei soll aus einer Bewegung entstehen, die ihre Macht darauf stützt, Kinder zu entführen und zum Töten abzurichten? Welches Konzept von Familie und Gemeinschaft soll sie vertreten, wenn es in ihren Reihen tägliche Praxis ist, Mädchen und Frauen zu vergewaltigen und als Sexsklavinnen zu halten?
Aus Banditen kann man nicht mit einem Federstrich Minister machen, aus Killer-Kommandos werden nicht über Nacht gesetzestreue Soldaten oder Sachbearbeiter im örtlichen Parteibüro. Und wer erkennbar aus Habgier handelt, kann nicht als legitimer Vertreter der ländlichen Bevölkerung gehandelt werden. Doch das Abkommen wertete den nach Ansicht vieler Beobachter paranoiden und wegen seiner Verbrechen bereits zum Tode verurteilten Rebellenchef Foday Sankoh auf und stellte ihn auf fast die gleiche Stufe wie den 1996 von der Bevölkerung gewählten Präsidenten. Dass die RUF vom Selbstbestimmungsrecht der Bürger nichts hält, hatte sie schon damals demonstriert: Ihr Kommentar zur Wahl waren abgehackte Hände oder Arme. Die Verstümmelten durften allerdings vorher "wählen", ob es lieber der rechte oder der linke Arm sein sollte.
Während das Abkommen eher von Wunschdenken geprägt war, wurde der den Opfern zugemutete Preis - eine Amnestie für alle Verbrechen der vergangenen Jahre - mit Realpolitik begründet. Nur wenn die Täter nicht befürchten müssten, zur Rechenschaft gezogen zu werden, könne man sie zum Frieden bewegen. Menschenrechtsorganisationen haben von Anfang an gegen die Amnestiebestimmungen protestiert. Hatte man nicht gerade erst, bei der Unterzeichnung des Statuts für den internationalen Strafgerichtshof und im Fall Pinochet, das Ende der "Kultur der Straflosigkeit" beschworen? Am Ende blieb nur ein Vorbehalt (disclaimer) des Sonderbeauftragten des UN-Generalsekretärs, der dem Vertrag hinzufügte, dass sich die vorgesehene Strafverfolgungsfreiheit nicht auf grobe Verletzungen des internationalen humanitären Rechts erstrecken darf.
Überwachen sollten diesen faulen Frieden die Vereinten Nationen. Im Mai 2000 war es dann soweit: Wieder musste die Welt zusehen, wie eine UN-Mission einen unmöglichen Auftrag mit unzureichenden Mitteln erfüllen sollte. Sie sollte einen Frieden sichern, den eine der Vertragsparteien nicht halten wollte. Sie operierte mit zusammengewürfelten, schlecht ausgebildeten und miserabel ausgerüsteten Truppen, die sich nicht einmal selbst verteidigen konnten und sich von Rebellen, die sie eigentlich hätten entwaffnen sollen, die Waffen abnehmen und gefangen setzen ließen. Die UN-Soldaten konnten nicht einmal Verstärkung herbeirufen, weil die nötigen Funkgeräte fehlten.
Auch wenn es vor Ort offenbar Reibereien bis hin zu Befehlsverweigerungen gegeben hat, so liegt das Grundproblem woanders: Die UN werden von den großen und mächtigen Nationen als Feigenblatt benutzt, um den Eindruck zu erwecken, dass man "etwas" tut. Gleichzeitig werden ihnen aber die Mittel verweigert, diese Aufträge erfolgreich auszuführen. Die Truppen der UNAMSIL-Mission in Sierra Leone kommen aus wenigen, vorwiegend afrikanischen Ländern der Dritten Welt. Vier der ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates zeigen mit Militärbeobachtern gerade mal symbolische Präsenz. Die USA boten lediglich an, Bangladeschis nach Sierra Leone zu fliegen. Die finanzschwachen Vereinten Nationen mussten dieses Angebot ablehnen – der geforderte Preis war dreimal so hoch wie der des schließlich gecharterten Flugzeugs. Es sind kleine Details wie dieses und die große Kluft zwischen hehren Worten und tatsächlicher Politik, die den Zynismus gegenüber der internationalen Politik fördern. Auch in Sierra Leone hören die Menschen fleißig BBC.
Jetzt wird hektisch nachgebessert. Großbritannien hat Truppen eingeflogen, offiziell, um Ausländer zu evakuieren. Ihre schlichte Präsenz hat die Lage stabilisiert und den UN- sowie den Regierungstruppen neues Selbstvertrauen gegeben. Viele Menschen setzen ihre Hoffnung in diese Soldaten, die Regierung Kabbah sowieso, aber auch auf den Straßen hört man den Wunsch, dass doch die Briten ein bisschen regieren mögen. Das hat wenig mit kolonialer Nostalgie zu tun, aber viel mit der Verzweiflung über die einheimische Politik. An der Misere des Landes ist ja nicht allein die RUF schuld, alle Präsidenten und Militärherrscher haben kräftig dazu beigetragen.
Und wer nach den Hintermännern der RUF sucht, findet im benachbarten Ausland Männer, die gut vom Reichtum Sierra Leones - den Diamanten - leben und dafür gern Waffen liefern. In erster Linie ist da Liberias Präsident Charles Taylor zu nennen, selbst ein ehemaliger Warlord, der die Menschen seines Landes so drangsaliert hat, dass sie ihn schließlich gewählt haben, damit endlich Ruhe herrscht. Jetzt verfügt Taylor über eine zusätzliche Handelsware - die Souveränität - und lässt sich als Schlüsselfigur im Sierra Leone-Konflikt umwerben.
Noch ist nicht klar erkennbar, wie es weitergehen wird, wer mit welchem Mandat was tun wird. Die UN-Truppen werden derzeit verstärkt, die westafrikanischen ECOWAS-Staaten haben sich bereits auf Friedenserzwingung verständigt, die Regierung Kabbah drängt die Briten zu bleiben, der amerikanische UN-Botschafter Holbrooke und der britische UN-Botschafter Greenstock haben erklärt, dass sie Sankoh nun nicht mehr dabei haben wollen.
Die Macht der RUF lässt sich nur brechen, wenn man sie militärisch besiegt oder soweit bedrängt, dass sie ihre wirtschaftliche Basis in den Diamantenminen verliert. Dass gut ausgebildete und disziplinierte Truppen mit diesen Rebellentrupps fertig werden können, haben die südafrikanischen Söldner von Executive Outcomes gezeigt (vgl. "der überblick" 1/99). Was im Ausland als unappetitlich und inakzeptabel galt, haben viele Sierra Leoner als Zeit relativen Friedens in Erinnerung. Verglichen mit den heutigen Kosten der Friedenstruppen scheinen die 35 Millionen US-Dollar, die die Söldner kassiert haben, relativ gering.
Im Hinblick auf Sanktionen gegen den Diamantenhandel ist die Diskussion schon relativ weit, da der UN-Sicherheitsrat bereits seit längerer Zeit bemüht ist, die angolanische UNITA, die ebenfalls vom Verkauf der Glitzersteine lebt, finanziell auszutrocknen. Das den Markt dominierende südafrikanische Unternehmen De Beers hat versprochen, keine Diamanten aus Rebellengebieten mehr anzukaufen. Trotz aller Bemühungen dürfte es aber nicht ganz einfach sein, "gute" Diamanten (aus Südafrika, Namibia und Botswana) weiter erfolgreich zu vermarkten und den Handel mit "schlechten" (aus Angola, Kongo und Sierra Leone) zu unterbinden. Es handelt sich ja um eine ideale Schmuggelware, und es gibt genügend afrikanische Herrscher, die an diesem schmutzigen Geschäft gut verdienen.
Dass ein tragfähiger Frieden in Sierra Leone zu Stande kommt, liegt nicht zuletzt im Interesse der UN. Scheitert UNAMSIL, ist ihre Glaubwürdigkeit ruiniert, dann brauchen die UN im Kongo - die Mission ist bereits beschlossen - gar nicht mehr anzutreten. Dann werden sich die Kriegsherren aller Länder ins Fäustchen lachen und weiter Kinder verstümmeln und missbrauchen, ohne fürchten zu müssen, dass sie dafür zur Rechenschaft gezogen werden.
aus: der überblick 02/2000, Seite 4