Der Streit über die Präsidentschaftswahlen hat Madagaskar in eine tiefe Krise gestürzt
Der Streit über das Ergebnis der Präsidentschaftswahlen hat die Madagassen entzweit: Der bisherige Amtsinhaber Ratsiraka ist nicht bereit, die Macht an den nach offiziellen Angaben mit absoluter Mehrheit gewählten Präsidenten Ravalanomana abzugeben. Die alte Regierung blockiert mit ihren Anhängern die Versorgung der Hauptstadt. Während die moderne Wirtschaft praktisch zum Erliegen gekommen ist, entsteht eine Kultur der Gewalt.
von Sylvain Urfer
Ausgangspunkt der gegenwärtigen Krise war die Wählerentscheidung über den künftigen Präsidenten des Landes, die wie in der Verfassung vorgesehen am 16. Dezember 2001 stattgefunden hat. Der bisherige Amtsinhaber Didier Ratsiraka hatte das Land insgesamt über 20 Jahre regiert. Die Wahrscheinlichkeit des Machtverlustes an den Herausforderer Marc Ravalomanana vor Augen, tat die Regierung Ratsiraka ihr Möglichstes, um die Wahl in ihrem Sinne zu beeinflussen. Das geschah unter anderem durch den üblichen Stimmenkauf und das Auswechseln einiger Verfassungsrichter am Obersten Verfassungsgericht (Haute Cour Constitutionelle, HCC), das über das amtliche Wahlergebnis zu befinden hat. Wahlbetrug ist seit Jahrzehnten Teil der politischen Kultur Madagaskars.
Marc Ravalomanana, der aussichtsreichste Präsidentschaftskandidat, führte einen aufwändigen, eher amerikanischen Wahlkampf mit vielen Hubschraubereinsätzen und überall im Land verteilten T-Shirts und Baseball-Kappen. Sein eigenes, in vielen Orten präsentes Unterstützungskomitee (KMMR) sollte angesichts der zu erwartenden Wahlmanipulationen durch das herrschende Regime die Wahlen beobachten und die Ergebnisse auswerten.
Daneben konstituierte sich ein "Konsortium der Wahlbeobachter", in dem sich das einschlägig erfahrene überparteiliche "Nationalkomitee zur Beobachtung der Wahlen" (KMF-CNOE) und die Kommission Justitia et Pax der katholischen Bischofskonferenz zur Wahlbeobachtung zusammenschlossen. Das KMF-CNOE war bereits 1989 zur Beobachtung der Präsidentenwahlen gegründet worden und hatte sich seither als einer der Hauptakteure der Zivilgesellschaft gegenüber der Willkür der Herrschenden etabliert. Um einen direkten Zugang zu den Wahlergebnissen zu haben, hatte auch der politisch stark engagierte ökumenische Christenrat (FFKM) ein eigenes "Wahlbeobachtungskomitee des Christenrates" geschaffen.
Trotz dieses beachtlichen landesinternen Instrumentariums zur Sicherung einer fairen Abstimmung und Wahlauswertung - externe Beobachter waren vom Ratsiraka nicht zugelassen worden - kam es zu einer von Verwirrung und Polarisierung geprägten politischen Entwicklung, die das friedfertige Land an den Rand eines Bürgerkriegs geführt hat. Auch die Wahlbeobachter waren in dieser Situation keineswegs über alle Zweifel erhaben. Interne, von einseitiger Parteinahme und persönlichen Ambitionen einiger Mitglieder verursachte Querelen haben zum Beispiel das "Konsortium" daran gehindert, alle ihm verfügbaren Informationen zu veröffentlichen (vergl. Kasten auf S. 66). Damit hat es seine wichtige Aufgabe nur beschränkt erfüllt und der Zivilgesellschaft großen Schaden zugefügt.
Der am 6. Mai 2002 zum zweiten Mal als Präsident eingesetzte Marc Ravalomanana beruft sich auf das seit dem 29. April offizielle amtliche Wahlergebnis, das ihm mit 51,46 Prozent der Stimmen den Wahlsieg zuspricht, und wirbt um die internationale Anerkennung seiner Präsidentschaft und Regierung. De facto ist seine Macht auf die beiden Hochlandprovinzen Antananarivo und Fianarantsoa beschränkt. Didier Ratsiraka lässt weiterhin die Zufahrtsstraßen zur Hauptstadt blockieren und stützt sich auf die Autonomiebewegungen der vier Küstenprovinzen.
Die Organisation der Afrikanischen Einheit (OAU), die ein erstes Friedensabkommen (Dakar 1) zwischen den beiden Protagonisten in Dakar vermittelt hatte, das bald danach Makulatur wurde, hat zu einem weiteren Treffen in Dakar (Dakar 2) eingeladen, um einen friedlichen Ausweg aus der politischen Patt-Situation zu finden. Währenddessen hat Ravalomanana begonnen, ihm loyal ergebene Truppen gegen Ratsiraka-treue Soldaten einzusetzen, um die Blockade der Hauptstadt zu brechen.
Die Ereignisse der ersten Monate 2002 sind die dritte schwere Krise, die Madagaskar seit seiner Unabhängigkeit im Jahr 1960 erlebt. Die Volkserhebung von 1972 bedeutete das Ende des neokolonialen und korrupten Regimes Tsiranana. Es war wieder eine gewaltige Volksbewegung, die 1990-91 die 15-jährige pseudomarxistische Diktatur des Didier Ratisiraka in die Knie zwang, weil sie das Land ruiniert und soziale und gesellschaftliche Strukturen zerrüttet hatte. Zehn Jahre später - das politische Versagen des demokratisch gewählten Nachfolgers von Ratsiraka, Albert Zafy, hatte die Rückkehr Ratsirakas 1996 möglich gemacht - treibt der Machtpoker um die Ergebnisse der Präsidentenwahl und die allgemeine Unzufriedenheit das Volk wiederum auf die Straße.
Marc Ravalomanana, Bürgermeister der Hauptstadt Antananarivo und aussichtsreichster Herausforderer Ratsirakas, erklärt sich aufgrund der Protokolle der Wahlbeobachter zum Wahlsieger; 52,15 Prozent der Stimmen seien für ihn abgegeben worden gegenüber 35,67 Prozent für Didier Ratsiraka. Er fordert einen Vergleich der von seinem eigenen "Unterstützungskomitee" KMMR vorgelegten Protokolle der Wahllokale mit denen der offiziellen Verwaltung. Der von der Regierung inszenierte Wahlbetrug war aber so massiv und offensichtlich, dass die Machthaber sich diesem Vergleich unter Berufung auf eine restriktive Auslegung des Wahlgesetzes verweigern. Daraufhin beginnen die Anhänger Ravalomananas vom 4. Januar, sich als "Volksbewegung zur Verteidigung des Wählerwillens" mit täglich wachsenden Teilnehmerzahlen auf dem symbolträchtigen Platz des 13. Mai im Zentrum der Hauptstadt zu versammeln; der Platz war der Ort der Volksbewegungen von 1972 und 1990-91.
Die erste regierungsamtliche Bekanntgabe der Wahlergebnisse des ersten Wahlgangs am 25. Januar 2002 (46,23 Prozent für Marc Ravalomanana, 40,89 Prozent für Ratsiraka) führt zu einer verstärkten Protestbewegung in der Hauptstadt, begrenzt auch in den Provinzen. Vermittlungsversuche - die OAU hatte sogar ein Übereinkommen der Kontrahenten erzielt - werden vom Umfeld der beiden Protagonisten sabotiert: Der Starrsinn der "Falken" beider Seiten behält die Oberhand.
Am 22. Februar wird Marc Ravalomanana im großen Stadion der Hauptstadt in Anwesenheit von Richtern des Obersten Verfassungsgerichts in offizieller Amtstracht und der vier Kirchenführer des Christenrates FFKM als Präsident installiert. Am gleichen Tag erklärt Didier Ratsiraka für drei Monate den nationalen Notstand. Zugleich verstärkt er die Straßenblockaden auf den überlebenswichtigen Zufahrtstraßen zur Hauptstadt.
Mit zwei Präsidenten und zwei Regierungen ist das Land gespalten. Die Anhänger Ratsirakas ziehen sich an die Küste zurück mit dem erklärten Willen, von der zur provisorischen Hauptstadt erklärten ostmadagassischen Hafenstadt Tamatave aus die Teilung des Landes zu betreiben. Die Anhänger von Marc Ravalomanana besetzen die Regierungsposten mit neuen Amtsinhabern. Der am 26. Februar berufene Ministerpräsident Jacques Sylla ernennt seine Regierung und besetzt die wichtigsten Posten.
Am 26. März wird in Abwesenheit eines Teils der insgesamt 150 gewählten Abgeordneten mit 65 Stimmen ein neuer Präsident der Nationalversammlung gewählt. Vier Tage vorher hatte Marc Ravalomanana das Ende des Generalstreiks angekündigt. Aber die Wiederaufnahme der Arbeit geschieht nur schleppend und mit Behinderungen: Der Treibstoffmangel in den Städten, vor allem in der Hauptstadt, behindert und verteuert den Transport, viele Betriebe müssen schließen oder aus Mangel an Betriebsmitteln Zwangsurlaub verordnen.
Spannung und Gewalt nehmen beängstigend zu. Landesweit zählt man Ende März 30 Tote und um die 100 Verletzte. Die Bevölkerung nimmt deshalb mit vorsichtiger Erleichterung das von beiden Protagonisten am 18. April unterzeichnete Abkommen von Dakar zur Kenntnis. Es war auf Vermittlung des senegalesischen Präsidenten Wade zustande gekommen und sollte einen friedlichen Machtwechsel sichern.
Die "Waffenruhe" sollte aber nur von kurzer Dauer sein. Das oberste Verwaltungsgericht erklärt die kurz vor den Wahlen vorgenommenen Ernennungen neuer Richter für das Oberste Verfassungsgericht für illegal und setzt das vorherige Gericht - jetzt auf sechs Mitglieder reduziert - wieder ein. Nach nur elf Tagen einer "Gegen-Stimmauszählung" veröffentlicht das Oberste Verfassungsgericht in seiner neuen/alten Zusammensetzung am 29. April die neuen "offiziellen" Wahlergebnisse: Mit 51,6 Prozent der Stimmen im 1. Wahlgang ist Marc Ravalomanana gewählt und damit legaler Präsident von Madagaskar. Wütend erklärt das Gegenlager das Vorgehen Ravalomananas zum Verrat am Dakar-Abkommen und bereitet die Unabhängigkeit der Küstenprovinzen im Rahmen eines Bundesstaates vor.
Je länger die Krise dauert, desto höher wird das Risiko, dass das friedliebende Volk der Madagassen in einen Bürgerkrieg schlittert. Zusätzlich zu den Straßenblockaden, die die Zufahrt zur Hauptstadt vom Osten, Westen und Süden blockieren, haben die Leute Ratsirakas weitere zehn Brücken gesprengt. In den Städten haben "Wachkomitees" einzelner Stadtviertel Barrikaden errichtet, um bewaffnete feindliche Elemente aufzuhalten. In der Hauptstadt werden Ravalomanana und sein Haus durch Barrikaden geschützt. Viele Häuser von tatsächlichen und vermuteten Oppositionellen (darunter das des ehemaligen Premierministers Guy Willy Razanamasy) werden geplündert und in Brand gesteckt.
Schlimmer noch sind die Auseinandersetzung mit Todesfolgen und die politischen Morde: Roland Ravolomaso, früherer Polizeikommissar und Anhänger Ratsirakas, wird am 9. April mittags verhaftet und am Abend tot zurückgebracht. Er wurde auf dem Grundstück des Präsidentenpalastes Ambohitsirahitra von Angehörigen der berühmt-berüchtigten politischen Polizei DGID ermordet. General Andrianaivo, ebenfalls ein Ratsiraka-Anhänger, wird am 16. April von einem maskierten Kommando auf seinem Krankenbett im Hospital Fianrantsoa umgebracht. Mitte Mai zählt man um die 50 Opfer dieser brudermörderischen Gewalt und über 100 Verletzte, wahrscheinlich sind es mehr.
Auch die wirtschaftliche Situation wird von der gegenwärtigen Krise schwer beeinträchtigt. Die Wirtschaft war in Madagaskar immer eine Geisel der Politik. Aber muss man sich deshalb damit abfinden, dass das Bruttosozialprodukt pro Kopf in Madagaskar seit der Unabhängigkeit um 50 Prozent gesunken ist (von 500 auf 250 US-Dollar) und dass Madagaskar eines der ärmsten Länder des Planeten ist? Nach der von Ratsiraka noch nicht ganz umgesetzten Privatisierung der 20 Jahre zuvor von ihm verstaatlichten Unternehmen sucht man im Lande vergebens nach zukunftsfähigen Wirtschaftsprojekten und -strategien. Die Politiker - und Marc Ravalomanana ist einer von ihnen - haben keine glaubhaften Programme vorzuweisen, die in der Lage wären, die Entwicklung des Landes auf mutige und realistische, wirksame und sozial verträgliche Ziele hin zu orientieren und damit das Volk zu mobilisieren. Dieses wirtschaftspolitische Vakuum lässt das Feld frei für Geschäftemacher jeglicher Art.
Seit Januar haben der Generalstreik und die Straßenblockaden das Wenige, was noch funktionierte, lahm gelegt: Die ersten Leidtragenden waren die Betriebe der Freihandelszonen, die weder Betriebsmittel importieren noch ihre Produkte exportieren können. Andere Produktionsbetriebe folgten, so die Baumwollverarbeitungsfabrik in Antsirabe, die am 3. April ihre Tore schließen musste. Tausende von Arbeitern verloren ihren Arbeitsplatz. Gleichzeitig haben die Versorgungsengpässe starke Preissteigerungen und einen blühenden Schwarzmarkt für alle Grundbedarfsgüter wie Treibstoff, Reis, Öl, Salz, Mehl und Zucker zur Folge. Selbst nach einer politischen Lösung werden Inflation und Arbeitslosigkeit den Alltag der Stadtbevölkerung bestimmen, während die Landbevölkerung sich mehr und mehr in einer immer schwierigeren Autarkie isoliert.
In den vierzig Jahren seiner Unabhängigkeit hat Madagaskar so ziemlich alle möglichen Ideologien und Regime kennen gelernt. Immer fing es mit Begeisterung an und endete in der Katastrophe. So geschehen mit Tsiranana 1972, mit Ratsimandrava 1975, mit Ratsiraka 1992, mit Zafy 1996 und jetzt erneut mit Ratsiraka 2000.
Warum diese Beharrlichkeit im Misserfolg? Das hat sicherlich mit Strukturen zu tun, mehr aber noch mit den Verhaltensmustern der Machtinhaber. Solange Politik nur als Möglichkeit für Profilierung und schnelle Bereicherung verstanden wird, werden weder neue Männer noch irgendwelche grundlegenden Reformen nachhaltige Veränderungen bewirken. Im politischen Leben Madagaskars ist es bisher nicht gelungen, die politischen Akteure dazu zu bringen, die Grundsätze, die sie lauthals verkünden und für die sie gewählt wurden, in politische Praxis umzusetzen; bei Zuwiderhandeln gibt es schließlich keine wirksamen Sanktionsmechanismen - sei es durch einen Volksentscheid, sei es durch das Verfassungsrecht.
Der Zulauf von zweifelhaften und unfähigen Politikern zu Marc Ravalomanana und die Ernennung von Persönlichkeiten, die für ihren Dünkel und ihre Wechselhaftigkeit bekannt sind, lassen schwerlich eine leistungsfähige Regierung Jacques Sylla erwarten. Dieses politische Laisser-faire ist nicht neu im Lande. Es wäre aber illusorisch und gefährlich zu glauben, dass es im Lande einen wirklichen Wandel zum Besseren geben kann ohne das ernsthafte Bemühen, diesem Grundübel Paroli zu bieten. Und ohne eine solche grundlegende Neuorientierung hat jede institutionelle Reform, auch die "madagassischste", keine Erfolgschancen.
Hinter den politischen und wirtschaftlichen Problemen Madagaskars steht ein Kernproblem, das der öffentliche politische Diskurs permanent ausklammert. Jenseits und unabhängig von den Protagonisten der derzeitigen Krise hat der Konflikt eine historische Dimension: Es geht um eine Inselnation, die ein gemeinsames Verständnis ihrer Geschichte und damit ihrer politischen Einheit sucht.
Seit der Errichtung der landesweiten Monarchie des Hochlandvolkes der Merina im 19. Jahrhundert, aber auch in den darauf folgenden 64 Jahren Kolonialherrschaft und in den 42 Jahren der Unabhängigkeit wurde keine alle zufrieden stellende Antwort auf die Frage des ausgewogenen Miteinanders der Völker Madagaskars gefunden. Die regionale Dezentralisierung in autonome Provinzen hat die seit der Monarchie bestehende und von der Kolonialmacht verstärkte zentralistische Politik wenig verändert: Sie kam und kommt vor allem der Hauptstadt zugute.
Würde eine nicht zu rigide föderale Struktur es ermöglichen, den örtlichen kulturellen Eigenheiten von Sprache und Gebräuchen Rechnung zu tragen und doch die Einheit der gesamtmadagassischen Zivilisation zu wahren? Viele zukunftsorientierte und mutige Madagassen beginnen, diese Möglichkeit ernsthaft in Betracht zu ziehen. Es wäre eine List der Geschichte, wenn ein zum Volk der Merina gehörender Präsident sich offen dieser Herausforderung stellen würde.
Im Augenblick sieht es nicht so aus, als ob ernsthaft mehr Ausgewogenheit gesucht würde. Enttäuscht über die ausbleibende Anerkennung der neuen Regierung durch die internationale Gemeinschaft berufen sich die Anhänger Ravalomananas auf die madagassische Eigenart der Entwicklung. Das trifft zweifelsohne zu für die unvorstellbare Geduld und Friedfertigkeit, mit der hunderttausende Demonstranten wochenlang und friedlich auf dem Platz des 13. Mai demonstrierten, geistliche Lieder sangen und Reden anhörten. Hier zeigten sich die Stärke des madagassischen Wir-Gefühls und die Lust des Miteinanders.
Gleichzeitig aber blieben andere traditionelle madagassische Tugenden auf der Strecke: Nie war die Intoleranz so stark wie in dieser Zeit - vor allem in den Medien, in den öffentlichen Reden und im alltäglichen Verhalten. Das gilt ebenso für die von Ravalomanana wie für die von Ratsiraka kontrollierten Medien. Wegen Gewaltandrohungen senden drei der privaten Radiosender der Hauptstadt seit dem 8. April keine Nachrichten mehr. Das sprichwörtliche, alle Madagassen verbindende fihavanana (gesellschaftliche familiäre Solidarität) wird durch Hass, Gewalt und gesellschaftlichen Ausschluss mit Füßen getreten. Die vielen Opfer von bewaffneten Auseinandersetzungen und Morden sowie die Zerstörung öffentlicher Infrastruktur sprechen dem fihavanana Hohn.
Es entwickelt sich mehr und mehr ein bedrohliches kollektives Schmalspurdenken gerade auch bei der politischen Elite der Hauptstadt. Jeder beruft sich auf das "Volk" (vahoaka), vor allem auf "das Volk" vom Platz des 13. Mai, das es Ravalomanana ermöglicht hat, Ratsiraka auszubooten. Wer aber ist "das Volk" und wer ist berechtigt, in seinem Namen zu reden? Die Engführung auf starre Positionen ist dabei, die Zivilgesellschaft zu zerstören. Ein neuer Totalitarismus, ein neues Einheitsdenken ist am Entstehen, das jedes unabhängige Denken verdächtigt und zurückweist. Das führt dazu, dass selbst der Gedanke an eine Opposition suspekt ist, denn sie wird nur als Parteinahme und damit als ein Angriff auf die nationale Einheit gesehen. Wenn dieses Zugehörigkeitsgefühl zu einer Gruppe zur Ablehnung des Pluralismus führt, dann könnte das den Zerfall des Landes zur Folge haben.
Ein anderes herausragendes Merkmal der madagassischen Krise ist das Engagement der Kirchen. Obwohl landesweit weniger als die Hälfte der Madagassen Christen sind, stellen die Christen die Bevölkerungsmehrheit auf dem Hochland. Der traditionelle Adel und die wohlhabendere Bevölkerungsschicht der Hauptstadt Antananarivo sind mehrheitlich reformierte Christen (FJKM). Die ärmeren Schichten der unteren Stadt gehören eher der katholischen Kirche an. In den schwierigen Anfangsjahren des Ratsiraka-Sozialismus war die katholische Kirche die einzige systemkritische Kraft, was ihr eine starke Vertrauensbasis bei der Bevölkerung einbrachte.
Die anderen großen christlichen Kirchen, Reformierte, Lutheraner und Anglikaner (die insgesamt ebenso viel Gläubige zählen wie die katholische Kirche, also etwa ein Viertel der Bevölkerung) schlossen sich 1979 mit der katholischen Kirche zum Ökumenischen Christenrat von Madagaskar (FFKM), zusammen, der in der Volksbewegung 1990-91 eine bestimmende, aber letztendlich äußerst problematische Rolle spielte: Die uneingeschränkte Unterstützung Albert Zafys durch den Christenrat zum Sturz Ratsirakas hat sich im Nachhinein als ein Eigentor erwiesen. Die durch die Vertrauensfrage in der Nationalversammlung 1996 herbeigeführte Absetzung von Albert Zafy wegen Unfähigkeit hat die Rückkehr Ratsirakas an die Macht ermöglicht.
Auch jetzt hat der Christenrat sehr schnell Partei für Ravalomanana genommen. Die Teilnahme der Christen an den Kundgebungen auf dem Platz des 13. Mai war unübersehbar und aktiv: Pastoren und Priester in offizieller Amtskleidung leiteten die Gebete, Ordensschwestern verwalteten das gesammelte Geld. Bei den wichtigsten Ereignissen der Volksbewegung zeigten sich die vier Kirchenführer an der Seite Ravalomananas. Das war so beim ökumenischen Gottesdienst im Stadion am 11. Januar und bei den beiden Einsetzungszeremonien des neuen Präsidenten am 22. Februar und am 6. Mai. Diese Parteinahme der Kirche wird nicht ohne Folgen bleiben bei den Christen der Küstenregionen, die sich nur sehr begrenzt mit Ravalomanana identifizieren können, ohne deshalb für Ratsiraka zu sein.
Eine zweite schwerwiegende Folge der politischen Parteinahme des FFKM ist die Tatsache, dass damit das Land die einzige moralische Autorität verloren hat, die in der Lage gewesen wäre, die Kontrahenten zusammenzubringen und mit ihnen eine Lösung zu suchen, die Recht und Gerechtigkeit respektiert. Stattdessen werden Begriffe wie fahamarinana (Wahrheit und Gerechtigkeit) und fahmasianana (Heiligkeit) inflationär in religiös gefärbten politischen Reden missbraucht und durch die gleichzeitige Praxis von Korruption, Machtkämpfen und Schwarzmarkt unglaubwürdig.
Madagaskar ist in einer Sackgasse. Und - schlimmer noch - es gibt keine Verständigungsbasis zwischen einem Regime, das sich beleidigt fühlt, weil man ihm sofortige Anerkennung verweigert, und der internationalen Gemeinschaft, die sich kaum für die Machtkämpfe der örtlichen Führer interessiert. Dabei geht es weniger um das rechtliche Problem der internationalen Anerkennung der Machtposition Ravalomananas als um das Recht all derer, die nicht für Ravalomanana sind, zu existieren und ihre Meinung zu äußern. Wenn Letzteres nicht gewährleistet ist, wird eine Diktatur die andere ablösen.
Eine Lösung ist nicht in Sicht, solange die Anhänger Ratsirakas sich hinter einem pharisäerhaftem Legalismus verstecken, ihre Ansprüche mit Einschüchterung und Waffengewalt durchzusetzen versuchen und sich einer fairen und transparenten Wahl verweigern, weil sie ahnen, dass die tatsächliche Mehrheit des Volkes genug hat vom alten Regime. Und solange die Anhänger Ravalomananas nicht akzeptieren, dass Kritik kein Akt der Destabilisierung ist, sondern eine notwendiger Beitrag zur besseren Wahrnehmung öffentlicher Verantwortung, und dass eine Opposition für eine gute Demokratie notwendig und nützlich ist, da sie die Vielfalt der Meinungen spiegelt, wird Madagaskar den verhängnisvollen Weg zum Verlust seines Reichtums und seiner Seele weitergehen.
Gespaltene Macht in MadagaskarAdmiral gegen UnternehmerDidier Ratsiraka wurde 1936 an der Ostküste geboren. Er ist Absolvent der berühmten Seefahrtsschule Ecole Navale und ist - nur unterbrochen durch das Intermezzo der Präsidentschaft Albert Zafys von 1992 bis 1996 - seit 1975 an der Macht. Wie Simbabwes Robert Mugabe ist er im Laufe der Jahre ein Menschenverächter geworden. Umgeben von unfähigen und korrupten Lakaien, ausschließlich befasst mit den Geschäften seiner Familie, hat er gekonnt Pfründe verteilt und sich die Gefolgschaft der örtlichen Notablen und die Komplizenschaft einer mittelmäßigen und käuflichen Politikerklasse gesichert. Die Zivilgesellschaft hat - von wenigen Ausnahmen abgesehen - das Unannehmbare ohne Murren akzeptiert; die Intellektuellen glänzten durch ihr Schweigen oder ihre Feigheit. Das Fehlen einer glaubwürdigen Alternative - durch das totale Versagen des Regimes Zafy bestätigt - hat die internationale Gemeinschaft und vor allem die Geberländer dazu gebracht, Ratisiraka als das für Madagaskar kleinere Übel anzusehen. Schließlich hatte sich der ehemals erklärte Marxist Ratsiraka nach dem Misserfolg seines Dritte-Welt-Sozialismus zum Liberalismus bekehrt und wurde zum Musterschüler des IWF und der Weltbank, deren Auflagen er eifrig erfüllte. Marc Ravalomanana, 1949 in der Region von Antananarivo geboren, präsentiert sich gerne als selfmademan. Er hat sich sehr früh als Geschäftsmann betätigt und aus eigener Kraft zu einem der Großen in der landwirtschaftlichen Nahrungsmittelindustrie emporgearbeitet. Wenn man seinem Kandidatenprofil für die Präsidentschaft glauben darf, verfügt er heute über ein Vermögen von 300 Milliarden Francs malgaches (zwischen 45 und 50 Millionen Euro). Er ist eine eher ungewöhnliche Erscheinung im Politikermilieu und hat erst 1999 seine Politikerlaufbahn begonnen, dann allerdings mit einem Senkrechtstart: Er errang auf Anhieb einen triumphalen Wahlsieg als Bürgermeister von Antananarivo. Ehrgeizig und autoritär wie er ist, hat ihn das offensichtlich dazu bewogen, sich bei nächster Gelegenheit für das höchste Staatsamt zu bewerben. Mit dem Image eines unverbrauchten und jüngeren Menschen, als ehrlich und religiös eingeschätzt - er ist stellvertretender Vorsitzender der Reformierten Kirche FJKM - und mit dem Bonus eines erfolgreichen Geschäftsmanns hat er sich schnell als glaubwürdige Alternative zum verbrauchten und leidigen Ratsiraka-Regime etabliert. Er pflegt gute Beziehungen zum anglophonen Teil der Welt und wird sogar der Frankophobie bezichtigt - Letzteres wird allerdings weder durch das, was er sagt, noch durch das, was er tut, bestätigt. Sylvain Urfer |
Umstrittene WahlauszählungDas Gerangel um ZahlenHat Marc Ravalomanana die Wahlen vom 16. Dezember 2001 wirklich beim ersten Wahlgang gewonnen? In der derzeitigen politischen Atmosphäre der Hauptstadt bedeutet es eine Majestätsbeleidigung, diese Frage zu stellen. Die Wahlergebnisse des Unterstützungskomitees (KMMR), auf die sich Marc Ravalomanana beruft, kommen aus 15.417 von insgesamt rund 16.510 Wahllokalen (das Innenministerium war nicht in der Lage, die genaue Zahl der Wahllokale anzugeben). Die KMMR-Zahlen weisen für Ravalomanana 52,15 Prozent der abgegebenen Stimmen gegen 35,67 Prozent für Ratsiraka aus. Aber der gleiche KMMR, der lautstark den Vergleich seiner Wahlberichte mit den offiziellen Wahlberichten einforderte, hat bislang die Veröffentlichung seiner eigenen Wahlberichte verweigert, obwohl dies vom Konsortium gefordert wurde. Diese Weigerung des KMMR ist nur wenigen bekannt und niemand wagt es, dies in der Öffentlichkeit zu sagen. Nach den Zahlen des Konsortiums der Wahlbeobachter hätte Ravalomanana 50,49 Prozent der abgegebenen Stimmen erhalten gegenüber 37,68 Prozent der Stimmen für Ratsiraka. Das Konsortium verfügt über Berichte aus 12.212 der 16.510 Wahllokale (also rund 75 Prozent). Aber die Hochrechnungen, die aus diesen Teilergebnissen errechnet werden können, kommen auf 48,13 Prozent für Ravalomanana gegen 39,68 Prozent für Ratsiraka. Das Konsortium hat es nicht gewagt, diese Hochrechnungen zu veröffentlichen. Der Christenrat (FFKM), der ein eigenes Wahlbeobachtungskomitee geschaffen hatte, kommt mit Berichten aus 11.799 Wahlbüros (also 71,46 Prozent) auf 51,10 Prozent für Ravalomanana gegen 37,34 Prozent für Ratsiraka. Aber die Herkunft dieser Wahlberichte ist nicht durchsichtig: Der FFKM behauptet, dass diese Berichte von den drei Präsidentschaftskandidaten (darunter Ravalomanana, der behauptet, alle Wahlberichte zu haben) und vom Konsortium der Wahlbeobachter kämen. Schließlich hat das Oberste Verfassungsgericht (HCC) die "offiziellen" Wahlergebnisse veröffentlicht, nach denen Ravalomanana 46,21 Prozent der abgegebenen Stimmen erhalten hat, Ratsiraka 40,49 Prozent. Nach anfänglicher hartnäckiger Weigerung hat das HCC die Einzelergebnisse aller Wahlbezirke im Internet veröffentlicht. Das hat einerseits viele Fälle von Wahlbetrug bestätigt, hätte aber andererseits auch die vom Konsortium geforderte Gegenüberstellung der unterschiedlichen Wahlberichte möglich gemacht. Nach dem ersten Dakar-Abkommen führten die vom Obersten Verwaltungsgericht bestätigten sechs verbleibenden Mitglieder des Obersten Verfassungsgerichts in elf Tagen eine "Gegen-Stimmauszählung" von 16.493 Wahllokalen durch und verkünden am 29. April das amtliche Endergebnis von 51,46 Prozent der abgegebenen Stimmen für Ravalomanana (350.000 mehr als vorher) und 35,90 Prozent für Ratsiraka bei einer Wahlbeteiligung von 67,94 Prozent. Aber auch diese Zahlen werden von den Wahlbeobachtern des Konsortiums (etwa für die Stadt Ambositra) in Zweifel gezogen. Zweifel an den Zahlen ergeben sich unter anderem, wenn man die durchschnittliche Anzahl der ungültigen oder leer abgegebenen Wahlzettel in vielen Wahlbüros, vor allem in den ländlichen Gebieten um Fianarantsoa, berücksichtigt. Sylvain Urfer |
aus: der überblick 02/2002, Seite 61
AUTOR(EN):
Sylvain Urfer:
Sylvain Urfer, Jesuit und Soziologe, lebt seit über 30 Jahren in Madagaskar. Er ist Pfarrer eines Slumviertels von Antananarivo und hat mit madagassischen Führungskräten aus Politik, Wirtschaft und Kultur den Reflexionskreis "Glaube und Gerechtigkeit" aufgebaut.