Zu Besuch bei Christine Müller in Leipzig
Eigentlich sollte ich einen Tag im Leben einer KED-Beauftragten beschreiben. Schwierig, denn Christine Müller ist viel unterwegs. Und außerdem: Sie sei ganz und gar nicht typisch für diese "Branche", meint sie. Doch hätte es Christine Müller nicht schon gegeben, hätte man sie wohl für diese Arbeit erfinden müssen. Vor drei Jahren hat die Ev.-Luth. Landeskirche Sachsens die Arbeitsstelle für Mission, Ökumene und entwicklungsbezogene Bildung mit Sitz in Leipzig eingerichtet, mit Christine Müller als einziger Mitarbeiterin.
von Beate Bahnert
Sie hatte seit 1983 als Landesjugendwartin ihrer Kirche gearbeitet. Das war bereits eine Position, wo sie die Zeichen der Zeit beobachten durfte und auch gewisse Schieflagen in Kirche und Gesellschaft feststellen konnte. "Ich wollte immer kirchliche Jugendarbeit machen - das ist der Platz, den ich in der Kirche gut annehmen kann. Sonst hätte ich mich von der Kirche wahrscheinlich nach und nach entfernt", schätzt die Referentin jetzt ein.
Sie ist Jahrgang 1955, in der DDR aufgewachsen. Ohne Jugendweihe konnte sie kaum mit staatlicher Unterstützung rechnen, wenn es etwa um die Berufswahl ging. Christine Müller wurde Gemeindehelferin, weil sie das schon immer werden wollte. Fühlte sie sich am Rande? "Nein", entgegnet sie. "Wir sind privilegiert wegen der vielen Kontakte, die wir durch die Kirche haben durften, und haben gelernt, alles sehr intensiv aufzunehmen." Die Familie - der Mann, die Tochter (heute 18) und der Sohn (heute 12) - zog von Anfang an mit. Ökumenische Themen lagen Christine Müller immer schon am Herzen. Das ist kein Wunder, waren doch in der DDR solche Kontakte für viele die "Fenster zur Welt". Aus der Ökumene und der ökumenischen Jugendarbeit ließen sich entscheidende Impulse gewinnen. Wer dächte nicht beispielsweise an die "Ökumenischen Versammlungen für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung", die für den Osten so voller Leben waren!
In den östlichen Landeskirchen musste seit 1990 schlagartig die ökumenische Arbeit neu strukturiert werden, Bewährtes zerfiel, jede Landeskirche kochte erst einmal ihr eigenes Süppchen. In der DDR waren unter dem Sammelbegriff "Ökumene" die Gebiete Mission, Ökumene und Entwicklungsbezogene Bildung vereint. Jetzt existieren sie als eigenständige Bereiche, und man muss sich bemühen, diese Bereiche wieder zusammenzubringen. Auch der Charakter der Arbeit hat sich verändert. Heute muss bei Strafe der Nichtbeachtung schnell erkundet werden, "wo es grade Geld gibt". Das meiste passiert nach wie vor ehrenamtlich, Vikare und Studenten engagieren sich, ohne auf die Mark zu sehen.
In der DDR diente ökumenische Arbeit auch oft als tragfähige Brücke zwischen Ost und West. Beispielsweise schickte der Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR 1983 drei Jugenddelegierte nach Vancouver zur VI. Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK). Christine Müller war eine von ihnen - unvergesslich! Damals hätte sie sich allerdings nicht träumen lassen, welche Themen zehn Jahr später auch im Osten Deutschlands zu "Dauerbrennern" geworden sind, so zum Beispiel das Asylthema: "Früher waren wir für uns, jetzt kommen die Leute zu uns. Das müssen wir doch nutzen!"
Veranstaltungen mit jugendlichen Asylbewerbern wären also eigentlich das Wahre. Aber es ist ein Kraftakt, Vertrauen zu bekommen. Nicht immer funktioniert das so wie 1995. Damals fand in Hirschluch südlich von Berlin ein Jugendcamp mit etwa 40 bis 50 Teilnehmern aus Lettland, Estland und Tschechien und Tansania sowie mit Asylsuchenden und jungen Sachsen statt. Während die Afrikaner ganz wach zu Weltproblemen Stellung nahmen, hatten die anderen manche Vorurteile, etwa Osteuropäer gegenüber den Afrikanern: "Lernt ihr erst mal arbeiten!", klang unterschwellig an. Die Tansanier dagegen beklagten sich bei den Osteuropäern: "Das Geld, das wir früher bekamen, bekommt jetzt ihr!"
Schlagartig wurde manchem Ostdeutschen bewusst, was es heißt, plötzlich auch zum "Westen" zu gehören. So arbeiten die Ostdeutschen im Arbeitskreis Entwicklungspolitik Ost, zu dem Christine Müller gehört, auch immer an ihrer Selbstorientierung. Gleichzeitig ist der Osten Deutschlands prädestiniert als Austauschplattform von Ost, West und Süd. Ostdeutsche können Strukturanpassungsmaßnahmen im Süden und manche Zusammenhänge aus eigener Erfahrung heraus besser verstehen als ihre westdeutschen Mitchristen und Mitbürger. Aber sie vergessen oft, dass sie auch als Ostdeutsche global gesehen zu den Privilegierten gehören.
Was tut eine Referentin, wenn sie von Leipzig aus arbeitet? Informieren, aufklären, bilden! Zum Beispiel lässt sich das Verhalten der Ostdeutschen gegenüber Ausländern nicht generalisieren. Christine Müller weiß, wovon sie spricht. Sie kommt aus Neukieritzsch im Braunkohlengebiet südlich von Leipzig, einer gebeutelten Landschaft, in der die Menschen durch die Schließung der "Dreckschleudern" in Massen arbeitslos geworden sind. Dort ist Christine Müller bodenständig, die Eltern sind Bauern, der Mann arbeitet jetzt in der Braunkohlenrekultivierung. Gerade in dieser Gegend zeigt sich: Die Menschen können nach zehn Jahren wieder über Solidarität reden. Dieser Begriff war offenbar auch in der DDR nicht nur eine leere Worthülse.
Jetzt sind Menschen in diesem Umfeld sogar bereit, über andere gesellschaftliche Strukturen nachzudenken als die, in denen wir gegenwärtig leben. 1999 weilten vier Kubaner drei Wochen lang auf Einladung der Landeskirche in Sachsen zu Gast. Zu DDR-Zeiten war ein Kuba-Besuch nichts Besonderes. Heute ist das wie Zukunft und Vergangenheit zugleich, denn inzwischen weckt die Begegnung mit den Kubanern wieder Erinnerungen an das verflossene politische System, obwohl Kuba immer schon einen eigenen, von hier aus exotischen Sozialismus praktizierte.
Christine Müller hält seit Anfang der neunziger Jahre Kontakt mit dem Martin-Luther-King-Zentrum in Havanna, fasziniert von Befreiungstheologie und Befreiungspädagogik, dann passierte der Glücksfall, dass die Privatinitiative vom Landeskirchenamt anerkannt und gefördert wurde.
So kam in Zusammenarbeit mit der Evangelischen Akademie Meißen dieses Programm mit den Kubanern zustande. Erkundet werden sollte der Platz der Kirche in der Gesellschaft, in Deutschland und in Kuba, früher und heute. Selten seien Gruppen aus anderen Ländern bei der Bevölkerung auf so viel spontane Sympathie gestoßen, sagt Christine Müller, sei es auf der Straße, beim Imbiss oder in der Kirche, überall. Die Kubaner waren selbst überrascht. In Gesprächen stellten sie fest, dass die Mehrzahl der Sachsen durchaus keine Widerstandskämpfer waren und sich auch nicht selbst so bezeichnen. Logisch für die Deutschen ist deshalb auch die Einsicht, dass kubanische Christen in einem Staat mit sozialistischem Selbstverständnis nicht zwangsläufig Widerstandskämpfer sein müssen.
Christine Müller erzählt von einer Fotoausstellung über die Landlosenbewegung in Brasilien: Ein Fotograf hat die Besetzungen dokumentiert und im Mai 1999 seine Fotos ausgestellt. "Da leben die Landbesetzer wieder Urchristentum oder Urkommunismus, und stellen Sie sich vor, es wird kaum wahrgenommen!" Die gutbürgerliche Gemeinde in Markkleeberg nahm immerhin etwas wahr und stellte ihre Gemeinderäume zur Verfügung.
Als wir darüber sprechen, steckt ein dunkelhäutiger, freundlicher Mensch den Kopf zur Tür herein. Er strahlt über das ganze Gesicht und will nur mal Guten Tag sagen, aber wegen unseres Gesprächs vertröstet ihn Christine Müller auf ein nächstes Mal. Schade, denn ich erfahre von ihr: Mit Frau und zwei Kindern kam Jabeats Kinkela 1992 aus dem ehemaligen Zaire, um hier Asyl zu finden. In Markkleeberg gründete er eine afrikanische Gemeinde, die sich im Gemeindehaus regelmäßig zum Gottesdienst trifft, ihre temperamentvolle Musikgruppe hat in Leipzig schon manchen begeistert. Als Kinkela abgeschoben werden sollte, setzten sich der Pfarrer der deutschen Gemeinde und der Ausländerbeauftragte des Missionswerkes für ihn ein. Jetzt darf er vorerst bleiben, denn mit Hilfe eines Modellprojekts über das Missionswerk ist es gelungen, ihn für ein Jahr als Seelsorger für Asylsuchende einzustellen.
Auf solche interessante Menschen und Geschichten trifft Christine Müller auf Schritt und Tritt. Sie hat ein Gespür dafür. Wo ist, wenn man so fragen darf, der Unterschied zu westlichen Referenten und zur dortigen Arbeit? Christine Müller lacht: Wir im Osten sind sehr viel mehr auf die Basis angewiesen, auf die Gutwilligkeit der Leute, bei Strafe unseres Untergangs. "Und wenn sie sich schon interessieren, dann muss ich doch hin!" Zahlreiche Anfragen sind zu beantworten, ein Netzwerk mit Schulen und Gemeinden ist aufzubauen und zu pflegen, desgleichen Kontakte zu Konventen und Synoden, Arbeitsgemeinschaften für verschiedene Projekte sind zu bilden und zu beraten.
Im Westen bestehen diese Kontakte meist schon länger, hier im Osten müssen sie geschaffen werden. Man müsste an kirchlichen Ausbildungsstätten Konzeptionen erstellen, aber "wenn ich mehr Konzepte entwickeln würde, könnte ich nicht so viel in die Gemeinden und Gruppen gehen". Man müsste mehr Beratung für Menschen anbieten, die im Ausland arbeiten wollen. Man müsste überhaupt mehr Leute finden, die etwas tun! Der Tag hat 24 Stunden. Immer bleiben Wünsche offen. Hohe Ansprüche an die inhaltliche Arbeit gehen einher mit der Angst, sich zu überfordern oder aber oberflächlich zu werden. Christine Müller kennt das Gefühl. Dabei würde sie wohl am liebsten selbst an den Brennpunkten sein.
In Gremien wird immer mal wieder nach einer Frau aus dem Osten gerufen. Nicht immer bedient sie die "Quote", aber die energische Christine Müller agiert in mehreren Gremien, wo sie gern etwas bewirken will. Zurzeit sind das - unter anderen - die Kammer der EKD für Entwicklung und Umwelt, die AG Partnerschaft beim KED; sie ist beteiligt am Konsultationsprozess im neuen Entwicklungswerk EED und arbeitet im Koordinierungskreis des INKOTA-Netzwerkes mit, dem ostdeutschen Netzwerk für entwicklungspolitische Gruppen, dessen ökumenische Ausrichtung ihr sehr liegt.
Auf einem Foto sehe ich Sohn Müller mit Che-Guevara-T-Shirt. Christine Müller wird sehr ernst. "Je mehr ich mich mit der Gegenwart beschäftige, desto hilfloser werde ich in Bezug auf die zukünftige Entwicklung. Che Guevara ist und war für nicht wenige Jugendliche eine Möglichkeit, aber die Gewalt der Herrschenden erweist sich oft als stärker. Es gibt zwar viele Hoffnungszeichen im Süden, wo wir die Leute unterstützen können. Aber vor allem müssen wir hier eine deutliche Sprache sprechen." Und das sei schwer genug. So wurde ihr schon zugetragen: "Die armen Unternehmer haben sich wieder beschwert, dass sie im Gottesdienst immer solche Dresche kriegen!"
Dennoch müssen die Stimmen gestärkt werden, die für gesellschaftliche Veränderung sprechen, die die Begrenzung des Reichtums fordern: "Wir müssen Ross und Reiter beim Namen nennen, das wird von uns erwartet, aber das fehlt leider oft im KED, und in der Kirche sowieso." Vielleicht hängt das mit eingefahrenen Gleisen und Machtstrukturen zusammen:
"Dass ich mal die Schwelle eines Missionshauses betreten würde, hätte ich nie gedacht", bekannte die Mitarbeiterin eines Weltladens offenherzig, als sie Christine Müller in ihrem Büro besuchte. Es befindet sich in ehrwürdigen Mauern, im Leipziger Missionshaus in der Leipziger Paul-List-Straße. Das beherbergt neben dem Missionswerk für Sachsen, Mecklenburg und Thüringen auch das Predigerseminar. Wer unter den Schriftzügen des Missionsbefehls nach Markus das Haus betritt und die Flure entlanggeht, stellt sich die Gretchenfrage: Wie hältst du es mit der Mission? Christine Müller hat dafür eine pragmatischen Satz: "Über Mission sollte man gar nicht mehr diskutieren, Mission muss gelebt werden."
aus: der überblick 02/2000, Seite 112